

Konsumratgeber Brauchen Sie das wirklich, oder wollen Sie es nur haben?
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Manchmal reicht ein kleines Ereignis, und der Blick auf sich ist für immer verschoben. Liesl Clark und Rebecca Rockefeller sahen am Strand zu Hause an der Pazifikküste Kaliforniens auf einmal nicht den Sand, sondern das Plastik, den Müll. Dinge, die sie selbst im Alltag benutzen: Kaffeeumrührer, Luftballons, Tamponeinführhilfen. Sie gründeten das Tauschnetzwerk »Buy Nothing«.
Schon größer: Eula Biss kaufte mit ihrem Mann ein Haus. Und lernte dabei, dass Wände weiß streichen mehr ist als Weißen: Töne wie »Cord«, »Schnur«, »Flitschstein« dieser einen teuren Farbenmarke machen aus simplem Malern eine Distinktionsgeste. Und plötzlich standen Dinge wie eine Sauciere und Servierplatten in ihrem Schrank, nur weil sie jetzt genug Platz haben, Leute zu Festessen einzuladen.
Tobias Esch ging es noch grundsätzlicher an. Er hat eine Professur am Institut für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke, hat bereits ein Buch über Selbstheilung geschrieben und mit Arzt, Clown und Fernsehmann Eckart von Hirschhausen eines über die »Mitte des Lebens«. Wie die meisten saß er seit Frühjahr 2020 pandemiebedingt daheim – und stellt nun fest: »Die gegenwärtige Aufruhr- und Aufbruchphase ist ein weiterer Indikator dafür, dass etwas in unserem System grundsätzlich nicht stimmt.« Es sei von allem zu viel – nur verzichtet werde zu wenig.
Von allem zu viel – aber zu wenig Verzicht
Alle vier fingen also an, über die Dinge nachzudenken, mit denen wir unser Leben anfüllen. Daraus entstanden drei gerade frisch erschiene Bücher. Liesl Clark und Rebecca Rockefeller, die beiden Strandgängerinnen, schrieben mit »Nichts kaufen. Alles haben« einen schnörkellosen, alltagspraktischen Ratgeber mit Tipps wie »50 Dinge, die wir selber machen« oder »Zehn Dinge zum Wiederverwenden«. Dazwischen adressieren sie Sorgen, die diesem Nichtkonsum im Weg stehen könnten – und räumen sie freundlich und bestimmt aus.
Nichts kaufen, alles haben: In 7 Schritten zu einem konsumfreien, nachhaltigen und großzügigen Leben
Preisabfragezeitpunkt
01.04.2023 20.06 Uhr
Keine Gewähr
Eula Biss geht das Ganze normativer an. In »Was wir haben. Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge« hinterfragt sie sich und die Systeme, in denen sie hängt – Marktwirtschaft, Kapitalismus, Wertschöpfung, Arbeit. »Ich besitze das Haus nur vorübergehend«, hält sie etwa fest. Und: »Das ist kein Kauf, sondern eine Bewirtschaftung.« Sie merkt, sie ist enttarnt, der Besitz ist ihr unangenehm. Sie hadert: Aufgrund ihrer prekären Kindheit und langjährigen prekären Arbeit hält sie sich nicht für privilegiert, fühlt sich nicht reich – und weiß sich als Universitätsdozentin und Hauseigentümerin aber doch fraglos als Teil einer Elite.
Was wir haben: Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge
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01.04.2023 20.06 Uhr
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Tobias Esch plädiert in »Mehr Nichts!« dafür, dass »wir weniger vom Mehr brauchen«. Seinen Ansatz dekliniert er in drei Bereichen durch: »Medizin«, »Achtsamkeit« und »Wirtschaft / Ökologie«. Er sieht den »Ruf nach einem ›Weniger‹« als »gemeinsamen Nenner in unterschiedlichen Lebensbereichen« – statt nur als »Trend«. Er geht von der Frage »Ist mehr Medizin immer gut« aus und landet bei Meditation und Achtsamkeit, packt Klimadebatte (»hip«), Digitalisierung und Burn-out dazu – und ja, so wild ist das ganze Buch. Da hilft auch nicht, es zweimal zu lesen.
Mehr Nichts!: Warum wir weniger vom Mehr brauchen
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Dennoch: Wie passend, ausgerechnet jetzt über ein »Weniger« zu reden, ohne die sonst übliche Minimalismus-als-Style-Story. Die Frage hier lautet: Wozu das alles? Oder in der simplen Version von Clark/Rockefeller: »Brauchen Sie diesen Artikel jetzt wirklich, oder wollen Sie ihn einfach nur haben?«
Gerade jetzt also, da sich pandemiebedingt ein Dilemma einstellt: Auf der einen Seite waren lange viele Geschäfte und Lokale geschlossen. So konnten viele Menschen täglich feststellen, welche Dinge sie wirklich »brauchen«-brauchen. Und welche nur zur Kategorie »Habenwollen« gehören. Sei es, weil das eigene Budget arbeitsausfallbedingt knapper wurde; sei es, weil das Ganze ohnehin keinen Spaß machte, erst der Schnelltestaufwand, dann mit Masken in leeren Läden stehen. Bummeln? Wozu auch. Und auf der anderen Seite: Waren die meisten Geschäfte und Lokale geschlossen. Sollten wir nicht allein deswegen konsumieren, um wenigstens den Einzelhandel zu retten?
Genau in diesem Zwischenreich lohnt es sich, Grundsätzliches über unser Konsumverhalten zu klären. Der Kern, den die drei Bücher ganz unterschiedlich umkreisen: Wenn Miete, Strom, Essen bezahlt sind: Was »brauchen« wir? Genauer: warum? Wann also fängt »mehr« an, wann »zu viel«? Wann klingt »weniger« auf einmal positiv? Wie beantwortet das jede einzelne für sich, wie eine Gesellschaft? Es ist daher konsequent, dass in »Nichts kaufen. Alles haben« ein eigenes Kapitel mit der Überschrift »Nachdenken« steht. Auf dass wir überlegen, welche Leerstellen wir mit Dingen füllen. Und wieso eigentlich. Aus Erschöpfung und Neid, Einsamkeit und Langeweile, Aufregung, Stolz, Belohnung und Sicherheit. Ihre These: All das erfüllt auch eine Schenk- und Tauschökonomie – sogar den bekannten Dopamin-Kick gibt’s.
Für Eula Biss, die stets von ihrem alltäglichen Erleben aus weiterdenkt, verschiebt sich der Blick mit der Zeit: Das Haus, die Sauciere, eine Halskette – wieso, überlegt sie, fühlt sie sich erfüllt von der Beziehung zu diesen gekauften Dingen? Konsum, so ihre Schlussfolgerung, bringe nichts Produktives hervor; er zerstöre und zersetze eher, das steckt schon im Wortstamm. Also macht sie das Gegenteil: Sie erschafft. Schreibt, spielt Klavier, gräbt ein Erdloch für einen Baum. Und löst den Wert vom Besitz. Dinge anhäufen? Ach Quatsch.
Apropos: Brauchen Sie also diese Bücher? Das eine hilft moralinfrei, das eigene Konsumverhalten ganz praktisch, ohne Verlustgefühle infrage zu stellen und hier und da umzubauen. Das andere taugt, um grundsätzlicher zu klären, wo wir jeweils überhaupt stehen: Was passiert, wenn Arbeit nicht mehr nur dazu dient, Geld für Miete und Essen zu verdienen? Woran machen wir den Wert von etwas fest? Und weitergedreht: Wieso tun sich häufig prekär lebende selbstständige Künstler:innen so schwer, sich mit schlecht bezahlten Pflegekräften, Erzieher:innen, Erntehilfen, Industriearbeiter:innen zu solidarisieren? Wieso glauben manche, »Gewerkschaften seien nur für Menschen mit schlechten Jobs«?
Snob-Sätze, mehr nicht
Und das dritte Buch, das hier weniger Worte abbekommen hat? »Mehr Nichts« trifft es ganz gut: Esch sagt auf 430 Seiten viel, ohne viel zu sagen. Mal abgesehen vom verquasten Themenmix, den aufgeblasenen Gedanken, die zerplatzen, bevor ihre Umrisse sichtbar sind: Er spricht seine Verzichtsthesen nur in Richtung einer privilegierten Zielgruppe, als gebe es etwa keine Verbindung zwischen Armut und Gesundheit. »Lebensstil ist […] Ergebnis von individuellen Zielen, Wünschen und lustvollem, hedonistischem Handeln«, »Von nichts kommt nichts«, Menschen müssten nur »ermuntert« werden: lauter Snob-Sätze, die das Grundproblem seines Ansatzes illustrieren. Die Titel »Prof. Dr.« auf dem Buchcover, das Vorwort-Geplänkel mit Hirschhausen sind da wie Neonwerbung: noch »mehr Nichts«.
Aber alle missverstehen eines: Nichtkonsum erstrebenswert finden, Kapitalismus als dysfunktional verachten, all das »Weniger« – das muss man sich auch erst einmal leisten können. Gerade jetzt.