

Mind-Body-Medizin Warum Sie bei Fürsorge auch mal an sich selbst denken sollten
SPIEGEL: Frau Hubbertz-Josat, wie bewerten Sie den Begriff Wellness? Das ist doch eigentlich ein kommerziell verbrauchtes Wort, oder?
Sabine Hubbertz-Josat: Dass der Begriff abgenutzt ist, mag stimmen. Aber Wellness empfinde ich als sehr positiv, da das Wort für Selbstfürsorge steht. Es ist nur schade, dass es für viele ein singuläres Highlight darstellt. Menschen sind gestresst und buchen sich einmalig ein Wellness-Wochenende. Zwar hilft das auch, allerdings ist es nachhaltiger, Entspannungsmomente dauerhaft in den Alltag zu integrieren. Dafür eignet sich Mind-Body-Medizin, ein Konzept aus der Stressmedizin.
SPIEGEL: Was ist das grundlegende Prinzip?
Hubbertz-Josat: Der Körper reagiert nicht nur physiologisch auf Stress, sondern auch auf Entspannung. In den Siebzigerjahren entwickelte der Kardiologe Herbert Benson an der Harvard Medical School die »Relaxation Response«, also die bewusste Entspannungsantwort des Körpers auf Stress. Durch Atemübungen lockern sich die Muskeln, die Atemfrequenz nimmt ab, der Blutdruck und die Cortisolwerte sinken. Die »Relaxation Response« ist quasi das Gegenteil der Stressreaktion. Wenn man mindestens acht Wochen jeden Tag Übungen macht, hat das einen nachweislichen Effekt auf die Gesundheit. Auf MRT-Scans kann man erkennen, dass die Amygdala, das Stressbewertungssystem im Gehirn, durch das tägliche Training kleiner wird. Das bedeutet, dass man weniger stark auf Stress reagiert und sich bei Anspannung schneller beruhigen kann.
SPIEGEL: Und wenn man das nicht schafft?
Hubbertz-Josat: Dann gerät man möglicherweise in einen Dauerzustand. Bei Stress springt das sympathische Nervensystem an, und bestimmte Hormone fluten unseren Körper. Jetzt heißt es: beruhigen. Aber viele Menschen schaffen es nicht, richtig loszulassen. Wir werden unausgeglichen. Wenn man das ignoriert und einfach weiterarbeitet, gerät man in Dauerstress. Das macht nachweislich krank. Von Schlafstörungen und Konzentrationsproblemen über psychosomatische Erkrankungen und Bluthochdruck bis hin zum Burn-out. Es gibt sehr viele Stress-induzierte Krankheiten.
SPIEGEL: Wer sich ein Wellnessangebot bucht, fühlt sich vielleicht schlapp von der Arbeit. Aber krank ist die Person nicht. Gibt es einen Zustand zwischen krank und gesund?
Hubbertz-Josat: Ja, die Salutogenese – sie bildet die Grundlage der Mind-Body-Medizin und der Resilienzforschung. Der Wissenschaftler Aaron Antonovsky hat ein Modell entwickelt, das einem Kontinuum gleicht: Menschen sind nicht entweder krank oder gesund, sondern sie schwanken in die eine oder in die andere Richtung. Man kennt das: Ich fühle mich vielleicht einigermaßen fit, aber dann zwickt der Rücken. Oder andersherum: Ich fühle mich krank, aber ich kann noch Ressourcen aktivieren, damit es mir besser geht.
SPIEGEL: Klingt fast nach Wunderheilung.
Hubbertz-Josat: Da bin ich zurückhaltend. Es gibt Menschen mit Fibromyalgie, einem Schmerzsyndrom, denen es durch Entspannungsübungen besser geht. Natürlich stellt sich die Frage: Haben sie wirklich weniger Entzündungsparameter oder empfinden sie einfach anders? Das ist zu wenig erforscht. Es bietet sich an, unter ärztlicher Aufsicht bei chronischen Erkrankungen wie etwa Rückenschmerzen oder auch Depressionen zusätzlich ein Mind-Body-Training zu machen. Aber wirklich nur zusätzlich.
SPIEGEL: Wie sehen solche Techniken aus?
Hubbertz-Josat: Zum Beispiel Yoga, Fantasiereisen und Meditationen. Man sollte das wählen, was einem Spaß macht. Einige Menschen sind sehr kopflastig. Ich habe das in Mind-Body-Coachings bei Managern erlebt, denen manches zu spirituell klang und die sich lieber etwas Handfestes wünschten. Ich empfehle gern, online nach Videos zu suchen oder auch Apps für das Smartphone, die einen bei Atemübungen anleiten. Damit kommen viele gut zurecht. Man atmet tief und langsam ein und aus. Das verringert die Atemfrequenz und reduziert den Herzschlag. Wir entspannen. Wichtig ist, dass man einer Technik einen festen Platz im Alltag gibt und sie regelmäßig umsetzt. So wie Zähneputzen. Ich nehme mir etwa in jeder Mittagspause zehn Minuten für eine Atemübung oder eine Meditation.
SPIEGEL: Aber warum geht es mir danach überhaupt besser?
Hubbertz-Josat: Wenn man sich etwas Gutes tut, wird das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert. Bei angenehmen Berührungen wie bei Massagen schüttet es das Bindungshormon Oxytocin aus. Das Zusammenspiel von Körper und Psyche sorgt für ein Gefühl der Ausgeglichenheit. Außerdem sinkt der Blutdruck, der Herzschlag verlangsamt sich und die Alphawellen im Gehirn nehmen zu. Dieser Entspannungszustand erzeugt ein Gefühl von Wohlbefinden, Ruhe und Geborgenheit. Insgesamt schläft man besser, und das Immunsystem wird gestärkt.
SPIEGEL: Haben Menschen diese Art von Selbstfürsorge verlernt?
Hubbertz-Josat: Definitiv. Sobald es um Fürsorge geht, denken Menschen an andere – und nicht an sich selbst. Das wird im Alltag zu wenig gehegt. Das ist schade, denn jedes Baby braucht nicht nur Nahrung, sondern auch Zärtlichkeit. Und das gilt eben auch für Erwachsene. Selbstfürsorge hat etwas Ursprüngliches an sich. Ich habe den Eindruck, dass es häufig als schicker gilt, viel zu arbeiten und Karriereerfolge nach außen zu tragen. Da wird gern die Mittagspause gestrichen, um noch schnell Mails zu beantworten. Oder Entspannungstechniken werden genutzt, um die eigene Produktivität zu steigern, um noch mehr Stunden zu arbeiten. Das ist der falsche Ansatz.
SPIEGEL: Könnte die Pandemie einen Haltungswandel bewirken?
Hubbertz-Josat: Ich glaube, viele Menschen fragen sich seit den Corona-Einschränkungen vermehrt: Was tut mir gut? Auch die Medien greifen solche Themen häufiger auf. Seien es Tipps zum richtigen Umgang mit Corona oder gegen Einsamkeit. Das ist sehr förderlich. Vor Kurzem sagte mir mein Sohn, er wolle unbedingt in den Urlaub fahren. Ich habe mit ihm vorm Schlafengehen eine Fantasiereise unternommen. Wir haben uns vorgestellt, im Urlaub zu sein. Solche Methoden helfen. Genau wie Achtsamkeit. Einfach einen Tee kochen, ein Buch lesen oder im Wald spazieren. Das mag banal klingen, aktiviert aber Ressourcen, und man kommt wieder ins Gleichgewicht.
SPIEGEL: Ist »Me-Time« in Form von Wellnessgutscheinen deshalb so ein beliebtes Weihnachtsgeschenk?
Hubbertz-Josat: Ich denke, Menschen haben im Grunde genommen ein gutes Gespür dafür, was ihnen fehlt. Wenn jemand so etwas verschenkt, könnte die Person sich fragen: Warum? Was sagt das über mich selbst aus? Vielleicht steckt dahinter ein Wunsch für das eigene Leben.