"Positive Fantasien sind ein Handicap" - die schlechte Seite von positivem Denken

Und wie wir lernen, aus unseren Träumen wirklich Realität zu machen.

Dieser Beitrag wurde am 01.04.2019 auf bento.de veröffentlicht.

Dank Internet, Social Media und YouTube können wir und rund um die Uhr in eine Vielzahl unterschiedlichster Welten und Lebensentwürfe träumen. Das klingt schön – kann aber gefährlich sein. 

Denn Forscher haben herausgefunden, dass positives Denken nicht immer so hilfreich ist, wie uns oft gesagt wird: Wenn wir nur von der Zukunft fantasieren ohne die Hindernisse der Realität im Auge zu behalten, kann die sogenannte mentale Simulation uns sogar davon abhalten, unsere Wünsche in die Tat umzusetzen. 

Gerade für Millennials, die erste Generation, die mit dem Überfluss an Ablenkungsmöglichkeiten klarkommen muss, ist das eine Herausforderung. 

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gabriele Oettingen, Psychologin an der Universität Hamburg über die Chancen und Gefahren von mentaler Simulation

Was bedeutet das für uns, wenn wir mehr Zeit in Gedanken verbringen als in der Realität? Können Videos uns dabei helfen, unsere Ziele zu erreichen oder bewirken sie eher das Gegenteil? 

Gabriele Oettingen: "Unsere Befunde zeigen, dass positive Gedanken und Tagträume über die Zukunft – also positive Zukunftsfantasien – funktional sind, etwa indem sie unsere Stimmung aufheitern. Aber wenn es darum geht, Wünsche tatsächlich umzusetzen, dann sind sie ein Handicap."

Wie genau hat sich das gezeigt?

"Bei jungen Leuten, die die Universität abschließen, haben wir beoachtet: Je positiver sie über einen erfolgreichen Übergang ins Berufsleben fantasierten, umso weniger Erfolg hatten sie später. Sie haben weniger Stellenangebote erhalten und weniger Geld verdient. Und sie haben auch weniger Bewerbungen rausgeschickt. Und bei Menschen, die in eine andere Person verknallt waren, hat sich gezeigt: Je mehr sie darüber fantasierten, mit dieser Person zusammenzukommen, desto geringer war die Chance, dass sie tatsächlich eine Liebesbeziehung begonnen haben."

Warum ist das so?

"Positive Zukunftsfantasien verleiten dazu, dass Leute den Eindruck haben, sie seien schon angekommen. Sie fühlten sich weniger energetisiert und über den systolischen Blutdruck konnten wir messen, dass sie sich tatsächlich entspannten."

Ist das nun gut oder schlecht für uns?

"Auch wenn positive Fantasien uns kurzfristig aufheitern, langfristig gesehen können sie durchaus unserer physischen und mentalen Gesundheit abträglich sein. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass das positive Träumen über die Zeit sogar depressive Verstimmungen vorhersagen."

Können wir das irgendwie abstellen?

"Nein, die positiven Zukunftsfantasien entstehen aus unseren Bedürfnissen, aus unseren Mangelzuständen. Daher sind sie wichtig und wir müssen sie ernst nehmen. Sie geben unserem Handeln die Richtung. Das Problem ist nur, dass sie uns gleichzeitig die Energie rauben, die wir zur Wunscherfüllung brauchen. Wenn wir aber unseren positiven Zukunftsfantasien die Hindernisse der Realität entgegenstellen, dann wächst uns die notwendige Energie zu, die wir zur Wunscherfüllung brauchen. Wir nennen diese Gegenüberstellung von Zukunft und Realität mentale Kontrastierung."

Wie funktioniert das?

"Die Methode der mentalen Kontrastierung hilft uns Prioritäten zu setzen und unsere Wünsche zu erfüllen. Es ist eine bewusste Imaginationstechnik, die nichtbewusste Prozesse in Gang setzt, die uns dann helfen unser Verhalten zu ändern – ohne dass wir es überhaupt merken. Das ist praktisch. Man kann mentale Kontrastierung gut im Alltag anwenden, auch in Kombination mit Wenn-dann-Plänen, einer Strategie, die Peter Gollwitzer von der Universität Konstanz entdeckt hat. Dazu muss man sich nur vier Schritte merken, die wir in einem Acronym zusammengefasst haben: WOOP. "

WOOP – wofür steht das?

"WOOP steht für Wish, Outcome, Obstacle, Plan oder Wunsch, Ergebnis, Hindernis, Plan. Ich frage mich zuerst: Was ist mein Wunsch, was will ich wirklich, etwas das ich erreichen kann, das aber herausfordernd ist? Dann frage ich mich: Was wäre das Allerschönste, das Allerbeste wenn ich meinen Wunsch erfülle? Das Allerschönste stelle ich mir dann ganz lebhaft vor. Jetzt wechsle ich den Gang: Was ist es in mir, das der Wunscherfüllung im Weg steht? Was ist mein zentrales inneres Hindernis? Und das Hindernis stelle ich mir dann ebenfalls lebhaft vor. Und schließlich überlege ich wie ich das Hindernis überwinden kann und formuliere den Wenn-dann-Plan: Wenn das Hindernis auftritt, dann werde ich das effektive Verhalten zur Überwindung des Hindernisses zeigen."

Aber Videos können doch auch helfen, Hindernisse besser einzuschätzen, weil wir andere daran scheitern sehen. Sind sie dann nicht doch hilfreich?

"Wenn Videos mir hilfreiche Informationen vermitteln, wie man am besten schwierige Hindernisse überwindet, können sie durchaus hilfreich sein. Aber das tun natürlich nicht alle Videos. Ob Videos helfen Wünsche zu erfüllen hängt ganz davon ab, welche Inhalte die Videos haben, wie die Videos gemacht sind, und inwieweit sie Informationen liefern, die wir nutzen können, um unsere Hindernisse zu überwinden."

Zur Person

Gabriele Oettingen ist Professorin für Psychologie an der Universität Hamburg und an der New York University. Sie ist Autorin von mehr als 150 Artikeln und Buchkapiteln zu den Themen Zukunftsdenken und der Regulation von Kognitionen, Emotionen und Verhalten. Ihren wichtigsten Beitrag zur Forschung leistete sie mit ihren Entdeckungen zu den Risiken von positivem Denken und der Entwicklung der Strategie des Mentalen Kontrastierens. Ihr erstes Buch, RETHINKING POSITIVE THINKING: Inside the New Science of Motivation wurde im Oktober 2014 im Current Verlag, Penguin Random House, veröffentlicht, die deutsche Übersetzung, DIE PSYCHOLOGIE DES GELINGENS, erschien im August 2015 bei Pattloch. 

Weitere Informationen: www.woopmylife.org. 

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