Aufstieg nach oben: Sozial und gesellschaftlich gesehen ein umstrittenes Konzept, sagt Francis Seeck
Aufstieg nach oben: Sozial und gesellschaftlich gesehen ein umstrittenes Konzept, sagt Francis Seeck
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Klaus Vedfelt / Getty Images

Soziale Herkunft und ihre Folgen Wer arm ist, ist selbst schuld?

Habitus und Einkommen: Daran zeigt sich, zu welcher Klasse wir gehören. Was Klassismus mit uns macht und was wir dagegen tun können.
Ein Interview von Heike Klovert

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SPIEGEL: Wer wenig oder nichts verdient, hat schlechteren Zugang zu Bildung, Kultur, Arbeitsmarkt und medizinischer Versorgung, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch. Dabei dürften soziale Teilhabe und Chancengleichheit noch nie so groß gewesen sein wie jetzt, oder?

Seeck: Darauf berufen wir uns als Gesellschaft gern und unterschätzen dabei, wie wirkmächtig der Klassismus noch ist, also die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position. Er durchdringt nahezu alle Bereiche unseres Alltags und trifft sehr viele Menschen, vor allem Wohnungs- und Erwerbslose sowie Arbeiter*innen und ihre Kinder.

Foto: Lotte Ostermann

Francis Seeck, 1987 in Ost-Berlin geboren, ist Kulturanthropolog*in und Antidiskriminierungstrainer*in. Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter setzte sich Seeck schon früh mit den Auswirkungen der Klassengesellschaft auseinander. Heute forscht und lehrt Seeck zu Klassismus und sozialer Gerechtigkeit, nach einer Vertretungsprofessur an der Hochschule Neubrandenburg nun als Post-Doc an der Humboldt-Universität Berlin.

SPIEGEL: Wo macht er sich bemerkbar?

Seeck: Ich werde als Wissenschaftler*in manchmal für Podiumsdiskussionen und Talkshows angefragt und schlage dann vor, zum Beispiel auch jemanden von der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen als Expert*in einzuladen. Ich höre dann häufig die Frage: Sind die denn podiumstauglich? Einkommensarme Menschen dürfen ihre persönlichen Geschichten erzählen, aber man traut ihnen selten eine Expertise zu, weil sie nicht im Erwerbsleben stehen oder nicht studiert haben.

SPIEGEL: Aber ein Hochschulstudium dient doch dazu, Fachwissen und Expertise aufzubauen.

Seeck: Das ist richtig, doch Mitarbeiter*innen einer Erwerbsloseninitiative, die seit vielen Jahren Beratungen organisieren und sich täglich mit den Herausforderungen des Hartz-IV-Systems auseinandersetzen, wissen oft genauso viel oder mehr als jemand, der sich damit nur theoretisch befasst. Bildungszertifikate und andere Hürden verwehren ihnen jedoch, als Expert*innen wahrgenommen zu werden.

SPIEGEL: Woran liegt es, dass wir solche Hürden nicht längst abgeschafft haben?

Seeck: Klassismus ist eine Diskriminierungsform, die soziale Ungleichheiten aufrechterhalten soll. Die Kluft zwischen Armen und Reichen wächst stetig, die acht reichsten Menschen der Welt haben inzwischen ein Gesamtvermögen, das dem der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entspricht. Das ist krass, daran muss sich etwas ändern. Wir könnten Reichtum stärker besteuern oder den Mindestlohn drastisch anheben. Stattdessen legitimieren wir diese Ungleichheit, indem wir uns gegenseitig weismachen: Wer arm ist, ist selbst schuld. Dieses Herabschauen auf eine große und sehr heterogene Gruppe in der Gesellschaft, das ist Klassismus.

SPIEGEL: Ihre Mutter war erwerbslos. Wann haben Sie selbst Klassismus erlebt?

Seeck: Ich bin in Kreuzberg zur Schule gegangen, wir lebten von Sozialhilfe und konnten uns selten erlauben, in einem Restaurant zu essen. Doch als ich etwa zehn Jahre alt war, lud mich meine Mutter in eine Pizzeria ein. Dort sah uns eine Pädagogin, die mich aus der Schule kannte. Am nächsten Tag fing sie mich ab und fragte mich, wie wir es uns denn leisten könnten, Pizza essen zu gehen. Da habe ich zum ersten Mal gespürt, dass wir unter Beobachtung standen und dass andere darüber urteilen, was wir tun und wie wir uns ernähren, à la: »Wer arm ist, soll es auch schlechter haben.« Das hat sich sehr abwertend angefühlt.

SPIEGEL: Studien zeigen seit Jahren, dass Kinder aus materiell armen Familien in der Schule schlechter abschneiden als wohlhabende Kinder, obwohl sie gleiche Leistungen erbringen. Dasselbe gilt auch für Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien.

Seeck: Ja, oft vermischen sich Unterdrückungsformen wie Klassismus und Rassismus. Die Vorurteile, mit denen wir aufwachsen, sind in diesem Fall sogar ganz ähnlich: Menschen, die Hartz IV beziehen oder aus bestimmten Regionen der Erde zugewandert sind, seien faul, ernährten sich schlecht und bekämen zu viele Kinder, mit denen sie dann überfordert seien. Jungen aus migrantischen und einkommensarmen Familien haben einen besonders schweren Stand. Es gibt verschiedene Gründe, wieso sie an Universitäten vergleichsweise selten zu finden sind. Einer davon ist, dass ihnen Lehrer*innen und andere Menschen in ihrem Umfeld das Gefühl vermitteln, es sowieso nicht dorthin zu schaffen.

SPIEGEL: Was müsste geschehen, damit diese Diskriminierungen abnehmen?

Seeck: Wir brauchen mehr Lehrer*innen, die einen Bezug zu den Lebensrealitäten ihrer Schüler*innen haben. Die verstehen, dass manche Kinder ihre Eltern auf Arzttermine begleiten müssen, um zu übersetzen, und dass sie womöglich kein eigenes Zimmer haben, in dem sie ungestört ihre Hausaufgaben machen können. Alleinerziehende Mütter haben, wenn sie mehreren Jobs nachgehen, wenig Zeit, um ihre Kinder zu Schulveranstaltungen zu begleiten. Wir sollten nicht solch einen negativen Blick auf diese Familien richten, sondern auch schauen: Welche Ressourcen bringen sie mit? Was leisten sie?

SPIEGEL: Zum Beispiel?

Seeck: Menschen, die Hartz IV beziehen, müssen sich mit einer Bürokratie herumschlagen, die sehr aufwendig und zeitraubend ist. Das sollte wertgeschätzt werden, statt Erwerbslose in TV-Sendungen wie »Hartz und herzlich« dabei zu präsentieren, wie sie Alkohol trinken und rauchen. Auch für materiell arme und junge Mütter wünsche ich mir mehr Respekt und soziale Anerkennung, nicht nur für sie müssten die Hartz-IV-Sätze dringend angehoben werden. Kinder, die mehrere Sprachen können, sollten ebenfalls stärker gesehen werden. Bei uns war es früher in den Pausen verboten, Türkisch oder Arabisch zu sprechen. Latein oder Französisch wären hingegen ziemlich sicher kein Problem gewesen. Das zeigt, wie viel Klassismus in der Frage steckt: Was gilt eigentlich als Bildung, und wer entscheidet das?

SPIEGEL: Wie definieren Sie den Begriff?

Seeck: Bildung hat zwei Seiten: Sie ist zum einen die Möglichkeit, sich mit der Welt auseinanderzusetzen und sich Wissen anzueignen. Und sie ist ein Herrschaftsinstrument: Sie teilt die Gesellschaft in Gebildete und Ungebildete, und sie verleiht denen, die Abschlüsse und Bücherregale vorweisen können, ein kulturelles und auch wirtschaftliches Kapital, weil diese Form der Bildung zu besser bezahlten Jobs führt. Dabei manifestiert sich Bildung nicht vor allem im akademischen Kontext. Man kann sich auch mit TV-Sendungen weiterbilden – nicht nur mit Büchern. Und es ist ein Klischee, dass in sogenannten bildungsfernen Haushalten dauernd der Fernseher liefe.

SPIEGEL: Gilt ein großer Fernseher in der Arbeiterklasse jedoch nicht eher als Statussymbol?

Seeck: Wenn es so wäre, wäre das nicht per se problematisch. Jede Klasse hat ihre Statussymbole, sie drücken Zugehörigkeit aus. In bildungsbürgerlichen Gruppen sind es vielleicht bestimmte Zeitungsabos oder hochwertige Outdoorkleidung, ein Rennrad oder teure Gemälde. Schwierig finde ich allerdings, dass sich einkommensreiche Menschen über die Statussymbole anderer Gruppen lustig machen und sie abwerten. Es ist ein Vorurteil, dass materiell arme Menschen materialistischer seien und einen größeren Teil ihrer Ersparnisse in Fernseher oder Handys investieren, während die Ober- und Mittelklasse angeblich nachhaltiger lebt. Dort wandert auch sehr viel Geld in Produkte, die man kritisieren könnte.

SPIEGEL: Sie raten ab, von »sozialem Aufstieg« zu sprechen. Wie kann man es dann nennen, wenn jemand, dessen Eltern nicht studiert haben, an eine Hochschule geht und in einen Beruf einsteigt, in dem er gut verdient?

Seeck: Das ist eine komplizierte Frage. Einige Begriffe, die man hinterfragen sollte, benutze ich ja selbst, auch wenn ich lieber von Klassenwechsler*innen spreche. Doch natürlich will jede Person in finanzieller Sicherheit leben und sich keine Sorgen machen müssen, wie sie über den Monat kommt. Deswegen kann man das schon als Aufstieg bezeichnen. Aber es schwingt darin eben auch mit, dass es besser ist zu studieren. Das hat jedoch mit den viel zu großen Einkommensunterschieden zwischen Professorinnen und Pflegerinnen, zwischen Maurern und Intendanten zu tun. Darin manifestieren sich Klassenpositionen.

SPIEGEL: Wie sehr macht sich die Klasse am Einkommen fest – und wie sehr an Sprache oder Kleidungsstil?

Seeck: Beides ist wichtig, Geld und Habitus. Auch die Kontakte, das Netzwerk, das man unterhält, spielen dort hinein, ebenso wie ein sehr subjektives Gefühl der Zugehörigkeit. Das hängt alles miteinander zusammen, deswegen ist es auch schwer, die Klasse tatsächlich zu wechseln, wenn sich das Gehalt ändert. Wie wir aufgewachsen sind, prägt uns sehr. Meine Mutter hatte zum Beispiel studiert. Das hat es mir sicher erleichtert, selbst an eine Hochschule zu gehen.

SPIEGEL: Sie forschen auch zu Transfeindlichkeit. Hat sich in diesem Bereich nicht viel verbessert? Mit Begriffen wie LGBTQ und nicht binär können mehr Menschen etwas anfangen als noch vor einigen Jahren.

Seeck: Die Sichtbarkeit und das Verständnis sind gerade in der jungen Generation gewachsen. Aber auch hier mischen sich Diskriminierungsformen: So sind einkommensarme transgeschlechtliche Personen besonders stark von Klassismus betroffen, es kommt immer noch vor, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie sich outen. Wer weiter oben in der sozialen Hierarchie steht, hat es zwar meist leichter, sich zu seinem Transsein zu bekennen. Aber der Wissenschaftsbereich beispielsweise, in dem ich arbeite, ist noch nicht besonders queerfreundlich. Ich sortiere mich selbst nicht in die Box »männlich« oder »weiblich« ein und weise stets darauf hin, wie ich angesprochen werden möchte. Trotzdem bekomme ich oft Post, die mit »Sehr geehrte Damen und Herren« oder »Lieber Herr Seeck« beginnt. Auch da würde ich mir mehr Offenheit für andere Optionen wünschen.

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