Leben mit Panikattacken "Durch meine Angst habe ich mich besser kennengelernt"
"Früher hatte ich Angst vor einem Monster unter meinem Bett!"
So etwas zu erzählen, fällt wohl den meisten Menschen leicht, denn als Kind darf man sich noch fürchten. Doch je älter wir werden, desto schwieriger fällt es uns, Ängste zuzugeben. Dabei ist das nichts Ungewöhnliches. Angst vor Spinnen, Angst vor Enge, Angst vor Krankheiten oder Höhenangst - vermutlich gibt es nichts, vor dem nicht irgendwer Angst hat.
Auch Antonia Wille hat lange gebraucht, bis sie offen mit ihrer Angststörung umgehen konnte. "Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, in der es schwerfällt Schwäche zuzugeben", sagt sie im Podcast. Bei der freien Journalistin und Bloggerin trat die Angst als Teenagerin in ihr Leben - und ist geblieben. "Bei mir hat sich die Angst in Situationen eingeschlichen, die für uns eigentlich nicht gefährlich sind."
Längere Zug- oder Flugreisen fallen ihr auch heute noch schwer, Fahrten mit der U-Bahn oder Autobahnstaus können Angstgefühle oder Panikattacken bei ihr auslösen. Immer dann, wenn es raus aus dem gewohnten Umfeld geht, wird es für Antonia schwierig. Agoraphobie sagen Experten dazu.

Antonia Wille: "Je mehr man sich öffnet, desto besser!"
Foto:Stefanie Müller
Auch weil sie sich immer wieder Hilfe geholt hat, kann Antonia ihre Krankheit aber mittlerweile gut annehmen. Früher hat sie ihre Angst als Feindin betrachtet, heute als Freundin. "Sie hat dazu geführt, dass ich mich besser kennengelernt habe. Und das ist ja was Schönes. Wenn ich jeden Tag nur darauf schaue, was sie mir genommen hat, was ich alles nicht machen konnte - das würde dazu führen, dass ich noch trauriger werde."
Auch einen Namen hat die Angst bekommen: Katja. Und falls Katja doch mal zu anstrengend wird, kennt Antonia mittlerweile ein paar Tricks, um sie zu beruhigen: "In akuten Angstsituationen hilft mir vor allem das bewusste Atmen. Das signalisiert dem Körper, es ist keine Gefahr da. Und mein kleiner Geheimtipp ist sonst noch, etwas Scharfes zu essen - zum Beispiel auf eine Chili zu beißen. Der Körper kann nicht Schärfe abbauen und gleichzeitig Angst haben."
Wie können Freunde und Verwandte helfen, wenn sich die Angst mal wieder bemerkbar macht? Welche Reaktionen verschlimmern Angstattacken? Und wann würde sie anderen Betroffenen zu einer Therapie raten? Auf diese und weitere Fragen antwortet Antonia Wille im Ideen-Podcast "Smarter leben".
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Der ganze Podcast zum Lesen
[00:00:02] Antonia Wille Mein kleiner Geheimtipp ist noch: was Scharfes essen.
[00:00:05] Lenne Kaffka Okay, weshalb?
[00:00:07] Antonia Wille Wenn man beispielsweise auf eine Chili beißt und dann ganz scharf im Mund hat oder Rachen hat - der Körper kann nicht Angst haben und Schärfe abbauen gleichzeitig.
[00:00:18] Lenne Kaffka Ideen für ein besseres Leben haben wir alle. Aber wie setzen wir sie im Alltag um? In diesem Podcast treffen wir jede Woche Menschen, die uns verraten, wie es klappen kann. Willkommen zu Smarter leben. Ich bin Lenne Kaffka und heute skype ich mit Antonia.
[00:00:36] Antonia Wille Hallo, ich bin Antonia Wille, freie Journalistin und Bloggerin und jetzt auch Autorin. Ich habe ein Buch über meine Angststörungen geschrieben.
[00:00:43] Lenne Kaffka Als Kind hatte ich Angst davor, dass sich ein Einbrecher unter meinem Bett versteckt und beim Schwimmunterricht habe ich mich davor gedrückt, vom Drei-Meter-Turm zu springen. So was zu erzählen, fällt mir leicht. Ich war ja ein Kind. Aber auch Erwachsene haben Angst, und zwar richtig viele Erwachsene. Nur spricht kaum jemand drüber, um vor Freunden oder im Job nicht schwach zu wirken. Antonia hat aufgehört, sich mit ihrer Angststörung zu verstecken. Sie hat ein Online-Magazin gegründet, gibt Seminare, und wenn sich die Angst während eines Vortrags bei ihr mal wieder meldet, dann gibt sie es einfach zu. Denn Antonia ist sich sicher: Wir müssen unsere Ängste annehmen, um freier zu leben.
[00:01:17] Lenne Kaffka Hallo Antonia.
[00:01:19] Antonia Wille Hi!
[00:01:19] Lenne Kaffka Schön, dass wir sprechen können. Dass wir skypen, ist in diesem Format mittlerweile ganz normal. Bei dir hat's aber einen Grund, das hängt direkt mit unserem heutigen Thema zusammen: Angst. Du hast eine Agoraphobie mit leichter Panikstörung – würden Experten sagen. Kannst du mal für Laien erklären, was das bedeutet?
[00:01:36] Antonia Wille Genau. Ich habe eine Angststörung, und bei mir äußert sich diese so, dass es mir schwerfällt, alleine beispielsweise von München nach Hamburg zu fahren. Meine Angst bezieht sich quasi auf das Reisen, auf das Weg-Entfernen von meinem Zuhause. Alles, was so in München stattfindet oder in bekannten Umfeldern, ist für mich kein Problem. Aber sobald ich quasi auf Geschäftsreise gehen muss oder irgendwie einen Langstreckenflug ansteht, dann kommt die Angst. Und die äußert sich dann quasi mit Übelkeit, Zittern und Panikgefühlen.
[00:02:07] Lenne Kaffka Du hast deiner Angst auch einen Namen gegeben: Katja. Wieso?
[00:02:12] Antonia Wille Das war tatsächlich ein Rat meiner Therapeutin, die meinte, es würde mir helfen in Angstsituationen – beispielsweise wenn ich tatsächlich im Zug von München nach Hamburg sitzen würde – mit meiner Angst zu kommunizieren und dadurch ein bisschen Distanz hineinzubringen. Und auch nicht so machtlos der Angst gegenüber zu sein, weil wenn man in einer Angstsituation ist, fühlt sich das manchmal wirklich so an, als würde man von dieser Angst übermannt werden und, dass sie einen so einnimmt. Und wenn man dann in dieser Angstsituation natürlich nicht richtig mit dieser Angst spricht, sondern vielleicht in Gedanken, hilft es, so ein bisschen Abstand zu schaffen und auch wieder das Gefühl der Aktivität zu bekommen. Man ist nicht so dieser Angst passiv ausgeliefert, sondern kann dann sagen: "Katja, geh weg!", oder: "lass' mich bitte in Ruhe!", oder: "du brauchst heute nicht da sein, weil es geht mir ja gut".
[00:02:58] Lenne Kaffka Wie lange begleitet ich denn Katja schon in deinem Leben?
[00:03:01] Antonia Wille Katja ist schon ziemlich lange in meinem Leben. Ich würde sagen, so seitdem ich 14, 15 bin, ist sie da. Dass sie da ist, weiß ich aber so aktiv, glaube ich, erst so seitdem ich 16, 17 bin. Also als ich das erste Mal bei der Therapie war. Als ich so 14, 15 war, habe ich gemerkt, wenn ich auf Klassenfahrt fahren sollte oder wenn ich in Urlaub gefahren bin mit meiner Familie, dass mir dann ganz oft übel wurde oder ich schon zeitweise dann davor Angstgefühle hatte. Ich wollte da nicht mitfahren mit meinen Klassenkameradinnen und hab gemerkt irgendwie: Das ist jetzt nicht so typische Übelkeit, wie wenn man irgendwie zu viel Süßigkeiten in sich hineingestopft hat, sondern es war so eine ganz andere Übelkeit. So eine sehr nervöse Übelkeit. Und ich konnte dann auch nachts ganz oft schlecht nur schlafen. Und da habe ich gemerkt: Irgendwas stimmt nicht. Hab' das dann mit meiner Familie besprochen und die haben dann auch relativ schnell gemerkt, dass es nichts Physisches, sondern wahrscheinlich was Psychisches war.
[00:03:54] Lenne Kaffka Wie ist das denn bei deiner Angst? Kommt die dann ganz plötzlich? Ist die immer so leicht da? Merkst du sie aus der Ferne kommen?
[00:03:59] Antonia Wille Meine Angst ist tatsächlich im Alltag nur sehr selten da, sondern sie ist eben sehr situationsbezogen. Das heißt, wenn Reisen anstehen oder wenn ich beispielsweise auch in der U-Bahn im Tunnel stehe. Also in Situationen, wo ich auch nicht so gut weg kann und nicht weiß, wann ich theoretisch wieder nach Hause kann, also wenn mir die Kontrolle so ein bisschen genommen wird. Sie kündigt sich quasi in den Situationen an. Wenn ich eine Fernreise machen würde, könnte es auch sein, dass ich quasi schon so zwei, drei Tage vorher so angespannt wäre und merken würde: Diese kleinen Angstgedanken schleichen sich in meine Vorfreude mit ein. Mittlerweile habe ich aber natürlich gelernt, damit umzugehen und fahre dann trotzdem in den Urlaub oder fahre trotzdem mit der U-Bahn.
[00:04:44] Lenne Kaffka Wie ist denn das, ist Katja jetzt auch gerade da?
[00:04:44] Antonia Wille Nein. Gott sei Dank nicht.
[00:04:44] Lenne Kaffka Also ist es gut, dass du nicht nach Hamburg gefahren bist
[00:04:50] Antonia Wille Genau! Gerade bin ich sehr entspannt und sie war jetzt auch schon länger nicht mehr da, ja.
[00:04:54] Lenne Kaffka Jetzt kann man natürlich sagen: "Angst, klar, kennt jeder", "Angst kann was Positives haben", "Angst kann unsere Sinne schärfen", "sie kann unser Leben retten". Aber bei dir ist das ja so ein bisschen anders. Das ist ja eine krankhafte Form der Angst. Solche Gefühle kennen eben nicht alle. Was unterscheidet denn Angst – wie sie vielleicht alle kennen – von einer Angststörung?
[00:05:14] Antonia Wille Angst ist an sich, wie du gesagt hast schon, ein sehr natürliches Gefühl, was wir alle kennen. Und Angst hat an sich auch erst mal einen Nutzen für uns, weil wir dadurch nicht permanent in Gefahren geraten. Also, früher hat uns die Angst vor dem Säbelzahntiger beschützt. Heute ist es vielleicht die Angst, die uns davor beschützt, irgendwie zu übermütig, irgendwie über eine viel befahrene Autobahn zu rennen oder so. Weil wir wissen, da lauert Gefahr. Bei mir ist es so, die Angst hat sich quasi in Situationen eingeschlichen, die für uns ja nicht gefährlich sind. Das heißt, wenn ich in der U-Bahn im Tunnel stehe, passiert ja per se erst mal nichts. Und trotzdem bekomme ich die Gefühle der Angst und dieser ganze körperliche Mechanismus setzt ein – wie dass ich auf die Flucht gehen will. Mein Herz schlägt schneller, ich zittere, mir wird schlecht, Schweiß bricht aus, mir wird warm, heiß, kalt – alles zusammen. Das Atmen fällt schwer. Und das ist quasi eine übersteigerte Form der Angst, die sich quasi in Situationen manifestiert hat, die eben für alle anderen nicht gefährlich sind. Ich habe sie aber quasi mit einer Gefahrensituation verknüpft. Es gibt ja auch Leute, zum Beispiel, die einen Autounfall hatten und dann Angst vom Autofahren haben, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder einen Unfall haben, ja auch sehr gering ist. Das heißt, die Angst besetzt dann Situationen, wo man eine schlechte Erfahrung gemacht hat.
[00:06:33] Lenne Kaffka Also ein traumatisches Erlebnis quasi?
[00:06:35] Antonia Wille Absolut, genau.
[00:06:36] Lenne Kaffka Du hattest auch ein traumatisches Erlebnis...
[00:06:38] Antonia Wille Mhm.
[00:06:38] Lenne Kaffka Du beschreibst es auch in dem Buch, es war eine Panikattacke deiner Mutter. Ich glaube, du warst elf Jahre alt.
[00:06:43] Antonia Wille Genau.
[00:06:43] Lenne Kaffka Eine Situation, die dich überfordert hat. Magst du nochmal beschreiben, was damals passiert ist?
[00:06:48] Antonia Wille Wir kommen aus dem oberbayerischen Voralpenland und waren quasi bei Freunden zu Besuch. Und auf der Heimfahrt hat meine Mutter eine Panikattacke im Auto bekommen und konnte nicht weiterfahren. Und ich, als Elfjährige musste quasi ihr helfen, musste vor Ort in München – in der fremden Großstadt für mich ja – Leute suchen, die uns geholfen haben, weil meine Mutter umzukippen drohte. Das war für mich als Elfjährige ein unfassbar traumatisches Erlebnis, weil ich mich so allein gefühlt habe in dieser fremden Stadt mit fremden Leuten. Und ich habe quasi diese Situation aufgenommen, als "wenn man nicht zu Hause ist, droht Gefahr" sozusagen. Und hab' das dann später quasi als Angst bei mir in meinem Leben manifestiert.
[00:07:29] Lenne Kaffka Ich nehme an, das hast du in deinen Therapien über dich gelernt.
[00:07:32] Antonia Wille Genau, das habe ich in der Therapie gelernt oder herausgefunden.
[00:07:36] Lenne Kaffka Hinter Angststörungen stecken aber glaube ich nicht immer nur traumatische Erlebnisse, oder?
[00:07:40] Antonia Wille Absolut. Hinter Angststörungen müssen nicht zwingend traumatische Erlebnisse stecken. Es gibt ja auch beispielsweise Phobien, die sich entwickeln, ohne dass man genau weiß, woher. Ganz klassisches Beispiel vielleicht auch eine Spinnenphobie, die übersteigert ist, weil man einfach diese Tiere furchtbar eklig findet. Da muss man nicht zwingend einmal in eine riesige Vogelspinne gefasst haben, was ja hierzulande auch sehr unwahrscheinlich ist, sondern man findet es einfach ganz furchtbar. Und das kann sich auch hochsteigern. Man muss auch ein bisschen unterscheiden. Es gibt sicherlich Phobien und Angststörungen, die weniger einschränkend im Leben sind. Ich sag jetzt mal, wenn man hierzulande lebt und wahnsinnige Angst vor Schlangen hat, kann man ganz gut durchs Leben gehen. Dann meidet man vielleicht den Zoo oder das Schlangenhaus im Zoo und geht sonst nur so in den Zoo und guckt sich andere kuscheligere Tiere an. In meinem Fall beispielsweise ist es aber schon eine Angststörung, die natürlich einschränkend ist, weil ich eben nicht einfach so in den Flieger nach New York steigen kann, ohne dass ich irgendwie mit Übelkeit oder Nervosität zu tun habe.
[00:08:41] Lenne Kaffka War das dann auch der Punkt, an dem du dir gedacht hast, dass du professionelle Hilfe brauchst? Also als du gemerkt hast, es schränkt dich wirklich in deinem Leben ein?
[00:08:47] Antonia Wille Absolut. Ich habe halt als Teenagerin schon gemerkt, ich möchte eigentlich nicht mit Tränen jedes Mal auf Klassenfahrt gehen. Ich möchte auch mit Freundinnen und Freunden wegfahren können und möchte nicht im Vorfeld schon tagelang mit Übelkeit oder Anspannung zu kämpfen haben. Und das allein hat mich schon so eingeschränkt, dass ich gesagt habe, ich möchte da auf jeden Fall professionelle Hilfe haben. Ich möchte auch herausfinden, woran es liegt und wie ich damit umgehen kann.
[00:09:13] Lenne Kaffka Du warst bei insgesamt vier Therapeuten, hast auch gar nicht nur positive Erfahrungen gemacht.
[00:09:18] Antonia Wille Genau.
[00:09:19] Lenne Kaffka Trotzdem finde ich, liest sich dein Buch so ein bisschen wie ein Plädoyer dafür, zu einer Therapie zu gehen, eine Therapie zu machen. Wann würdest du den Menschen mit Angst dazu raten? Und vielleicht auch warum?
[00:09:28] Antonia Wille Ich würde allen Menschen, die merken, dass sie Ängste haben, die dazu führen, dass sie Dinge nicht mehr tun – sei es, weil sie dann nicht mehr U-Bahn fahren oder nicht mehr mit dem Auto fahren oder vielleicht soziale Treffen vermeiden oder alle Ängste, die einen irgendwie einschränken und die dazu führen, dass man Dinge nicht mehr tut, die man eigentlich gerne tun möchte. Wenn man merkt, die Angst belastet einen, weil man doch gedanklich sehr oft daran hängt, dann würde ich allen Menschen dazu raten, sich professionelle Hilfe zu holen. Weil im Grunde finde ich, ist es immer besser, wenn man sich eingesteht, da muss etwas bearbeitet werden. Das ist für mich eher ein starker Moment und kein schwacher Moment, weil man ja merkt, es gibt etwas zu tun, und ich ändere etwas dagegen. Und vor allen Dingen ist es bei Ängsten und Panikattacken so: je eher, desto besser. Weil je eher man daran arbeitet, desto eher führt das dazu, dass man die ganzen Ängste vielleicht ablegen kann.
[00:10:21] Lenne Kaffka Ich habe immer das Gefühl, dass viele Leute noch sehr ablehnend auf Therapien reagieren. Dass sie immer so sagen: "Das ist was für Gestörte, für Kranke".
[00:10:29] Antonia Wille Absolut.
[00:10:29] Lenne Kaffka Fiel dir das gleich leicht, diesen Schritt zu gehen?
[00:10:31] Antonia Wille Tatsächlich muss ich sagen, fiel es mir an sich schon leicht. Ich komme aus einer sehr kommunikativen Familie, auch aus einer Familie, wo Therapie nichts Verpöntes war. Nach außen hin muss ich aber sagen, – wie gesagt, ich komme aus dem oberbayerischen Land, es war Anfang der 2000er – da waren Themen wie mentale Gesundheit oder psychische Erkrankungen noch nicht so öffentlich. Und auch ich habe das tatsächlich meinen Freundinnen und Freunden aus der Schule nicht erzählt. Also ich bin in Freistunden zur Therapie gegangen und habe gesagt; ich helfe meinem Opa bei irgendetwas, weil es mir unangenehm war. Ich bin aber froh, dass wir heute, knapp 20 Jahre später, an dem Punkt sind, wo es vielleicht nicht mehr ganz so verpönt oder stigmatisiert ist, weil ich eben finde, Therapie ist super hilfreich. Es ist auch einfach in anderen Ländern beispielsweise ganz gewöhnlich, dass man zur Therapie geht, wie in den USA beispielsweise, wo fast jeder Zweite sagt, ich spreche mit meinem Therapeuten oder meiner Therapeutin.
[00:11:26] Lenne Kaffka Hast du eigentlich auch noch Dinge, über deine Ängste hinaus, über dich gelernt?
[00:11:29] Antonia Wille Ich habe gelernt, dass meine Angst eben zwar in den Situationen kommt, aber eigentlich für mich so ein kleiner Brandmelder, Warnmelder ist, würde ich sagen. Sie kommt meistens dann, wenn ich eh schon sehr gestresst bin in meinem Leben. Ich bin freiberufliche Journalistin und dadurch natürlich permanent irgendwie online, arbeite super viel, hab noch ein ausgiebiges Freizeit- und Privatleben und übersehe dann schnell mal, dass ich Pausen brauche. Mein Anspruch ist sehr hoch, habe ich in der Therapie gelernt. Und dadurch, wenn ich merke, mein Körper meldet mir schon Dinge wie, ich schlafe nicht mehr so gut, oder ich bin irgendwie angespannt oder mein Nacken schmerzt oder so, dann neige ich trotzdem dazu, diese Dinge zu übergehen und weiterzumachen. Und immer dann, wenn ich quasi nicht selber auf mich hören kann, kommt Katja, meine Angst, und sagt quasi mit einem riesigen roten Warnschild: "Stopp, es reicht".
[00:12:25] Lenne Kaffka Du hast doch vieles ausprobiert und der klassische Weg ist eigentlich bei Angststörungen immer eine Verhaltenstherapie bzw. eine Konfrontationstherapie. Blöd gesagt: Man stellt sich seinen Ängsten, begleitet durch einen Therapeuten. Bei dir hat das nicht so wirklich gut funktioniert. So klang es zumindest in deinem Buch. Was glaubst du, woran das lag?
[00:12:43] Antonia Wille Die Konfrontationstherapie oder Verhaltenstherapie hat einerseits schon gut funktioniert, würde ich sagen. Andererseits hat sie auch dazu geführt, einfach weil ich so super ehrgeizig bin, dass ich mich auch dort überfordert habe. An sich würde ich sagen, die Konfrontationstherapie ist das erste Mittel bei Ängsten. Man stellt sich der Situation und macht das so lange, bis man merkt, es kann gar nichts passieren in der Situation. Selbst wenn dir am Anfang schlecht wird, es passiert nichts. All die Katastrophengedanken, die man hat – dass man umkippt, hilflos ist, nicht mehr alleine nach Hause kommt – sind nicht eingetreten. Und mir hat es kurzfristig immer sehr gut geholfen. Langfristig war es aber so, dass ich irgendwie das Gefühl zu mir verloren habe. Also immer wenn mir dann schon im Vorfeld schlecht war, bin ich trotzdem in die U-Bahn, bin ich trotzdem wohin gefahren, bin ich zum nächsten Termin. Nur, manchmal war es nicht die Angst, sondern ich war wirklich krank, und ich wusste irgendwann nicht mehr: Bin ich jetzt krank? Darf ich mir quasi diese Auszeit gönnen und daheim bleiben, weil ich wirklich krank bin? Weil ich irgendwie gerade Magen habe oder ich heute nicht so fit bin, nicht so gut drauf? Oder ist es jetzt die Angst, und ich muss dagegen arbeiten? Und das hat dazu geführt, dass ich eigentlich wirklich so zehn Jahre lang komplett nur konfrontiert habe, was aber in der Summe meines stressigen Lebens dazu geführt hat, dass halt irgendwann gar nichts mehr ging, weil ich halt gar nicht mehr wusste, wo oben und unten ist und wie es mir wirklich eigentlich geht. Und dann bin ich zu einer Psychoanalyse gegangen. Und der Therapeut arbeitet natürlich auch mit verhaltenstherapeutischen Mustern und hält mich natürlich auch an, immer wieder mich in Angstsituationen zu begeben. Aber er hat mir eben auch beigebracht, dass es eben Tage gibt, wo man sich vielleicht auch einfach nicht konfrontieren kann und sollte. Das heißt, wenn ich eine 50-Stunden-Woche hinter mir habe, ist es vielleicht nicht die beste Idee, am Samstag dann auch noch eine super Konfrontation zu machen, weil mein Energielevel eh schon super niedrig ist. Indem ich lerne, mehr darauf zu achten, kann ich auch mehr Zeiten schaffen, wo ich dann eben die Energie habe, mich zu konfrontieren. Ich konnte so lernen, dass, auch wenn ich mal vermeide, indem ich sage, heute ist kein guter Tag für Konfrontation, ist das aber keine Vorhersage für mein ganzes Leben. Nur weil ich einen Tag lang mal vielleicht der Angst in Anführungsstrichen "stattgebe", heißt das nicht, dass die Angst über mein ganzes Leben bestimmt, sondern nur an dem Tag habe ich halt keine Energie, mich zu konfrontieren.
[00:15:05] Lenne Kaffka Du beschreibst ja auch, dass du dich nicht allen Therapeuten gleich gut öffnen konntest. Wie findet man denn eigentlich einen für sich passenden Therapeuten? Weil ich finde, dass man schon bei einer Arztbesuche extrem schwer. Wenn ich mir vorstelle, ich muss irgendjemandem mein Leben quasi erzählen. Wie hast du das für dich herausgefunden?
[00:15:23] Antonia Wille Ich glaube das Wichtigste ist auch hier, auf sein eigenes Bauchgefühl zu hören. Bei allen Therapeuten und Therapeutinnen, wo ich gemerkt habe, es fällt mir schwerer, mich zu öffnen oder wir haben keine gute Kommunikation, habe ich das relativ schnell schon gemerkt. Das Gute ist ja in Deutschland, dass man oft so erste Stunden hat, wo man sich ein bisschen kennenlernt, wo auch der Therapeut oder die Therapeutin sagen kann, ob sie glauben, dass es Sinn macht, dass man zusammenarbeitet. Das Problem ist aber eben auch in Deutschland, dass die Therapeutinnen- und Therapeutensuche so schwierig ist und man ganz oft lange warten muss. Und wenn man dann jemanden hat, ist man sehr froh, dass man jemand hat. Und dann fällt es natürlich umso schwerer, wenn man merkt, mit dem matche ich jetzt irgendwie doch nicht so gut und dann zu sagen, ich suche mir doch noch mal jemand anderen. Sondern man ist ja oft dann schon an dem Punkt, dass man einfach nur froh ist, jemand zu haben. Ich würde sagen, dass man auf jeden Fall gucken soll: Kann ich mit dem gut reden, fühle ich mich hier wohl? Kann ich mich öffnen? Versteht er mich, sind wir auf einer Wellenlänge? Und dafür braucht man aber auf jeden Fall ein, zwei, drei Stunden.
[00:16:27] Lenne Kaffka Aber matchen und auf einer Wellenlänge heißt jetzt wahrscheinlich nicht, dass man immer einer Meinung sein muss oder? Weil es ist ja wahrscheinlich auch wichtig und richtig, dass man sein Verhalten gespiegelt bekommt, dass man in die Diskussion geht, dass man auch nicht unbedingt einer Meinung ist, oder?
[00:16:38] Antonia Wille Absolut. Der Therapeut ist wahrscheinlich ganz oft nicht der eigenen Meinung. Und das ist auch gut so. Es geht jetzt eher darum, dass man das Gefühl hat, man fühlt sich wohl, und man fühlt sich verstanden im Sinne von: Er erkennt das Problem und hört einem zu und gibt einem gute Impulse. Und es endet nicht in einer Art Streitgespräch oder in einer Diskussion, wo man das Gefühl hat, man steckt in einer völlig fatalen Beziehung und kommt nicht mehr irgendwie raus, so.
[00:17:04] Lenne Kaffka Du hast jetzt eben auch schon die Wartezeiten angesprochen, die sind ja wirklich ein Problem. Wie lange musstest du denn warten?
[00:17:09] Antonia Wille Ich hatte tatsächlich immer wahnsinniges Glück. Ich musste nur am Land relativ lange warten. Also die Therapeuten- und Therapeutinnen-Abdeckung im Land ist, glaube ich, noch katastrophaler als in der Stadt. In München hatte ich tatsächlich immer Glück, weil ich ganz oft eine E-Mail geschrieben habe und dann relativ schnell dran gekommen bin. Aber das ist absolute Glückssache. Ich kenne ganz viele Fälle, in denen Leute wirklich monatelang warten mussten und dann einfach nur froh waren, jemanden zu haben.
[00:17:39] Lenne Kaffka Ich stelle mir das gar nicht so leicht vor, wenn jetzt der Leidensdruck schon ziemlich hoch ist. Weil ich hab' jetzt zum Beispiel Höhenangst; okay, bleib ich halt 'ne Weile unten, das ist jetzt nicht so das Ding. Aber bei dir ist es ja schwieriger bei deiner Phobie, denke ich mal, ne? Hast du da irgendwelche Mechanismen gehabt, dir in der Zwischenzeit zu helfen?
[00:17:57] Antonia Wille Das Problem ist absolut, dass der Leidensdruck ja je länger man keine professionelle Hilfe hat, umso größer wird. Und bei Ängsten eben dann natürlich der erste Impuls ist, einfach zu vermeiden, sich nicht mehr in die Angstsituation zu begeben – und ohne therapeutische Hilfe führt es dann dazu, dass man immer weniger macht. Mir hat es geholfen, viele Bücher darüber zu lesen und schon mal so eine gewisse Sichtweise zu bekommen, was hilft bei Ängsten? Und dann Schritt für Schritt mich in die Angstsituation zu begeben. Und wie gesagt, auch nett zu mir zu sein, weil man eben dazu neigt, dann zu sagen: "Das kann doch jetzt wohl nicht sein!", und "das muss doch jetzt gehen!" Aber man muss sich immer überlegen, wie würde man mit Freunden oder Freundinnen reden? Man würde denen ja auch nicht sagen: "Du musst jetzt unbedingt U-Bahn fahren und wenn du nie wieder U-Bahn fährst, bist du der größte Verlierer aller Zeiten". Das würde niemand einem sagen. Man würde sagen: "Hey, dann fährst halt nur eine Station, und wenn es nicht geht, steigst du aus". Und so kann man vielleicht sich so durch so Zeiten retten. Das Problem ist tatsächlich eben, dass der Leidensdruck ja immer größer wird und dadurch, dass Therapie hierzulande immer noch so stigmatisiert ist, viele Leute sich ja auch erst für eine Therapeutensuche entscheiden, wenn der Leidensdruck schon sehr groß ist. Und wenn man dann auch noch warten muss, ist es schwierig. Was viel Druck nimmt, ist darüber zu reden, einfach offen darüber zu reden und Menschen in seinem engen Umfeld einzuweihen. Zu sagen: "Irgendwas stimmt nicht, irgendwie fühlt sich das nicht so gut an. Kannst du mir helfen? Kannst du mich vielleicht auch mal begleiten zu wichtigen Terminen?". Einfach sich ein Netz zu spannen, das einen so ein bisschen auffängt abseits des Therapeuten. Die Freunde und Freundinnen oder Familie sollen einen nicht therapieren, aber sie können einen durch diese schwere Zeit tragen. Und das geht nur mit Offenheit, natürlich.
[00:19:39] Lenne Kaffka Das ist eigentlich guter Punkt, den du ansprichst. Wenn wir das mal umdrehen, weil viele Leute öffnen sich ja eben nicht den Freunden. Gerade bei irrationalen Ängsten, finde ich, ist es ja auch als Außenstehender nicht immer leicht, sich so in Betroffene hineinzuversetzen. Wenn ich jetzt merke in meinem Umfeld, da geht es jemandem nicht gut, vielleicht hat er auch gerade akut eine Angstattacke oder so – wie reagier' ich denn dann am besten? Was würdest du dir wünschen in so einer Situation?
[00:20:02] Antonia Wille Wenn jemand merkt, dass es mir nicht gut geht, ist es immer gut, wenn er das natürlich anspricht und fragt, wie es mir wirklich geht, ob er etwas tun kann. Meine Erfahrung war, dass ich, wenn ich dann ganz offen über meine Angsterkrankung gesprochen habe, dass viele Leute auch natürlich erst einmal – wie du sagst – weil es irrationale Ängste sind, das nicht verstehen konnten. Und das Schlimmste ist für jemanden, der mit Ängsten zu tun hat, dass die Leute einem versuchen, die Angst abzusprechen. Wenn ich jetzt beispielsweise in der U-Bahn mit jemanden fahre und die bleibt im Tunnel stehen, und ich überwinde mich schon zu sagen: "Puh, das ist jetzt für mich irgendwie schwierig, und ich habe jetzt Angst, mir wird schlecht". Wenn jemand dann sagt: "Hä, muss man doch keine Angst haben" – weil das weiß ich selber. Und das ist ja das Problem, dass ich es weiß. Und trotzdem auf der emotionalen Ebene fühlt es sich gerade ganz fürchterlich an. Das heißt, Freunde und Familie können am besten helfen, indem sie meine Ängste ernst nehmen und indem sie quasi die wahrnehmen und auch denen eine Berechtigung geben. Man kann sagen: "Ich möchte dir helfen, was kann ich tun?" Und dann hab ich auch die Entscheidungsfreiheit zu sagen: "Ja, mir hilft es jetzt, wenn du mit mir redest" oder "mir hilft es, wenn du mir ein Wasser holst" oder "wenn wir kurz an die frische Luft gehen".
[00:21:16] Lenne Kaffka Also einfach unterstützen, quasi...
[00:21:16] Antonia Wille Unterstützend da sein und, ja, dem Angsterkrankten oder der Angsterkrankten einfach Raum geben und auch Zeit geben, weil wenn jemand einen auch in dieser Angstsituation so zuballert mit Worten oder sagt: "Brauchst jetzt keine Angst haben" und "ist doch nicht schlimm" und "es gibt viel Schlimmeres". Ja – das erzeugt nur Druck, und man weiß ja selber, man fühlt sich eh schon schlecht genug, weil man ja weiß, das ist jetzt eine Situation, die für Hunderttausende Menschen völlig normal ist, die keine Angst haben. Und man selber fühlt sich ja eh schon total "verrückt", in Anführungsstrichen, dass man jetzt eben Angst hat.
[00:21:51] Lenne Kaffka Du hast dich ja früher auch mit deiner Angst versteckt. Wie wäre es denn damals für dich gewesen, wenn dich da einfach jemand direkt darauf angesprochen hätte und gesagt hätte: "Du, ich glaub, du hast eine Angststörung".
[00:22:00] Antonia Wille Das ist eine gute Frage. Ich glaube, dass ich tatsächlich das trotzdem erstmal abgestritten hätte oder sehr von mir gewiesen hätte, weil ich ganz lange eben die Angst gar nicht so zu mir und meinem Leben zählen wollte und die möglichst immer von mir weggeschoben habe. Vielleicht wäre ich aber auch froh gewesen, wenn jemand es direkt angesprochen hätte. Ich glaube, es ist halt immer noch so, dass man das Ganze mit so einer Wertung verbindet. Und da ist es natürlich ein Prozess, da hinzukommen zu sehen: "Ja, ich habe eine Angststörung, aber das macht meinen Wert als Menschen nicht aus, weil ich bin auch noch viel mehr als diese Angst, ich bin Journalistin, Freundin, Familienmitglied, bin sozial ganz aktiv und unterwegs". Also, die Angst ist ja nur ein minimaler Teil meines Lebens. Und trotzdem hatte man vielleicht am Anfang der Angsterkrankungen furchtbare Angst, dass die Leute in einem dann nur noch diese Angsterkrankung sehen und einen nur noch als "die mit der Angst" sehen. Und deswegen – es ist eine gute Frage. Ich glaube, es kommt eben ein bisschen darauf an, wer es gesagt hätte. Wenn jetzt beispielsweise ein Arbeitgeber das mir hingeknallt hätte, hätte ich es wahrscheinlich auf jeden Fall abgestritten und gesagt: "nein!" Aber vielleicht, wenn enge Freunde und Freundinnen etwas gesagt hätten, hätte ich vielleicht dann den Impuls gehabt, mich doch zu öffnen. Weil jetzt im Rückblick, heute an dem Punkt, wo ich ja sehr offen damit umgehe, merke, je mehr man sich öffnet, desto besser. Die Leute verstehen einen, und nehmen auch einen im Ganzen wahr. Man selber ist auch einfach authentischer, weil man eben so einen wichtigen, doch sehr einflussreichen Teil seines Lebens nicht mehr verheimlicht. Man kann ganz man selbst sein und man merkt, man ist gar nicht alleine. Weil ganz oft, wenn ich mich geäußert habe oder auch, als ich nur gesagt habe, ich schreibe ein Buch über Angst – da habe ich oft ganz low key angefangen – haben Leute ganz oft schon gesagt: "Was? Ach krass. Ja, ich habe auch manchmal Panikattacken. Gutes Thema". Und da habe ich gemerkt, okay, das Thema ist doch so verankert – nur niemand spricht darüber. Ich habe teilweise mit Leuten dann über ihre Panikattacken gesprochen, mit denen ich ganz oft schon Zeit verbracht hatte. Und wir wussten nicht voneinander, dass wir beide dasselbe Problem haben.
[00:24:06] Lenne Kaffka Angeblich hat jeder vierte Deutsche irgendwann mal im Laufe des Lebens mit einer Angststörung zu kämpfen. Was glaubst du, warum reden nur so wenige darüber? Was ist das Problem?
[00:24:15] Antonia Wille Ich glaube, wir leben immer noch in einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der es schwerfällt, Schwäche zuzugeben. In der, wenn man sagt, ich habe Angst, man als schwach wirkt oder man selber eben die Angst, hat man nicht mehr als der gesehen zu werden, der man ist. Natürlich, ich hatte auch Sorge, dass das irgendwie mich beruflich beeinflusst, dass die Leute mich nicht mehr ernst nehmen oder die Leute vielleicht für mich Entscheidungen dann treffen, wie, dass sie mir keine Projekte mehr geben, die vielleicht mit irgendeiner Reisetätigkeit verbunden sind, weil sie denken, das kann ich eh nicht machen. Aber es liegt ja immer an mir zu entscheiden. Aber das sind Ängste, die man halt im Vorfeld hat, die sich in meinem Fall beispielsweise überhaupt nicht bewahrheitet haben. Und ich glaube, es ist wichtig, dass wir offen darüber reden. Weil, wie du sagst: Jeder Vierte in Deutschland hat in seinem Leben mal eine Angsterkrankungen, und es ist quasi fast schon was Normales. Und indem jeder das für sich so austrägt, ist es so viel schwerer, und es erzeugt so viel Druck. Und wenn man aber wüsste, man kann ganz offen zugeben, man hat eine Angsterkrankung, oder man hat andere mentale Probleme, dann würde man merken, man ist überhaupt nicht alleine. Und ich finde immer noch, man kann in bestimmten Lebensbereichen schwach sein und trotzdem ja in ganz vielen anderen Lebensbereichen super stark sein. Das schließt sich in keinster Weise aus und ich glaube, das ist auch das normale Mensch sein, weil man eben nicht 24/7 immer nur happy ist und Leistung bringt, sondern auch manchmal Tage hat, wo es einem nicht so gut geht.
[00:25:40] Lenne Kaffka Ich meine, du gehst ja jetzt nicht nur offen mit einer Krankheit um. Du bist ja mit dem Buch sogar an die Öffentlichkeit getreten. Wie ist dir denn das gelungen? Weil ich es ist dir ja früher auch schwergefallen. War der Leidensdruck bei dir so groß? Was war der Auslöser?
[00:25:53] Antonia Wille Der Leidensdruck war nicht so groß, dass ich dachte: "Jetzt hau' ich es mal raus". Das war absolut ein Prozess. Ich habe irgendwann gemerkt, es geht mir besser, wenn ich offen darüber rede. Es geht mir vor allen Dingen besser auch in Angstsituationen, wenn ich mit Leuten unterwegs bin, die einfach Bescheid wissen. Dann mache ich mir keinen innerlichen Druck, weil ich weiß, wenn ich jetzt sage mir ist schlecht, muss ich mich nicht erst stundenlang erklären. Warum, wieso, weshalb, sondern meine Freunde und Freundinnen wissen Bescheid und können dementsprechend reagieren. Und Schritt für Schritt habe ich gemerkt, es gibt aber in meinem äußeren Umfeld wie im beruflichen Umfeld oder auch im medialen Umfeld so wenig positive Beispiele. Und wenn über Angsterkrankungen gesprochen worden ist oder über Panikattacken, waren es ganz oft so super negative Beispiele, so Leute, die seit Jahren nicht mehr das Haus verlassen haben oder wochenlang nur an die Decke starren. Und ich dachte mir, das entspricht halt gar nicht meinem Leben. Weil ich arbeite ganz normal, ich bin viel unterwegs. Und habe halt trotzdem manchmal Angst und Panikattacken und habe mir immer gewünscht, es bräuchte irgendwie so positive Vorbilder, damit man merkt, die Masse der Erkrankten ist wahrscheinlich eher wie ich, die eigentlich so high-functional durchs Leben gehen und trotzdem strugglen an bestimmten Punkten. Nachdem es keine positiven Vorbilder gab und ich schon so weit war in meinem Offenheitsprozess, habe ich irgendwann gedacht, naja, ich schreibe gerne und möchte vielleicht auch einfach irgendwann zu hundert Prozent authentisch damit umgehen und nicht nur im engen Familienkreis oder Freundinnenkreis.
[00:27:24] Lenne Kaffka Ja, wer dich neu kennenlernt, und googelt, der weiß es jetzt sofort.
[00:27:26] Antonia Wille Absolut, genau. Und somit muss ich nichts mehr verheimlichen. Und wer mich aufgrund des Buches oder aufgrund der Geschichte nicht kennen lernen will, passt dann wohl auch nicht zu mir.
[00:27:36] Lenne Kaffka Gut vorausgewählt.
[00:27:36] Antonia Wille Genau.
[00:27:39] Lenne Kaffka Du bist ja nicht nur Journalistin und Bloggerin, du hältst auch Vorträge über Social Media als Dozentin. Und auch da gehst du ganz offen mit deiner Angst um. Was sagst du dann den Teilnehmern?
[00:27:47] Antonia Wille Ich habe irgendwann gemerkt eben, je offener ich damit umgehe, auch im beruflichen Umfeld, desto weniger Druck habe ich. Und dann funktioniert das ganz gut. Und deswegen bin ich dann, wenn ich Vorträge gehalten habe oder als Dozentin irgendwo aufgetreten bin, ganz am Anfang in den Raum und habe dann meist nicht gleich gesagt: "Übrigens, ich leide an einer Angststörung", sondern ich habe dann gesagt: "Leute, ich bin heute irgendwie nervös, wenn ich jetzt aus dem Raum renne, weil mir schlecht wird, wundert euch nicht". Und das Ganze hat einfach super viel Druck genommen. Weil ich selber mir innerlich so den Druck gemacht habe, Ich muss jetzt funktionieren, mir darf jetzt nicht schlecht werden, ich darf jetzt keine Panikattacke bekommen. Und indem ich das so offen angesprochen habe und mir quasi so eine Art Hintertürchen offengelassen habe, dass ich wusste, wenn ich jetzt raus renne, sitzen sie nicht alle da und denken sich: "Hä?", sondern wissen "Okay, der ist jetzt schlecht geworden". Dadurch wurde ich entspannter, und ich bin nie raus gerannt und habe ganz oft nach den Seminaren von Leuten gehört, dass sie meinten: "Man hat dir deine Nervosität gar nicht angemerkt und danke, dass du so offen über diese Schwäche, in Anführungsstrichen, gesprochen hast – das ist so stark".
[00:28:51] Lenne Kaffka Okay!
[00:28:51] Antonia Wille Also, die Leute haben es ganz positiv aufgenommen. Man hat dadurch gar nicht, was man ja denkt, irgendwie sich so schwach dargestellt und gleich mal so den super Downer in den Vortrag reingebracht, sondern im Gegenteil – die Leute waren eher angetan von dieser Offenheit.
[00:29:08] Lenne Kaffka Ja, wenn ich mir das jetzt vorstelle, ich bin in deinem Seminar, das baut ja auch gleich eine Nähe auf, ne?
[00:29:11] Antonia Wille Absolut, genau. Es baut Nähe auf und es zeigt auch, die da vorne ist jetzt nicht eine eiskalte Vortrags-Rednerin, sondern auch einfach Mensch. Und auch die ist aufgeregt vor Vorträgen.
[00:29:22] Lenne Kaffka Auch wenn du jetzt echt viele Wege gefunden hast, gibt es immer mal wieder Rückschläge. 2018 bist du nochmal in eine ziemlich dolle Krise geraten. Weißt du, was da der Auslöser war dafür?
[00:29:33] Antonia Wille Ich glaube die Jahre vor 2018 waren super anstrengend. Da bin ich einfach wieder mal in mein Muster gefallen und habe einfach viel zu viel gearbeitet, viel zu wenig auf mich geachtet. 2018 im März war zwar die Krise, aber ich hatte schon im Oktober 2017 Panikattacken und hätte da schon quasi die Bremse reinhauen müssen und entspannen müssen und ein bisschen mehr auf mich achten müssen. Und habe trotzdem noch ein halbes Jahr lang weitergemacht mit Vollgas. Und irgendwann ging nichts mehr. Und dann musste ich wirklich sechs Wochen einfach mal ausbremsen und bin zu meiner Mutter aufs Land und habe entspannt. Und habe ganz langsam wieder gelernt, dass ich das Sagen habe und nicht die Angst.
[00:30:13] Lenne Kaffka Hast du dir auch mittlerweile so etwas wie so kleine Erste-Hilfe-Tools angeeignet, wenn die Angst mal wieder zu doll wird? Dass du in einer akuten Situation, irgendwelche Mechanismen hast, auf die du zurückgreifen kannst?
[00:30:23] Antonia Wille Absolut. In akuten Angstsituationen hilft mir vor allen Dingen das bewusste Atmen. Das ist ganz klassisch, würde ich mal sagen, weil man eben einen schnelleren Atem bekommt in Angstsituationen. Man zittert, man ist nervös und mir hilft es auf jeden Fall, wenn ich in akuten Angstsituationen gewisse Atemtechniken anwende, in denen man seinen Atem verlangsamt und ganz langsam tief und einatmen, weil das den ganzen Körper signalisiert. Es ist keine Gefahr da; wir sind in einem Entspannungsmodus.
[00:30:48] Lenne Kaffka Also so Achtsamkeitsübungen, quasi?
[00:30:49] Antonia Wille Genau, Achtsamkeitsübungen. Oder mir hilft es auch – und das wusste ich ganz lange nicht – Angst schüttet wahnsinnig viel Adrenalin aus, weil man dann quasi auf dem Weg zur Flucht ist. Das heißt, es hilft dabei, wenn man dann beispielsweise früher vor einem Säbelzahntiger stand, konnte man viel schneller rennen, weil das Adrenalin einem geholfen hat. Wenn ich beispielsweise in der U-Bahn bin und die Angst kommt und das Adrenalin wird ausgeschüttet, kann ich ja nicht durch die U-Bahn rennen. Da hilft es eben, wenn man sich dann trotzdem bewegt, also wenn man beispielsweise dann zumindest sich ein bisschen bewegt oder Treppen steigt. Oder wenn man jetzt in einem Büro oder bei einem Termin Angst bekommt, dass man dann kurz auf die Toilette geht beispielsweise und 10 Hampelmänner macht, weil man dadurch einfach das Adrenalin abbaut. Und das Adrenalin sorgt eben auch dafür, dass man zittrig wird. Also einfach Bewegung in Angstsituationen hilft, weil man tatsächlich erst mal vor Angst erstarrt. Und das eigentlich eigentlich das Fatale ist. Man muss sich eigentlich dann bewegen und bisschen dieses Adrenalin abbauen. Und ansonsten, mein kleiner Geheimtipp ist noch, was Scharfes essen.
[00:31:48] Lenne Kaffka Okay, weshalb?
[00:31:49] Antonia Wille Wenn man beispielsweise auf eine Chili beißt und dann Schärfe im Mund hat oder Rachen hat – der Körper kann nicht Angst haben und Schärfe abbauen gleichzeitig. Das hilft mir dann tatsächlich in ganz akuten Situationen. Dann hat man zwar Schärfe im Mund und schwitzt vielleicht auch aber man hat dann nicht mehr so Angst.
[00:32:07] Lenne Kaffka Also Schärfe ist für den Körper noch unangenehmer als Angst. Und deswegen kümmert der sich darum.
[00:32:09] Antonia Wille Offensichtlich.
[00:32:10] Lenne Kaffka Okay. Gibt es heute noch so Situationen für dich, wo du sagst, die musst du einfach vermeiden? Die sind zu schlimm für dich. Also, anscheinend ja teilweise berufliche Geschäftsreisen. Also wir sitzen jetzt ja nicht in einem Raum...
[00:32:24] Antonia Wille Ich glaube, ich kann heute ganz gut realistisch einschätzen, was machbar ist und was nicht machbar ist. Ich wäre auch gerne nach Hamburg gekommen. Dann hätte ich halt vielleicht jemanden mit eingepackt. Wenn ich nicht alleine bin, ist es auch nochmal immer einfacher, als wenn ich ganz alleine irgendwo hinfahren oder fliegen müsste. Ich bin aber so realistisch, dass ich wahrscheinlich nicht nach Australien fliege. Also so ein 24 Stunden-Flug mit Umsteigen, das wäre mir jetzt einfach zu heftig.
[00:32:51] Lenne Kaffka Aber da hilft auch der Zeitgeist gerade. Nach Australien fliegen ist eh nicht mehr so.
[00:32:56] Antonia Wille Genau, mein ökologischer Fußabdruck ist super, und ich sage auch, sag niemals nie. Also, ich habe jetzt noch nie so einen richtigen Langstreckenflug hinter mich gebracht und sehe das jetzt auch in naher Zukunft irgendwie nicht. Weil ich wüsste, ich könnte es schon machen, es wäre nun wahnsinnig viel Stress damit verbunden. Das heißt, ich wäre davor gestresst ist, ich wäre beim Fliegen super angespannt, mir wäre elendig und ich wäre dann zwar vor Ort und würde mich irgendwann auch akklimatisieren und es schön finden. Aber dann, drei Tage vor dem Abflug, wäre ich wieder gestresst und der Flug zurück wäre wieder Stress. Und das ist es mir irgendwie nicht wert.
[00:33:30] Lenne Kaffka Wie ist eigentlich die aktuelle Situation für dich, in der ganz viel über Ängste geschrieben, über Ängste gesprochen wird, in der auch vieles in die eigene Wohnung verlagert wird? Das Homeoffice könnte dir ja einerseits Dinge erleichtern, andererseits ist ja auch die Gefahr, dass du vielleicht noch mehr vermeidest oder nicht?
[00:33:46] Antonia Wille Genau, das ist eine ambivalente Situation. Einerseits, glaube ich, bin ich ganz gut durch die Situation gekommen, weil ich anders als andere schon viele Werkzeuge an der Hand habe und ich natürlich nicht mit so viel Ängsten konfrontiert war, weil ich viel schon bearbeitet habe. Und ich glaube, ganz viele Leute, die vielleicht von heute auf morgen ausgebremst wurden und auch nicht mehr diese Ablenkungen im Außen finden konnten, wurden im Innen dann mit ihren eigenen Dämonen stärker konfrontiert als ich, die schon viel bearbeitet hat. Aber, wie du sagst, natürlich hat auch die Zeit der Coronakrise Spuren hinterlassen. Ich merke schon, dass ich einfach jetzt weniger unterwegs war, weil weniger im Außen stattgefunden hat. Weniger Termine, wo ich wöchentlich irgendwie herausgefordert wurde. Und es ist, wie es ist. Ich werde sobald das wieder alles normaler ist, wieder mehr konfrontieren, denke ich.
[00:34:34] Lenne Kaffka Du schreibst an einer Stelle deines Buches etwas erstaunlich Positives, dass du auch wegen deiner Angst als Mensch wächst und dich weiterentwickelst. Woran machst du das fest?
[00:34:44] Antonia Wille Ich glaube, es ist wichtig die Angst nicht nur als etwas Negatives zu sehen, weil wir alle sind nicht angstfrei. Es gibt niemanden von uns, der ohne Angst lebt. Bei mir ist sie noch stärker da, und ich habe aber gelernt, auch sie als etwas Positives zu sehen. Und ich habe irgendwann versucht, den Fokus darauf zu rücken, nicht was die Angst mir alles genommen hat, sondern was sie mir vielleicht auch gegeben hat. Sie hat auf jeden Fall dazu beigetragen, dass ich durch Therapie wahnsinnig viel über mich gelernt habe. Sehr viel auch über das Menschsein an sich, über Beziehungen, über Strukturen innerhalb Familien. Sodass ich manchmal das Gefühl habe, vielleicht einen weiseren Blick schon auf die Dinge bekommen zu haben. Was ja was Schönes ist. Und sie hat auch dazu geführt, dass ich netter zu mir bin, dass ich einfach mehr weiß, was ich heute will, was ich nicht will, dass ich eben realistisch einschätzen kann, was kann ich, was kann ich nicht? Sie hat dazu geführt, dass ich mich besser kennengelernt habe, und das ist ja was Schönes, und das ist, glaube ich, eine gute Sichtweise, mit der Angst umzugehen. Weil ich glaube, wenn ich jeden Tag nur darauf gucken würde, was sie mir genommen hat, was ich alles nicht mitmachen konnte, das würde dann dazu führen, dass ich noch trauriger und vielleicht sogar irgendwann depressiv werden würde. Deswegen finde ich, ist der Blickwinkel immer so eine Sache, die helfen kann, die Dinge auch in Relation zu setzen.
[00:36:09] Lenne Kaffka Wie es Antonia Wille gelungen ist, ihre Angst nicht mehr nur als Makel zu betrachten, sondern als Teil von ihr, das beschreibt sie in ihrem Buch "Angsthase. Warum ich meine Angst annehmen musste, um wieder frei und selbstbestimmt zu leben". Der Link steht wie immer in den Shownotes zu dieser Episode, und das war's für heute mit Smarter leben. Die nächste Folge gibt es dann ab kommendem Samstag auf spiegel.de und überall, wo es Podcasts gibt – zum Beispiel bei Spotify oder Apple Podcasts. Bei Anregungen oder Themenvorschlägen: Einfach eine Mail schreiben an smarterleben@spiegel.de. Diesmal wurde ich unterstützt von Philipp Fackler und Yasemin Yüksel. Unsere Musik kommt von audioBOUTIQUE. Tschüss, bis zum nächsten Mal.
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