
Kampf um gleiche Rechte Im Gewühle der Gefühle


Tara Moore / Getty Images
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Ein junger Bekannter liest die Schrift an einem Paketwagen. DHL sucht neue Mitarbeiter: »m/w/d.« Er sieht mich an: »Männlich. Weiblich. Deutsch?« »Divers«, sage ich. »Was?«, fragt er.
Man denkt ja, bestimmte Dinge hätten sich herumgesprochen. Oft liege ich falsch – wegen anderer Interessen, Freunde, Netzwerke – wegen der eigenen Wahrnehmung der Welt. Weil für andere Leute andere Sachen wichtig sind, kennen eben viele das Wort divers für ein eigenes Geschlecht nicht.
Und nicht alle kennen die Debatten, die seit einiger Zeit über Geschlechterfragen geführt werden. Meistens geht es um Forderungen von Minderheiten, die nicht zu den Lebensgewohnheiten der Mehrheit passen. Das wäre in Ordnung, wenn beide Seiten Empathie füreinander aufbringen könnten, mehr zu wissen wünschten. Zu erleben sind eher Radikalität und Platzkämpfe oder Ahnungslosigkeit und Abwehr. Auch innerhalb der Mehrheit wächst öffentliche Feindseligkeit.
Es ist kompliziert. Das biologische Geschlecht (engl.: sex) hat viele Facetten. Die weitestmögliche Auslegung fand der Sexualforscher Volkmar Sigusch: »Es gibt so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt. Keine Geschlechtlichkeit eines Menschen ist mit der eines anderen Menschen identisch. Das ist einzigartig wie ein genetischer Fingerabdruck.« Den Gedanken griff im Februar 2022 auch Zeit.de auf. Jeder Mensch auf der Welt hätte demnach ein einmaliges Geschlecht , was Fragen nach passenden Partnern und der Suche nach ihnen aufwirft.

DHL-Lieferfahrzeug in Berlin-Mitte mit Stellenausschreibungen: »Männlich. Weiblich. Deutsch?«
Foto: Dirk Sattler / IMAGOFacebook wird als Quelle für eine Auswahl unter 60 Geschlechtern zitiert: Männlich, weiblich – und dann noch von androgyn bis Zwitter. Sechzig. Das sind immer noch viele. Und manche Geschlechter heißen ähnlich. »Es sind für augenscheinlich eine Begrifflichkeit mehrere Begriffe gewählt, damit die Vielfalt im Selbstgefühl zum Ausdruck kommen kann«, erklärt der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes. Der Verband hatte die Optionen für Facebook mit überlegt.
Von Diversität und parallelen Welten
»Vielfalt im Selbstgefühl«, ist ein zeitgemäßes Anerkennungsbedürfnis von Minderheiten. Knapp über drei Prozent der deutschen, österreichischen und Schweizer Bevölkerung befinden sich zwischen »Mann- und Frausein«, wie es in der 3sat-Doku »Die Abschaffung der Geschlechter« heißt. (Hier können Sie den Beitrag ansehen.)
Ein Teil dieser Personen kann sich nicht mit dem Geburtsgeschlecht identifizieren, sie sind Trans*gender. Trans- bedeutet: jenseits, queer, hinüber. Sie sind sicher, im falschen Körper zu leben, sie wollen in den richtigen, in den männlichen oder weiblichen, mit oder ohne Hormontherapie und Operationen. Transfrauen waren Männer, Transmänner waren Frauen. Schätzungen zufolge suchen zwischen 43 und 50 Prozent der Transpersonen eine chirurgische Angleichung.
Die große Mehrheit der Frauen und Männer, mehr als 90 Prozent, ist heterosexuell: Männer interessieren sich für Frauen, Frauen interessieren sich für Männer. Sie sind cisgender, auch wenn viele das Wort nie gehört haben – Reaktionen im Bekanntenkreis: »Was soll ich sein? Cis? Quatsch! Ich bin voll normal!«
Das lateinische cis- bedeutet diesseits, als Gegensatz zu jenseits, zu trans-. Die innere Identität einer Person entspricht dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugeschrieben wurde. Sie wollen sein, was sie sind. Sexuell haben sie die wenigsten Probleme mit Angeboten, Akzeptanz und Tradition.
Hetero, lesbisch, schwul und bi sind keine Geschlechter: Sie drücken stattdessen eine sexuelle Grundorientierung aus – zu welchem Geschlecht sich eine Person hingezogen fühlt. Manche Sexualforscher zählen noch Pansexualität und Asexualität dazu – Neigung zu allem, gar keine Neigung. Eine verwirrende Vielfalt. Mehr oder weniger sind wir alle dabei.
Wer längere Zeit versucht, den Debatten über Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Geschlechter zu folgen, landet in parallelen Welten. Was denn nun? Einatmen, ausatmen?
Und dann verändern sich auch noch Gesetze. In Deutschland sorgt seit Ende 2018 ein Gesetz für die Anerkennung eines dritten Geschlechts: Der Bundestag beschloss , dass im Geburtenregister neben männlich und weiblich eine weitere Option eingetragen werden kann: »divers« – verschieden. Seitdem ist »m/w/d« (oder eine andere Form der Geschlechterneutralität) bei Stellenausschreibungen die Norm, deshalb auch diese Aufschrift auf dem DHL-Paketwagen.
Mit einem ärztlichen Attest über eine »Variante der Geschlechtsentwicklung« – Genitalien, Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen betreffend – können auf Standesämtern Eintrag und Vorname gewechselt werden. Die Große Koalition wollte das Transsexuellengesetz ändern, scheiterte aber . Nach Schätzungen des Ethikrats leben in Deutschland etwa 80.000 intergeschlechtliche Menschen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur dritten Option hatte bis zu 160.000 Intergeschlechtliche erwähnt. Bis zum 30. September 2020 wechselten aber nur 394 Personen den Eintrag oder ließen ihn offen. 160.000 von mehr als 80 Millionen Bewohnern Deutschlands – und davon 394 Menschen, die tatsächlich von ihrem Recht Gebrauch machten.
Das geringe Interesse kann immer noch mit Scham und Angst zusammenhängen. Betroffene erklären ihre Zurückhaltung aber auch mit der Attestpflicht – die Befragung verletze ihre Intimität. Die Pflicht kam auf Wunsch der CDU/CSU nachträglich in das beschlossene Gesetz, da »ein Personenstandsregister mit Beweiskraft keine subjektive Selbsteinschätzung zulasse.« Es gibt Appelle, das Attest durch Selbstbestimmung zu ersetzen.
Für den kurzen Weg entschloss sich die Schweiz. Seit Januar 2022 reicht es aus, im Zivilstandsamt den Wunsch nur amtlich zu bekunden, sich auf kein Geschlecht festlegen zu wollen und einen neuen Vornamen zu wählen. Von Mann zu Frau, von Frau zu Mann. Jeder kann das machen, der überzeugt ist, dem anderen Geschlecht anzugehören. Ärztliche Atteste sind nicht erforderlich. Wer es sich nach einem Jahr anders überlegt, kann den Wechsel rückgängig machen, auch mehrmals. Die Folgen sind unklar. Möglicherweise werden einige Männer so den Wehrdienst umgehen wollen.

Zivilstandsamt Basel: Die Schweiz entschloss sich für den kurzen Weg
Foto: imagebroker / IMAGOStatt geschlechterdivers zu werden, könnte sich die Schweiz irgendwann sogar für nur ein Geschlecht entscheiden. Die Forderung war 2018 vor dem Bundesrat gescheitert, sie wird von den Jungen Grünliberalen und der jüngeren feministischen Rechtswissenschaft aber wieder erhoben. Selbst dort, wo es klare biologische Unterschiede gibt, vorab bei Schwangerschaft und Mutterschutz, müsse man nicht zwingend auf das Geschlecht oder das Frausein abstellen, sondern könne unterscheiden zwischen Menschen, die schwanger seien und gebären, und den anderen.
Auch in Deutschland ist das ein Thema: Anfang März diskutierte der Bundestag über einen Antrag der Linken: »Die Festschreibung, dass Eltern immer nur zwei Personen sein müssen, hat angesichts sich wandelnder Beziehungsmuster und Lebensweisen immer weniger Sinn … Eine solche angenommene Austragungspflicht macht gebärfähige Körper, in der überwiegenden Mehrzahl Frauenkörper, zum Objekt.« Der Antrag, einen Bericht »zum Stand der reproduktiven Gerechtigkeit in Deutschland« vorzulegen, erhielt auch vereinzelte Stimmen von SPD und Grünen. Er wurde an den zuständigen Ausschuss überwiesen.
Wer traditionell glücklich lebt, wird beäugt
Solche und ähnliche Vorschläge haben oft den Hauch Hochmut einzelner Milieus. Sie stellen Lebensrealitäten und Traditionen generell infrage. Wer anders glücklich lebt, wird beäugt und verdächtigt, gegen den Fortschritt zu sein. Es gibt Streit um Wörter. Viele gelten als falsch, weil sie nicht für alle gelten. »Frau« und »Mutter« zum Beispiel.
Der »Internationale Frauentag« findet nun auch als »Feministischer Kampftag« statt: Niemand soll durch die Verwendung des Wortes »Frau« ausgeschlossen werden. Auf Druck der Transgender-Community ist im englischsprachigen Raum von »Körpern mit Vagina« oder »gebärenden Menschen« die Rede. Zwei Unikliniken im britischen Sussex bitten die Angestellten, auf den Geburtsstationen geschlechtsneutral zu sprechen, damit sich transsexuelle Gebärende – solche gibt es, wenn auch selten – einbezogen fühlen. Dafür wurden neue Begriffe erfunden. So soll, ein Beispiel, »Muttermilch« durch »Menschenmilch« oder »Milch des stillenden Elternteils« ersetzt werden. Die digitale Plattform Vulvani beantwortet Fragen zur Menstruation und spricht von »menstruierenden Menschen« statt von Frauen, »da es Menschen gibt, die menstruieren, sich aber nicht als Frau definieren«. Die Autorin Joanne K. Rowling hatte die Formulierung »menstruierende Menschen« verspottet, sie geriet in einen Sturm wegen Transfeindlichkeit. Im Juni 2020 twitterte Silke Plagge, Journalistin und Autorin von Schwangerschaftsratgebern, sie sei aufgefordert worden, das Wort »Frau« aus ihren Büchern zu streichen.
Es wird noch komplizierter: Der Geschlechterbegriff hat nicht nur sexuelle Bedeutung, es gibt auch das soziale Geschlecht (engl.: gender). Es wird durch Tradition, Erziehung und Umgebung erlernt. Klasse, Herkunft, Ethnie, Besitz, Alter, Glaube – was wird gefördert, geehrt, akzeptiert, skeptisch beobachtet? Die meisten Menschen hadern ja nicht mit ihrem biologischen Geschlecht, sondern mit sozialen Lebensumständen: wegen der Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Bezahlung (Gender Pay Gap), Karrieren, wirtschaftlicher und politischer Positionen, Verteilung der Hausarbeit, Kindererziehung.
Nur in wenigen Ländern Europas ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen so hoch wie in Deutschland, 76 Prozent. Aber Minijob und Teilzeitbeschäftigung bleiben Frauendomänen. 2020 stieg der Frauenanteil in den DAX-Vorständen von 15 auf 19 Prozent, bei den 50 Aktiengesellschaften im MDAX stieg die Frauenquote von 11,0 auf 11,7 Prozent. Die Gleichberechtigung trippelt voran.
Weil das nun schon so lange dauert, steigt die Ungeduld. Manche Feministinnen verschärfen den Ton. Sie attackieren Männer generell, und manchmal geht das Maß verloren.
Eine Journalistin schreibt: »Goethe wird heute ja nicht deswegen in Schulen gelesen, weil seine Texte unschlagbar brillant wären, sondern weil Generation um Generation einflussreicher Männer an seine Wichtigkeit glaubt.« Goethe beendete den »Faust« mit dem doch schon irgendwie brillanten Satz: »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.« Die Geringschätzung ist ein modernes Feindbild geworden: »AWM«. »Alter weißer Mann«. »Alte weiße Männer«.
Eine Altersgruppe. Eine Hautfarbe. Ein Geschlecht.
Gemeint ist ein Typ Mann, der seine Privilegien verdrängt, den gesellschaftlichen Wandel ironisch kommentiert und seine Macht nur durch Leistung erreicht zu haben glaubt. Er geht oft zu weit. Kränkt Leute. Ist keinen Widerstand gewohnt.
Sophie Passmann hat ihr Interviewbuch »Alte weiße Männer« genannt. Obwohl sie es einen »Schlichtungsversuch« nennt und die Gespräche klug, entspannt und fair führt, irritiert der Titel. Ihre 16 Gesprächspartner sind zwischen 32 Jahren (Kevin Kühnert) und 81 Jahren (Rainer Langhans) alt, sieben sind in den Vierzigern. (Lesen Sie hier ein SPIEGEL-Gespräch zwischen Passmann und dem Journalisten Jan Fleischhauer.) Sophie Passmann erklärt das so: »Nicht das biologische Alter ist gemeint, sondern der ausgeprägte Starrsinn.« Aber ihre Gesprächspartner lassen sich keineswegs einhellig unter diesem Banner versammeln, die Autorin selbst bewundert im Buch die Klugheit mehrerer Männer.

Buchautorin Sophie Passmann: Wo kommt ein fürsorglicher Mann vor, wenn über Männer geurteilt wird?
Foto: Christoph Hardt / IMAGOUnd alte weiße Frauen? Politikerinnen, Journalistinnen, Chefinnen, Erbinnen, Diven – gibt es eine Öffentlichkeit, die sie wegen ihrer Macht als Frauen angreift? Das passt gerade nicht. Umgekehrt kommen Männer an einer anderen wichtigen Stelle gar nicht vor: beim »Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend«. War das beabsichtigt, sind Männer einfach so durchgefallen? Der Name eines Ministeriums beschreibt doch seine Verantwortung. Knapp 20 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind Männer. Zeigt unsere Gesellschaft auch da Empathie?
Ich stelle mir vor, ich wäre ein Mann, und zwar einer von den netten. Ich bin bindungsfähig, geduldig und fürsorglich. Ich halte Versprechen, kann zuhören und finde Worte für meine Gefühle. Ich bin ein wilder und zärtlicher Liebhaber. Ich bin mit Männern und Frauen befreundet.
Wo kommt so einer vor, wenn über Männer geurteilt wird? Männer finden sich in eine jahrtausendealte Kultur eingeordnet, in das Patriarchat – als hätte sich nichts, aber auch gar nichts verändert. »Wir leben nach wie vor in einer frauenverachtenden Kultur, und in der existiert ein jahrtausendealter Muskel namens Patriarchat«, sagt die Schauspielerin Maria Furtwängler. »Frauenhass gehört zum Patriarchat. Der steckt in allen Männern, das ist Sozialisierung«, glaubt die Autorin Katja Lewina. »So wie die Evolution den Menschen den Blinddarm daließ, schenkte das Patriarchat ihnen die Heteronorm: Beides ist ein Rudiment, das irgendwann in der Vergangenheit einen Sinn erfüllte und mittlerweile sinnlos ist.« Das schrieb Ann-Kristin Tlusty in ihrem Buch »Süß. Eine feministische Kritik«.
Es kann zurückgeschlagen werden
Frauenhass, Frauenverachtung, Blinddarm gleich Heteronorm. Die Wortübertreibungen verjagen schon seit Langem genauere Gedanken, setzen den Ton für nachfolgende Generationen. Das Buch »Das letzte Zipfelchen der Macht«, verfasst 1995, ist »ein Aufruf zum absolut weiblichen Egoismus«. Die Autorin Marianne Weissberg amüsiert sich über Winzlinge und Schlappschwänze. Den statistisch früheren Tod des Mannes kommentiert sie kühl: »Frauen leben länger und besser.« Ein Jahr früher schon riet Alice Schwarzer in »Emma«, dem Beispiel einer Amerikanerin zu folgen: Sie hatte ihrem schlafenden Mann, der sie jahrelang beschimpft, geschlagen und vergewaltigt hatte, mit einem Küchenmesser den Penis abgeschnitten. »Der Damm ist gebrochen, Gewalt ist für Frauen kein Tabu mehr. Es kann zurückgeschlagen werden. Oder gestochen. Amerikanische Hausfrauen denken beim Anblick eines Küchenmessers nicht mehr nur ans Petersilie-Hacken.« Der Spruch ist ohne Mühe im Netz unter »Berühmte Zitate« zu finden.

Publizistin Schwarzer: Wie passt dieser Opfergang zu den feministischen Bilanzen?
Foto: Oliver Berg / picture allianceJa. Es gibt Männer, die gewalttätig sind bis zum Mord und sich rächen, wenn sie verlassen werden. Ein extremes Beispiel sind die »Incels«. Der Begriff setzt sich aus »involuntary« und »celibate« zusammen, etwa: »unfreiwilliges Zölibat«. Diese Männer finden sich hässlich. Sie glauben, dass Frauen mit ihnen keinen Sex wollen, weil nur das Aussehen – »Lookismus« – entscheide. Incel-Communitys pflegen Gewaltfantasien, Selbstmitleid, sie loben Amokläufer und Gewalt gegen Frauen. In den USA verbindet sich die Szene zunehmend mit Rechtsnationalen. Die Männer legitimieren ihre Wahrnehmung der gesellschaftlichen Ausgrenzung mit Gewalt. In Kanada wurde ein Mord als terroristischer Akt verurteilt. Incels kommunizieren auch in Deutschland. Schon 2014 berichtete der SPIEGEL über die tödliche Gefahr durch Männer, die Frauen hassen.
Es ist nicht so gefährlich und frauenfixiert, aber auch bedrohlich, wenn männliche Chefs ihre Stellung auskosten. »Beinschuss! Bauchschuss! Kopfschuss!« drohte ein früherer »Bild«-Chef vermeintlich unfähigen Mitarbeitern. Die Erniedrigungskreativität eines »Stern«-Chefredakteurs war im ganzen Haus gefürchtet: »Finden Sie Ihre Texte eigentlich gut?«, fragte er einen Journalisten. Der nickte. »Da sind Sie aber der Einzige!«, höhnte der Chef. Ich war da auch im Raum.
Machtbesessene Männer müssen abgelöst werden. Das passiert auch, aber mehr aus anderem Grund: Sexismus. 2017 begann »MeToo«. Einem Hashtag einer amerikanischen Schauspielerin – über den Filmproduzenten Harvey Weinstein und die Monstrosität seiner sexuellen Machtausübung – folgten Millionen Frauen aus 85 Ländern mit eigenen erniedrigenden Erlebnissen. MeToo war dringend notwendig.

Verurteilter Sexualstraftäter Weinstein: Machtbesessene Männer müssen abgelöst werden
Foto: ImageCollect / YAY Images / IMAGOEs gab aber leider Fehler: Zwischen Übergriff, Vergewaltigung, Anmache wurde kaum unterschieden. Der Erwähnung von Namen folgte die Ächtung beschuldigter Männer. Sie wurden moralisch, privat, beruflich erledigt – oft anonym, fast immer ohne Justizurteil. Manche Vorwürfe bezogen sich auf Fälle vor drei, vier Jahrzehnten. Totschlag verjährt nach 20 Jahren.
Die Ostperspektive ist eine andere
Als Frau aus dem Osten brachte ich nach dem Mauerfall eine besondere Sozialisation mit: Vertrautheit, Freundschaft mit Männern durch tägliche Arbeit. 1989 waren mehr als 90 Prozent der Frauen im Osten berufstätig. Die finanzielle Unabhängigkeit vom Mann bedeutete ein Gefühl von Freiheit und Stärke. Das haben dann die Töchter von ihren Müttern gelernt. Offenbar war es anders als im Westen.
Glennon Doyle schreibt 2020 in ihrem Bestseller »Ungezähmt«: »Mädchen lernen immer, dass richtige Frauen still, hübsch, klein, schlank, passiv und begehrenswert zu sein haben … unser Verstand wurde von unserer Konditionierung verdorben … Uns wurde beigebracht zu glauben, dass wir in unserem natürlichen Zustand schlecht und gefährlich sind. Man hat uns die Angst vor uns selbst antrainiert. Deshalb erkennen wir unseren Körper nicht an, unseren Hunger, unser Urteilsvermögen, unsere Erfahrung und unseren Ehrgeiz.«
So unsicher starteten Mädchen ins Leben? Und dann? Alice Schwarzer schrieb 2010: »Im Namen der Liebe neigen Frauen zur Selbstaufgabe, Gratisarbeit und Relativierung ihrer eigenen Existenz. Darauf baut die ganze männlich-weibliche Arbeitsteilung auf.« Wie passt dieser tägliche Opfergang zu den feministischen Bilanzen, in denen Frauen zu Siegerinnen werden – stark, klug, unabhängig, selbstbestimmt?
Wir bestimmen selbst, was wir für hinnehmbar halten. Wir können uns doch klar ausdrücken, oder? Die Chefredakteurin der »Bunten« schrieb 2011 ein Editorial über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: »Männer sollten Sensibilität dafür entwickeln, dass Frauen an manchen Tagen Zweideutigkeiten lässig hinnehmen und am nächsten Tag schockiert sind.« Im Zusammenhang mit der Sexualität der Männer wird die moderne Frau zum Weibchen erklärt. Bei männlicher Anmache verfallen manche Frauen in Schockstarre. Sie brauchen offenbar Schutz.
»Catcalling« ist so ein Auslöser : Männer pfeifen Frauen auf der Straße hinterher, schmatzen, machen anzügliche Sprüche. Alles gilt als Form aufgezwungener Sexualität. Auch wenn es keinen physischen Kontakt gebe, dürfe Catcalling nicht verharmlost werden, sagt eine Kriminologin. Im August 2020 startete eine Onlinepetition mit dem Ziel, Catcalling in Deutschland zu ahnden. Insgesamt 69.444 Personen unterstützten sie. Der Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag ist damit befasst.
Ein Kollege der »Zeit« ernüchterte die Debatte mit seinem ganz ernst gemeinten Vorschlag: Verträge vor dem Sex . »Die Idee, sexuelle Begegnungen über ausgeklügelte vertragliche Vereinbarungen zu klären, kann nur einer Gesellschaft albern vorkommen, die der Angst der Frauen mitleidlos gegenübersteht.« Vorspiel nicht vor Unterschrift. Könnten sexuelle Praktiken durch »ausgeklügelte Vereinbarungen« ihr Feuer verlieren?
Die Bielefelder Soziologin Babara Kuchler empfiehlt den Frauen, das Sexismusproblem an der Wurzel zu packen : »Lasst das Schminken sein! Legt die Kosmetikdosen in den Schrank und kauft sie nie mehr nach … Hört auf, jeden Tag schicke, formlich und farblich aufeinander abgestimmte Klamotten zu tragen! Zieht das an, was im Schrank gerade oben liegt … Geht nicht mehr als einmal im Vierteljahr zum Friseur.« Aber viele selbstbewusste Frauen wollen nicht nur Männern, sondern auch Frauen, sich selbst und sogar ganz fremden Leuten gefallen.
Im SPIEGEL schreibt Mithu M. Sanyal , Publizistin und Autorin, über vorsorgliche Gefahrenvermeidung, die die Frauen infantilisiere. Die lebensbejahenden Aspekte der Sexualität würden vernachlässigt. »Wir sind noch mitten in den Aushandlungsprozessen.« Aber der differenzierende Text wird so illustriert: Eine große, rote Hand nähert sich einer zurückweichenden kleinen Frau am Schreibtisch – Männer sind gefährlich.
Kaum etwas steht für diese neue Zeit so sehr wie die feministische Dating-App »Bumble«. Eine App für Frauen, die ihr Interesse an Männern mit Vorsicht verbinden wollen. Entwickelt hat sie unter anderen Whitney Wolfe Herd, die zuvor beim Datingportal Tinder beschäftigt war und die das von ihr mitgegründete Unternehmen wegen sexueller Belästigung verklagte. Als Reaktion auf ihre schlechten Erfahrungen ließ Herd »Bumble« so programmieren, dass nach einem Match nur die Frau ein Gespräch starten darf. Die Männer bieten sich mit Text und Foto an und warten auf Nachfrage. Gilt das noch als Gleichberechtigung? Öffentlich haben sich Leichtsinn, Lust und Leidenschaft zurückgezogen.
Ich hoffe, dass das privat ganz anders läuft.