Ich lüge in jeder erdenklichen Situation. Was ist mit mir los?
Dieser Beitrag wurde am 24.04.2018 auf bento.de veröffentlicht.
Markus, 21, fragt:
Ich habe ein Problem: Ich lüge mehr, als dass ich die Wahrheit sage. Ich weiß nicht wieso – aber ich lüge mir vor allen Menschen in meinem Umfeld eine Welt zusammen, die nicht existiert.
Es fing mit ein paar Geschichtchen an. Ich erzählte meinen Kollegen, dass ich am Wochenende super viel vorhabe, einen Kurztrip mit Freunden mache und ein schönes Barbecue... Die Kollegen bewunderten das und stellten Fragen. Einer wollte wissen, ob er auch kommen darf, da habe ich mich natürlich geehrt gefühlt.
Hilfe!
Jeder hat mal Angst und Stress. Jeder fühlt sich mal hilflos, machtlos, überfordert. Wenn Freunde, Eltern oder Geschwister nicht weiterhelfen können, wollen oder sollen – dann melde dich bei uns . Die Psychologin Kathrin Hoffmann beantwortet in der Serie Über-Ich für bento ausgewählte Fragen, die wir anschließend veröffentlichen. Dabei ändern wir selbstverständlich alle Namen von Betroffenen.
Das Wochenende hat es so allerdings nie gegeben. Doch als ich montags ins Büro kam, erzählte ich den anderen, wie toll es gewesen sei.
Seitdem lüge ich in jeder erdenklichen Situation. Die Leute denken von mir, dass ich ein Typ bin, der viel rumkommt, auf Partys ist... Ich bin Markus, der oft kocht, schon viele Freundinnen hatte, einen Tanzkurs gemacht hat.
Markus
Klingt super, stimmt nur nicht. Ich wünsche mir das alles, aber erlebe das Gegenteil. Habe kaum Freunde und Hobbys, bin ständig genervt davon, wie langweilig ich bin. Die Menschen, mit denen ich etwas enger bin, kennen mich zwar etwas besser – aber auch ihnen tische ich ständig was auf. Ich will nicht wie ein Loser rüberkommen, um den man sich sorgen muss.
Die Psychologin Kathrin Hoffmann antwortet:
Lieber Markus,
Lügen ist ja an sich etwas Alltägliches, jeder tut es hier und da mal, doch es kann sich eben auch verselbstständigen und zu einer Art Zwang werden. Meist ist das, genau wie bei dir, ein schleichender Prozess und der Übergang von normal zu krankhaft fließend.
Doch was steckt nun dahinter? Zum einen kann das Lügen als Kompensation eines mangelnden Selbstwertgefühls auftreten. Der Betroffene holt sich über das Erzählen von "tollen Geschichten" Aufmerksamkeit, Anerkennung und Beifall, um seinen eigentlich brüchigen Selbstwert zu stärken.
Mehr Notfälle? Hier:
Fragen an Psychologin Kathrin Hoffmann
Zum anderen kann es im Rahmen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung auftreten, bei der Betroffene sich durch das Lügen Vorteile verschaffen, meist auf Kosten anderer.
Bei dir scheint es sich um ein Selbstwertthema zu handeln. Du beschreibst ja, dass du dich selbst ziemlich langweilig findest und dich das nervt. Du willst, dass andere von dir denken, dass du ein toller Typ bist und dich vielleicht sogar beneiden.
Anerkennung und Wertschätzung sind wichtige Grundbedürfnisse, möglicherweise hat es dir schon früh daran gefehlt. Aus diesem Defizit heraus hast du eine scheinbar einfache Lösung für dieses Problem gefunden – ein Schein-Selbst, für das du lediglich immer wieder eine Geschichte erfinden musst.
Kathrin Hoffmann
Durch die Erfahrung, dass du dafür direkt positives Feedback bekommst, wirst du immer wieder in deinem Verhalten bestärkt. Einmal damit begonnen, gibt es kein leichtes Zurück mehr.
Die Kosten, die du dafür trägst, sind ständige Anspannung Erwischt-Werden, immer größere Einsamkeit und immer stärkere Entfremdung von dir selbst.
Kathrin Hoffmann
Was kannst du nun gegen dein ständiges Lügen tun?
- Zunächst musst du dir eingestehen, dass etwas schief läuft und dass das Lügen keine dauerhafte Lösung sein kann.
- Um das Lügen überflüssig zu machen, müsstest du die Überzeugung entwickeln, dass du okay bist und das Vertrauen aufbauen, dass andere dich auch okay finden.
- Dazu braucht es einerseits die Akzeptanz, dass du ein völlig normaler Typ mit individuellen Stärken und Schwächen bist.
- Aber auch eine persönliche Weiterentwicklung – also raus aus deiner Komfortzone, hin zu Dingen die dich interessieren, dir Spaß machen und dich als Menschen ausmachen.
- Das können eben auch Dinge sein, von denen du denkst, dass andere sie uncool finden.
- Du kannst versuchen, in kleinen Schritten zu üben, die Wahrheit zu sagen. Zum Beispiel beim nächsten Mittagessen ehrlich sagen, was du am Wochenende gemacht hast ("Ich war zu Hause und hab einfach nichts gemacht").
Wenn du einmal das Gefühl von "Ich mag mich so, wie ich bin" erlebst, wirst du es nie wieder gegen die oberflächliche Bewunderung für dein Schein-Selbst eintauschen wollen!
Alles Gute für dich!
Deine Kathrin