Juno Vai

Alter! – Die Midlife-Kolumne Per Tagebuch in ein neues Leben

Krise als Chance: Seit ich im Homeoffice eine halbe Stunde Arbeitsweg spare, nutze ich den Morgen, um mich freizuschreiben. Für neue Abenteuer.
Foto: Jennifer Brister / Stocksy United

Es ist ein Montag im Februar. Ich sitze im Garten, auf meinen Knien liegt ein nagelneues Notizheft, dessen leere Seiten grell in der Sonne leuchten. Ich nehme einen Stift und schreibe: tut. Schaue kritisch und male in schönster Schreibschrift ein zweites tut. Und gleich ein drittes hinterher, in steilen, braven Kinderlettern: tut tut tut ein Auto

Was für ein Satz. Ohne Punkt und Komma, ein Satz, der an Blödheit kaum zu übertreffen ist und dennoch so etwas wie ein Urknall ist, der Beginn meiner Bekanntschaft mit dem geschriebenen Wort.

»Tür und Tor« heißt die Lesefibel, aus der er stammt. Ein Lehrbuch für die erste Klasse aus den Siebzigerjahren, mit ungelenken, kantigen Illustrationen und Protagonisten, die Namen wie Grete oder Jochen tragen. Und ihre Katze Muschi nennen.

Hielt man uns für dumme Kinder?

In der Fibel gibt es Fragen, die im Rückblick Zweifel daran aufkommen lassen, wie Menschen meiner Generation es überhaupt je geschafft haben, Abitur zu machen. »Fährt Grete im Auto? Ist ein Auto im Wagen?« Was soll diese lebensferne, mechanische Sprache? Warum nicht: »Ist die Rose blau?« oder »Mag Grete Honig?« Warum nicht Wörter riechen, schmecken, fühlen?

Hielt man uns für dumme Kinder? Oder hatten wir einfach Pech und waren Anfang, Mitte der Siebziger, mitten in einem gesellschaftlich aufgepeitschten Klima zwischen RAF-Exzessen, der tödlichen Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München und Regierungskrisen um Willy Brandt, in einer Schule der Ewiggestrigen gelandet?

Und wieso zum Teufel ist mir gerade diese sinnlose tut-Phrase aufs Papier geflossen?

Klar Schiff im Kopf machen

Ich hatte es noch mal versucht. Die berühmten Morgenseiten zu schreiben, eine Art Tagebuch, drei Blätter direkt nach dem Aufstehen, ohne Nachdenken, im freien Fluss, assoziativ, Stream-of-Consciousness-mäßig. Wollte die durchs Homeoffice gewonnene Zeit für mich nutzen, ein bisschen klar Schiff in meinem Kopf machen.

Allein – da floss nichts. Es war viel zu warm für Februar (Klimakrise), und ich fühlte mich alt und uninspiriert (Lebensmitte-Krise). Mein Mann wollte mit mir frühstücken und reden (Aufmerksamkeitsdefizit-Krise), meine Tochter über ihre Lehrer schimpfen (Abiturkrise), mein Sohn endlich seine Freunde wiedersehen (Coronakrise). Was soll da anderes rauskommen als tut tut tut ein Auto?

Die Tagebuchidee stammte von Julia Cameron, einer US-Autorin, die Anfang der Neunzigerjahre beträchtlichen Erfolg mit ihrem Buch »Der Weg des Künstlers« hatte. Ich hasste schon damals Ratgeber und Bestseller, aber ein Schauspielerfreund von mir war so begeistert und ich lebenspraktisch so grundverwirrt, dass er mich quasi nötigte, das Buch zu lesen. Ich fand es sehr anregend, auch wenn das therapeutische Schreiben beileibe keine Erfindung der Autorin ist, sondern ein in der Psychotherapie durchaus gängiges Verfahren.

Kreativität statt Drogen und Paranoia

Die heute knapp 73-jährige Cameron hat ein interessantes Leben geführt. Sie schrieb für die »Washington Post« und den »Rolling Stone«. In den Siebzigerjahren war sie kurz mit dem Regisseur Martin Scorsese verheiratet und bekam eine Tochter von ihm – bevor er sie verließ, für Liza Minelli. Eine Weile war Cameron alkohol- und drogenabhängig. Sie litt unter Psychosen und Paranoia, bis sie im Jahr 1978 dem Rausch entsagte und erkannte, dass einzig eine gelebte Kreativität Erfüllung bringen kann. Klingt hippieesk, ist aber in ihrem Fall ein sehr konkretes Anliegen.

2016 legte Cameron ein auf ältere Leser zugeschnittenes Werk vor: »Es ist nie zu spät, neu anzufangen«. Das Buch ist Ratgeberliteratur in Reinkultur – aber gut strukturiert, klar formuliert und deshalb leicht umzusetzen. Zwölf Wochen lang führt das Buch die Leser*innen durch ein Selbstexplorationsprogramm, von dem die Morgenseiten nur ein Teil sind.

Da gibt es Zielvorgaben und abzuhakende Listen, Verabredungen mit sich selbst, jede Woche lässt man zudem ein Stück Leben Revue passieren.

Cameron ermuntert zum Aufbruch zu neuen Ufern, zur Verwirklichung vergessener Träume. Sie berichtet von einer 60-Jährigen, die anfängt, Klavier zu spielen. Von einem 65-Jährigen, der ein Filmstudium beginnt und durch die kreative Auseinandersetzung mit den jungen Kommilitonen aufblüht. »Ich fühle mich nützlich und optimistisch. Ich habe Geschichten zu erzählen und die Zeit, sie zu erzählen«, sagt er.

»Der Zensor ist ein Vollidiot«

Um sich kreativ frei zu machen, rät Cameron, den sogenannten inneren Zensor zum Schweigen zu bringen. Das ist der Skeptiker, die Zynikerin, der böse Geist, der das »Kann ich nicht – darf ich nicht – hat doch keinen Sinn«-Mantra in unsere Köpfe pflanzt und jedes schöpferische Tun im Keim erstickt. Zu spät, nicht gut genug – er ist die Inkarnation von Selbstzweifeln und Negativität. Cameron fordert ihre Leser*innen auf, ihm einen Namen zu geben, mit ihm zu reden, ihn in seine Schranken zu weisen. »Lassen Sie sich nicht entmutigen. Der Zensor ist ein Vollidiot.«

Ich lasse also Krisen Krisen sein und setzte mich am nächsten Tag nach dem Aufwachen an den Schreibtisch. Und siehe da, ich komme über Lesefibelphrasen weit hinaus. Ich bin richtig aufgeregt und hibbelig, habe plötzlich tausend Ideen. Aber es kommen auch unangenehme Erinnerungen hoch, verpasste Chancen, Verschwommenes, Verdrängtes. Die Arbeit mit dem Buch ist eine abenteuerliche Reise, auf der man nett zu sich sein sollte: »Ein wenig aktive Freundlichkeit gegenüber uns selbst kann uns sehr weit bringen«, meint Cameron. Ich mache also weiter und entdecke Erstaunliches.

Die totale Authentizität

Allein das tägliche Schreiben, die Hand, die den Stift hält und das Papier füllt, das Durchspülen, Erinnern, Formulieren sind ein einzigartiger Vorgang, der etwas Befreiendes und Anregendes hat. Der bestenfalls dazu führen kann, dass ich mich besser kennenlerne, verstehe, was ich wirklich will, und aus dieser Erkenntnis Dinge tue, die gut für mich sind.

Das hat ganz konkrete Folgen: Ich treffe mich zum Beispiel nicht mehr mit Bekannten, denen ich mich irgendwie verpflichtet fühle, in deren Gegenwart ich mich aber eigentlich total unwohl fühle.

Letztlich geht es um Wahrhaftigkeit. Oder, um es mit den Worten der kürzlich verstorbenen US-Journalistin und Midlife-Bestseller-Autorin Gail Sheehy (»In der Mitte des Lebens. Die Bewältigung vorhersehbarer Krisen«) zu formulieren: »Irgendwann um die Lebensmitte herum können wir richtig erwachsen werden, worauf wir entweder wieder in uns zusammenschrumpfen, oder wir wachsen über uns selbst hinaus und erblühen zur vollen Authentizität.«

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