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Kollateralfragen in der Coronakrise Warum verändern manche Menschen ihr Verhalten immer noch nicht?
Auch als in der vergangenen Woche die Sportplätze schon gesperrt waren, hörte man mancherorts von Weitem das Plopp-Plopp-Plopp, wenn der Lederball gekickt wurde, dazu die Rufe der Fußballspieler. Tags, manchmal auch nachts. Eine Forsa-Umfrage lieferte die Zahl dazu: 61 Prozent der 18- bis 29-Jährigen erachteten es nicht für nötig, ihr Verhalten während der Pandemie zu ändern. Und rätselhafte 17 Prozent der über 60-Jährigen belassen ebenfalls alles beim Alten, obwohl sie zur Gruppe der Menschen gehören, die das größte Mortalitätsrisiko haben.
Eine andere Umfrage ergab, dass mehr als die Hälfte der Bundesbürger sich wenig oder gar keine Sorgen über die Corona-Pandemie macht. Mir selbst raucht inzwischen der Kopf von dem nicht abreißenden Nachrichtenstrom über das Desaster, das dieses Virus anrichtet. An einem Informationsmangel kann diese Naivität nicht liegen. Es stecken andere, psychologische Abwehrmechanismen dahinter: erst Verdrängung ("Corona ist ja nur so eine Art Grippe"), dann Verleugnung ("China ist weit weg").
Doch nun, wo niemand mehr verleugnen kann, dass das Virus in Deutschland grassiert, wirkt ein dritter Mechanismus, die Spaltung nämlich. Die Warnungen der Virologen und Politiker werden kognitiv nachvollzogen, aber die Emotionen und Ängste, die mit dem Verstehen dieser Informationen eigentlich einhergehen, werden abgespalten und ins Unbewusste geschoben oder erst gar nicht gefühlt. Dieser psychische Spaltungsvorgang führt dazu, dass die eigentlich sehr beunruhigenden Ereignisse für das eigene Handeln bedeutungslos bleiben.
Und wenn dann die Zahl der Infizierten und vor allem der Toten steigt, wenn das Fernsehen Bilder von italienischen Militärlastwagen zeigt, die Särge herumfahren, wenn sich also nichts mehr verdrängen, verleugnen oder abspalten lässt, dann kommt ein anderer Abwehrmechanismus zum Einsatz: Das Böse wird auf einen Feind von außen projiziert. US-Präsident Donald Trump, der die Pandemie im eigenen Land verdrängt, verleugnet und abgespalten hat, ist dafür ein Lehrbuchbeispiel: Er spricht vom "China-Virus" oder vom "ausländischen Virus".
Vielleicht verdrängen oder verleugnen jene vor allem jungen Leute, die weiterhin ihre Freunde treffen, zusammen kicken oder Corona-Partys feiern, nicht mal die Pandemie, vielleicht haben sie gar keine Ängste, die sie abspalten müssen. Sie machen sich nur einfach nicht bewusst, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Gefahr für ihr Leib und Leben, die relativ gering ist, und der großen Gefahr für das Gesundheitssystem, die von ihrem ungebremsten Alltagsverhalten ausgeht.
Viele Jüngere fühlen sich, was ihre eigene körperliche Unversehrtheit anbelangt, auf der sicheren Seite, und statistisch gesehen sind sie das auch. Das Bewusstsein ihrer physischen Vitalität vermittelt ihnen ein Gefühl der Unverletzlichkeit, vielleicht sogar Unsterblichkeit. Die Vorstellung, sich anzustecken, löst bei ihnen keine Ängste aus, weil sie überzeugt sind, medizinische Hilfe nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Das relativ kleine Restrisiko, das auch für die gesunden Jüngeren bleibt, erleben manche von ihnen möglicherweise auch als Thrill, als Angstlust. Sich einer Gefahr auszusetzen, gegen alle Vernunft und gegen den Rat der gesellschaftlichen Autoritäten, verleiht ein Grandiositätsgefühl, ein Gefühl der Autonomie.
Die Krise stellt unser aller Leben auf den Kopf. Natürlich geht es erst einmal darum, gesund zu bleiben. Aber wie schaffen wir es, dass auch die Beziehung und die Familie intakt bleiben? Wie kommen wir heil durch den Alltag? Hier beantworten Experten regelmäßig Fragen zu diesen Themen. Hier finden Sie weitere Artikel aus der Reihe. Wenn Sie selbst eine Frage haben, schreiben Sie uns an: kollateralfragen@spiegel.de
Sich über Gebote und Regeln hinwegzusetzen, vermittelt ebenfalls das Gefühl, unabhängig zu sein. Das macht es auch so schwer, diese Jüngeren anzusprechen, zu ermahnen, an ihre Verantwortung für die Älteren, für ihre Großeltern zu appellieren, sie um angemessenes, um moralisches Verhalten zu bitten. Denn die Freiheit und der Spaß bestehen ja gerade darin, etwas Verbotenes zu tun; der erhobene Zeigefinger kann das egoistische Verhalten also sogar noch verstärken.
Dieses Verhalten kenne ich noch von Rauchern, die ebenfalls rücksichtslos ihren Autonomieanspruch vertreten haben, obwohl sie die Gesundheit der zum Passivrauchen Verdammten gefährdeten. Am Ende hat erst das gesetzlich festgelegte Rauchverbot in der Gastronomie, in Unternehmen, in öffentlichen Gebäuden sie zur Verhaltensänderung gezwungen. Einmal eingeführt, wurde das Rauchverbot aber erstaunlich schnell akzeptiert und befolgt. Man kann vermuten, dass striktere Kontaktbeschränkungen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit in der Corona-Pandemie genauso befolgt werden.
Rauchverbot und das Gebot, soziale Distanz zu halten, sind strukturell sehr ähnlich. Das Rauchverbot hat nämlich nicht nur ein Verhalten unterbunden, sondern auch dazu geführt, dass es eine Verschiebung gab: Auf einmal waren die Raucher diejenigen, die die Autonomie der Nichtraucher beschnitten hatten.
Wer in diesen Tagen durch die deutlich leereren Straßen geht oder durch die Parks, der beobachtet, dass die meisten Menschen zu Hause geblieben sind oder sich an das Gebot der räumlichen Distanz halten, das ihnen die Pandemie-Experten und die Politik auferlegen. Dem Rauchverbot war eine jahrelange gesellschaftliche Diskussion vorausgegangen; dafür ist jetzt keine Zeit. Restriktionen und der nachfolgende soziale Druck der Gemeinschaft werden die Akzeptanzgrenze verschieben: Die allermeisten der 61 Prozent der bisher Uneinsichtigen werden sich an die offiziell verkündeten Regeln halten. Was der eine oder die andere immer noch für irgendwie witzig und rebellisch hält, werden die allermeisten 18- bis 29-Jährigen dann peinlich und daneben finden.