

Wie die Mutter eines Opfers weiterlebt In Hanau geboren. In Hanau gestorben
Ferhat, hast du Schmerzen gehabt, als du starbst?
Du weißt doch, du schaffst alles, Ferhat.
Ferhat, mach dir nichts aus Schwierigkeiten.
Sie kommt jeden Tag an dieses Grab, stellt sich vor die Erde, unter der ihr Sohn liegt, morgens, wenn es sonnig ist, mittags, abends, und manchmal, wenn nicht viel los ist auf dem Hanauer Hauptfriedhof, dann bleibt sie eine Stunde dort stehen.
Serpil Temiz sagt ihrem Sohn, was sie noch sagen wollte, du sollst keine Schmerzen gehabt haben, und fragt ihn, worauf sie keine Antwort findet. Heute hat sie ihm Lilien mitgebracht. Der Blumenverkäufer hat ihr gesagt: Wenn die Knospen sich öffnen, dann werden Sie ganz große Freude daran haben.
Nach dem Friedhof fährt Serpil Temiz nach Hause, jeden Tag, zurück in den Stadtteil Kesselstadt, wo Ferhat geboren und wo er gestorben ist. Wenn sie ihren Mazda in die Garage gestellt hat und das kurze Stück bis zum Gartentor geht, sieht sie jedes Mal das Haus des Täters. Es ist gleich um die Ecke. Die Fenster, hinter denen der Rassist wohnte, der vor fünf Monaten Serpil Temiz' Sohn und acht weitere Menschen an verschiedenen Orten in Hanau erschoss. Es war der 19. Februar 2020. Ferhat Unvar war 23, als er in der Arena Bar starb. Die ist auch um die Ecke.
Serpil Temiz, 45, geht durch die Straßen der Hanauer Innenstadt und sagt: Jede dieser Straßen ist Ferhat gelaufen.
Sie sieht ein Polizeiauto, hinten an einer Kreuzung, und sagt: Wo waren die, als Ferhat starb?
Sie sagt eine halbe Zigarette lang gar nichts, starrt auf die kleine Glut, und dann: Jemand ist gekommen und hat ihn von uns genommen, und dafür gab es keinen Grund.
Wissen Sie, sagt sie, was Ferhat für ein Junge war?
Er war ein Junge, dessen Kopf immer voll war mit Ideen. Er fand es toll, angeln zu gehen, er setzte sich einfach hin zu alten Anglern und schaute ihnen zu. Er war ein Philosoph, sagt sie, ein nachdenklicher Junge. Sie kaufte ihm Dostojewski und Tolstoi, und er verschlang sie, obwohl er erst in der siebten Klasse war. Sie selbst hatte die Bücher auf Türkisch gelesen, und weil sie sie so liebte, bekam er sie auf Deutsch. Dann sprachen sie über den Stoff.

Foto von Ferhat Unvar in den Räumen einer Hanauer Initiative für Hinterbliebene: den Kopf voll mit Ideen
Foto:Lemrich
Die Lehrer wollten nicht akzeptieren, dass der Junge vieles schnell verstand und die Schule deswegen häufig langweilig fand. Einmal war es sogar so langweilig, sagt sie, dass er mitten im Unterricht aufstand, zum Fenster ging und rief: Guckt mal, da fliegt ein Delfin!
Die Lehrer bestellten Serpil Temiz ein, erzählt sie, und sagten ihr: Frau Temiz, der Ferhat stört hier ständig. Frau Temiz ging nach Hause und hielt ihrem Jungen, der in Deutschland geboren war und einen deutschen Pass hatte, Vorträge. Jede Woche: Ferhat, du bist nicht wie deutsche Kinder, du musst dich mehr anstrengen, sonst wirst du überhaupt keine Chance bekommen.
Später ging Ferhat auf eine Berufsschule und machte eine Ausbildung. Er wurde Anlagenmechaniker. Das passte, weil er immer ein Techniker war, sagt seine Mutter. Zu Hause wollte er alles aufschrauben, als Kind schon. Er schraubte sogar neue Geräte auf, obwohl sie nicht repariert werden mussten. Er wollte die Dinge von innen sehen.
Serpil Temiz holt ihr Handy raus. Sie zeigt ein Foto, auf dem Ferhat Unvar an seinem letzten Schultag zu sehen ist. Es ist ein paar Wochen vor seinem Tod. Er war der Beste in seiner Klasse, sagt sie. Auf dem Bild hält Ferhat in der einen Hand das Abschlusszeugnis, mit der anderen Hand macht er einen Stinkefinger. Seht ihr, hättet ihr nicht gedacht, dass so einer wie ich das schafft.

Serpil Temiz vor der Arena Bar in Hanau: Straßen, die Ferhat Unvar gelaufen ist
Foto:Lemrich
Es gibt keine Sekunde, in der sie nicht an ihn denkt. Noch eine Zigarette. Sie hofft, dass die Schmerzen nicht zu stark waren, als er starb, sagt sie jetzt wieder.
Wenn man sein Kind verliert, kann die Erinnerung an diesen Moment in Bruchstücke zerfallen. Der Ablauf in Überreste. Sie sieht es vor sich.
Wie sie an diesem Abend im Schlafanzug aus der Haustür stürzte, nachdem ihre Tochter ihr bei WhatsApp geschrieben hatte, dass Ferhat in der Arena Bar war, als dort geschossen wurde.
Wie sie den Beamten vor der Arena Bar Fotos von Ferhat unter die Nase hielt, und die Beamten den Kopf schüttelten. Nein, der ist hier nicht.
Wie sie dachte, dass er vielleicht nur verletzt ist, und mit ihrer Freundin Krankenhäuser abtelefonierte, wie Ferhat aber nirgends eingeliefert worden war, nicht in Hanau, nicht in Offenbach, nicht in Frankfurt.
Die ganze Nacht herumfahren, wo ist er, stundenlang warten, im Polizeipräsidium, so ihre Erinnerung.
Und dann dieses Bruchstück: Ein Beamter verliest vor wartenden Angehörigen Namen von Menschen, die offiziell gestorben sind. Er sagt: Ferhat Unvar.

Serpil Temiz in den Räumen einer Hanauer Initiative für Hinterbliebene: Die Erinnerung in Bruchstücken
Foto:Lemrich
Serpil Temiz legt ihren Finger auf ihre Taille, hier, sagt sie, ging der Schuss rein, sie zieht den Finger schräg über ihren Bauch, um den Weg der Kugel nachzuzeichnen: quer durch die Organe. Sie kennt Leute, sagt sie, Zeuginnen, die auch in der Arena Bar waren an diesem Abend, und die haben ihr erzählt, dass Ferhat beim Sterben gesagt hat: Ich brenne.
Die Scheiben der Arena Bar sind jetzt mit den Fotos der Ermordeten beklebt. Neun Zufällige, die nichts dafür konnten, wie sie geboren wurden, aber deswegen gestorben sind. Weil ihre Herkunft nicht war, wie der Täter sie gern gehabt hätte.
Einmal, als Ferhat noch klein war, wollte Serpil Temiz umziehen. Ferhat und seine drei Geschwister jammerten, dass sie nicht rauswollen aus Hanau-Kesselstadt. Die Mutter gab nach. Sie wollte den Kindern nicht antun, ihre Heimat zu verlieren, weil sie selbst wusste, wie sich das anfühlt. Serpil Temiz wurde in der Türkei geboren, nahe der syrischen Grenze, ging aber als Jugendliche mit den Eltern nach Frankreich, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, erzählt sie. Irgendwann entschieden die Eltern, dass ihre Serpil heiraten soll, und der künftige Ehemann lebte in Hanau. So kam sie her, vor 25 Jahren. Sie bekam drei Kinder, als erstes Ferhat. Mit dem Mann von damals ist sie heute nicht mehr zusammen. Aber in Hanau ist sie geblieben.

Hanauer Innenstadt fünf Monate nach dem Anschlag: Neun Zufällige, die nichts dafür konnten
Foto:Lemrich
Sie sagt, dass sie eine Frau war, die viel Sport gemacht hat, joggen, und dass da diese Liebe war für russische Weltklassiker und für ihren Job, Artikel schreiben für eine in Deutschland erscheinende kurdische Zeitung. Davon ist nichts geblieben, sagt Serpil Temiz. Ihre Klassiker will sie nicht mehr lesen. Sie sagt, dass sie nur weitermacht wegen der anderen Kinder, und um dafür zu kämpfen, dass niemand vergisst, wie sinnlos Ferhats Tod war.
Zwei Wochen nach der Tat schrieb Serpil Temiz einen Brief an die Bundeskanzlerin. Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, schrieb sie, der Täter hat seinen Wunsch nach dieser Tat nie verheimlicht, hat in den sozialen Netzwerken seine Absicht, ein Massaker zu begehen, bekundet und seine rassistische Gedankenwelt in Briefen den Behörden mitgeteilt. Diese grausame Tat, steht in dem Brief, muss Sie als Bundeskanzlerin dazu bringen, endlich zu reagieren und die Gesellschaft gegen Rassismus zu erwecken. Die Familien der Opfer brauchen lebenslange Unterstützung für ihren dauerhaften Verlust, der durch nichts kompensiert werden kann. Wir bitten die Bundesregierung, uns in diesem geschädigten Leben zu begleiten.
Vier Wochen später kam eine Antwort. Zwei Seiten, unterschrieben von Angela Merkel. Sie schrieb vom Beauftragten der Bundesregierung für die Anliegen von Opfern und Hinterbliebenen von terroristischen Straftaten im Inland und vom Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Zudem steht dort: Für die Bundesregierung ist unverhandelbar, dass sich alle Menschen in Deutschland sicher und wohlfühlen, gleich welcher Religion und Herkunft sie sind. Sollten Sie Beratung und Unterstützung benötigen, zögern Sie bitte nicht, sich an den Opferbeauftragten der Bundesregierung zu wenden.

Serpil Temiz vor der Arena Bar: dauerhafter Verlust, der durch nichts kompensiert werden kann
Foto:Lemrich
Serpil Temiz hat wochenlang gebraucht, den Weg zum Friedhof auswendig zu lernen, obwohl sie jeden Tag hinfuhr. Sie vergaß, wo sie abbiegen musste, ließ sich von ihrem Handy zum Grab ihres Sohnes navigieren. Zu Hause hat sie die Bettwäsche von Ferhat draufgelassen, weil sie nicht wegwaschen will, wie er gerochen hat. Wenn er aus der Dusche kam, sich Klamotten überwarf, schnell noch was aß, in der Küche, und dann los, Freunde treffen. So war das, als Ferhat am 19. Februar 2020 die Wohnung verließ.
Sie hat kaum Kraft übrig, sich bei einem Opferbeauftragten zu melden. Maßnahmenpakete der Bundesregierung, die der Prävention von Rechtsextremismus dienen sollen, bringen für die Gegenwart in Hanau gerade nichts. Eine Initiative für Hinterbliebene, geleitet von Freiwilligen, die in der Hanauer Innenstadt einen Raum gemietet haben, ist für viele Familien der einzige Ort, an dem sie Hilfe finden, sich trauen, danach zu fragen.
Die 60.000 Euro, die Serpil Temiz' Familie als Soforthilfe von der Bundesregierung bekam, sind fast weg, sagt sie. Die Beerdigung war teuer, sie arbeitet nicht mehr, und Geld kostet auch, dass Serpil Temiz seit fünf Monaten einem Verwandten nach dem anderen Flugtickets bezahlt. Sie holt die zu sich, die es noch weniger begreifen: in Hanau zu Hause sein, von einem Rassisten dafür mit dem Tod bestraft zu werden.
Nach dem Antwortbrief von Angela Merkel kam nichts mehr, leider, obwohl der nett war, fand Serpil Temiz. Sie will sich noch mal an die Kanzlerin wenden, weil sie fürchtet, dass man ihre Forderungen nicht verstanden hat. Hat Frau Merkel hingeschaut, als der Brief auf ihrem Tisch ankam? Aber wenn sie es hat, wie ihre Antwort erahnen ließ, war es das schon?

Serpil Temiz, 45: in Hanau zu Hause sein, von einem Rassisten dafür bestraft werden
Foto:Lemrich
Sie will, dass jemand ihr mit den Kindern hilft, als Alleinerziehende trauern ist schwer, sagt sie. Sie will, dass ihr irgendwann auch jemand hilft, eine neue Wohnung zu finden, damit sie nicht am Gartentor stehen und auf die Täterwohnung gucken muss. Sie will, dass der Staat eine Stiftung gründet, die Aufklärungsarbeit gegen Rassismus leistet, überall. Sie trägt ein T-Shirt, auf dem Migrantifa steht, was den losen Zusammenhang von antifaschistischen Migranten beschreibt. Es steht für zusammen leben und zusammen kämpfen, sagt Serpil Temiz.
Sechs Monate, bevor Ferhat Unvar starb, sagte er zu seiner Mutter, dass er doch noch studieren und dann ein Buch schreiben will. Über sein Leben, darüber, wie es in der Schule für ihn war, und wie er es trotzdem geschafft hat: Ausbildung, Bestnote, Stinkefinger. Im Dezember 2016 schrieb er auf seiner Facebookseite in einem Beitrag, von dem seine Mutter einen Screenshot hat:
1945 schrie ein Land
"Mit uns nie wieder!"
Plötzlich gibt’s die AFD
besorgte Bürger und Pegida*
So war er, sagt Serpil Temiz, klug, einer, der sich Gedanken machte über sich und sein Umfeld. Man konnte ihm so wunderbar vertrauen, sagt sie, weil er tat, was man ihm sagte. Bloß seinen Haustürschlüssel, den vergaß er ständig, weswegen das Gartentor der Familie immer offenblieb. Auch abends. Falls Ferhat mal wieder ohne Schlüssel heimkam. Seiner Mutter machte das Sorgen.
Ferhat, wir sind hier im Erdgeschoss, da kann immer jemand reinkommen, und dann? Das ist gefährlich, Ferhat.
Aber Ferhat sagte seiner Mutter, dass sie sich beruhigen soll, dass der Familie schon nichts Schlimmes passieren wird.
*Anmerkung der Redaktion: Die Zeilen stammen aus dem Song "Kranke Welt" des Rappers Pillath.