

Belastung durch Oversharing Wenn Menschen zu schnell zu viel Privates erzählen
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Am Arbeitsplatz über sein Sexleben plaudern, dem Typen an der Bushaltestelle seinen Liebeskummer klagen oder beim ersten Date seine Kindheitstraumata auspacken – diese Form der überbordenden Offenheit wird als Oversharing bezeichnet und ist alles andere als beliebt.
Manche Menschen erzählen zu schnell zu viel Privates. Zuhörerinnen oder Zuhörer kommen weder zu Wort noch haben sie die Wahl, ob sie sich das Ganze überhaupt anhören möchten. Das Phänomen wird vor allem in den sozialen Medien angeprangert, die selbst so etwas sind wie die Wiege der unüberlegten Selbstoffenbarung.
Wie viel ist zu viel?
Aber was bedeutet eigentlich »zu viel« und »zu schnell«? Schließlich wird offener über Tabuthemen gesprochen als noch vor zehn Jahren, das gaben 87 Prozent der Befragten 2022 in einer Umfrage des Marktforschungsunternehmen Ipsos an.
Seine Finanzen, seine Depressionen oder sein Sexleben vor Freunden, Bekannten und Verwandten zu thematisieren, kann 2023 ein politisches Statement sein oder gezielt eingesetzt werden, um Podcastfolgen oder Produkte zu verkaufen. Menschen, die anscheinend alles mit uns teilen, können dadurch nahbarer und authentischer wirken. In Zeiten von Influencerinnen, Instagram-Filtern und Schönheitsoperationen kann es uns menschlicher machen, auch über Schwächen zu sprechen und verletzlich zu wirken.
»In den letzten Jahren haben wir Stück für Stück gelernt, wie wichtig Offenheit und Authentizität sind«, sagt Dr. Anna Bruk, Forscherin am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Mannheim. Aber wann ist offen zu offen? Die richtige Balance zu finden, ist alles andere als leicht und selbstverständlich.
Haben vor 60 Jahren noch soziale Normen stärker vorgegeben, was wir für uns behalten sollten, scheint die digitale Welt Freiheit zu versprechen, dass jede und jeder sagen kann, was und wann sie oder er möchte. Gibt es da überhaupt noch ein »Over«-Sharing?
»Ich overshare beim Onlinedating. Vor Kurzem habe ich über Instagram eine Frau kennengelernt. Innerhalb kürzester Zeit haben wir minutenlange Sprachnachrichten ausgetauscht und uns gefühlt jedes Detail erzählt. Wir haben völlig vergessen, dass wir uns kaum kennen. Nach dem ersten Treffen haben wir uns dann nie wieder gesehen. Ich glaube, wir haben beide etwas zu viel von uns preisgegeben und das war uns unangenehm.«
Marko*, 27
Oversharing – die Grenze des Sagbaren?
Ja, denn wie die Meinungsfreiheit stößt auch die Freiheit, offen über Privates zu sprechen, früher oder später an ihre Grenzen. Für die Psychotherapeutin Denise Ginzburg-Marku ist es der persönliche Leidensdruck, der diese Grenzen setzt – der eigene sowie der unserer Mitmenschen.
»Eine Kollegin, die ich erst zum zweiten Mal gesehen habe, hat mir einmal von ihrer übergriffigen Mutter erzählt. Ich wusste gar nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ich wollte nicht einfach sagen: Oh, das ist mir zu intim.«
Marina*, 28
Bewusst eingesetzt könne Oversharing Tabus brechen, ein Statement setzen oder andere inspirieren, sich eventuell auch mitzuteilen. »Wenn ich allerdings merke, dass dahinter keine bewusste Entscheidung steckt, wenn ich mich immer wieder in die Situation bringe und es im Nachhinein bereue, dann ist das ein Prozess, den ich reflektieren sollte«, sagt Ginzburg-Marku.
Alles über mein Sexleben zu erfahren, kann meine Mitmenschen unter Umständen überfordern. Traumata ungefragt mitanzuhören, kann zur Belastung werden oder sogar eigene Traumata triggern. Dabei macht es einen erheblichen Unterschied, ob wir unserer besten Freundin gegenübersitzen, unserer Chefin oder einer völlig fremden Person. Denn Oversharing ist immer eine Kontextfrage. Wie gut kenne ich die Person? Hat sie Einfluss auf mein Umfeld oder meine Karriere? Davon hängt ab, ob etwaige Konsequenzen der eigenen Offenheit abgeschätzt werden können.
»Gerade, wenn es um meine psychische Gesundheit geht, bin ich manchmal superoffen. Letztens hat mich ein Typ an einer Bushaltestelle angesprochen und gefragt, wie es mir geht. Ich habe ihm gesagt, dass es mir okay geht, ich aber gerade in der Psychiatrie bin. Das war, glaube ich, zu doll. Danach war das Gespräch vorbei.«
Janina*, 25
Auch, weil wir selbst zu Schaden kommen können. Zwar generiert die größtmögliche Offenheit in der Regel Aufmerksamkeit – Prinz Harry macht es vor –, das kann aber auch unerwünschte Folgen haben oder unerwartete Reaktionen hervorrufen. Wem wir uns offenbaren, dem vertrauen wir damit Informationen an, über die wir damit die Kontrolle verlieren. Wer die Information hat, hat die Freiheit, sich darüber ein Urteil zu bilden, sie für sich zu behalten oder das Gesagte an Dritte weiterzugeben. Das gilt auch, wenn das Gesagte nicht nur mich, sondern vielleicht das Privatleben anderer Menschen betrifft. So passiert es etwa beim sogenannten »Oversharenting« – Eltern geben zu viel über ihre Kinder preis, um zum Beispiel auf Social-Media-Plattformen erfolgreich zu sein. Vor möglichen Folgen warnt auch die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz .
Zudem besteht die Gefahr, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen oder zu überfordern. Ein gutes Gespräch ist wie eine ausgeglichene Partie Pingpong: Man spielt sich den Ball zu, ab und an bleibt er vielleicht hängen, insgesamt ist das Verhältnis aber ausgewogen. Beim Oversharing sprudelt es häufig nur so aus manchen Menschen heraus. Der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin kommt selten zu Wort und hatte am Ende kaum Ballkontakte. Aus Angst, eine andere Person vergrault oder verletzt zu haben, können im Nachgang Reue- und Schamgefühle werden.
»Mir passiert das häufiger, besonders wenn Alkohol im Spiel ist. Aber auch, wenn ich Menschen kennenlerne, mit denen ich unbedingt eine Verbindung aufbauen möchte.
Manchmal ärgert mich das. Einmal war ich im Krankenhaus, weil ich einen Eingriff an der Blase hatte – schon eine sensible Information. Im Small Talk habe ich das aber so vielen Leuten erzählt, die das nichts angeht. Ich weiß nicht, was ich mir dabei dachte. Niemand hat danach gefragt. Danach habe ich mir nur Vorwürfe und Gedanken gemacht.«
Sebastian*, 27
Die Grenzen der anderen
Wäre alles besser, wenn wir in einer urteilsfreien Gesellschaft leben würden, in der jede und jeder frei und ohne Konsequenzen über intimste Details sprechen dürfte und würde? Vermutlich nicht. Denn das Kernproblem von Oversharing liegt meist in seinen Beweggründen.
Unser Sozialverhalten beruht zu großen Teilen auf der Fähigkeit, zu verstehen, was unser Gegenüber im Sinn hat, und uns darauf einzustellen. Die Perspektive des anderen einzunehmen, ist Voraussetzung, um zu verstehen, wie viel Offenheit wann angebracht ist. Manche Menschen haben aber nie gelernt, die Grenzen anderer Menschen wahrzunehmen. Es mangelt an Gespür für den Moment, in dem es dem Gesprächspartner zu weit geht.
Forscherinnen und Forscher aus Edinburgh fanden 2018 in einer Studie heraus, dass diese Form der Empathie mit dem Alter nachlassen kann. Wenn es darum geht, das richtige Maß an Offenheit zu zeigen, könnten sich demnach ältere Menschen durchschnittlich weniger effektiv auf ihre Gesprächspartnerinnen einstellen.
Egal, ob jung oder alt: Wenn es schwerfällt, die Reaktionen der anderen einzuschätzen, könne die Flucht nach vorn helfen, rät Psychotherapeutin Ginzburg-Marku: »Am besten ganz konkret nachfragen: ›Habe ich euch in die Bedrängnis gebracht? War das gerade unangenehm?‹« Ein transparenter Umgang kann für Verständnis sorgen und helfen, Situationen in Zukunft besser einschätzen zu können. Auch Signale wie Körperhaltung oder Blickkontakt können erste Zeichen sein, dass es dem Gegenüber zu weit geht.
Auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung
»Wir saßen beim Mittagessen in der Kantine. Ich bin noch neu und meine Kolleginnen sind alle älter als ich. Beim Essen kam dann die unangenehme Stille. Ohne nachzudenken habe ich eine Geschichte nach der anderen ausgepackt und bin immer intimer geworden – wie sich meine Eltern getrennt haben, die Streits meiner Familie, inklusive aller Details...«
Lea*, 24
»Der Wunsch, in einem Gespräch Nähe herzustellen, ist erst mal ganz natürlich und nachvollziehbar«, erklärt Psychotherapeutin Ginzburg-Marku. Menschen haben ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Bindung. Etwas Intimes zu teilen, kann die Basis für neue soziale Verbindungen sein. Gerade, wenn wir uns verwundbar fühlen, weil wir in eine neue Stadt gezogen sind oder Anschluss in einer Gruppe suchen. Es kann jedoch ratsam sein, eine Beziehung Stück für Stück zu vertiefen. Dann kann sich Vertrauen auf beiden Seiten auf natürliche Art und Weise bilden. Manchmal erfordert das Zeit und Geduld. Wie sich Beziehungen langsam durch wechselseitige Selbstoffenbarung aufbauen und stärken, ist schon lange Bestandteil der psychologischen Forschung .
Oversharing als Symptom psychischer Erkrankungen?
Ist der Wunsch nach Nähe oder Bindung zu stark oder gestört, kann Oversharing unter Umständen symptomatisch für psychische Erkrankungen sein. Ginzburg-Marku nennt vor allem soziale Phobien oder Depressionen, aber auch andere Störungen, die mit einer erheblichen Selbstunsicherheit einhergehen. Sie alle hätten eine verzerrte Vorstellung des Selbst gemein, so die Therapeutin. Betroffene können schwer einschätzen, wie sie bei anderen ankommen oder auf andere wirken.
»Wenn ich eine verzerrte Wahrnehmung von mir habe und mich selbst vielleicht als nicht liebenswert sehe, neige ich unter Umständen zu Oversharing – als Kompensation.« Man habe das Gefühl, nicht interessant genug zu sein, und versuche, dieses Gefühl mit Offenheit zu kompensieren. Dadurch glauben Betroffene, besonders selbstsicher oder betont locker zu wirken, statt das Gefühl zu haben, ängstlich-verklemmt rüberzukommen.
Oversharing muss aber nicht zwangsläufig mit psychischen Erkrankungen zusammenhängen. Es ist ein alltägliches und immer relatives Phänomen.
Stress, Stress, Stress – und Aufregung
»Meistens sind es bei mir die Übergangssituationen. Ich komme morgens ins Büro, der Tag ist gefühlt fünf Stunden alt, diverse Dramen standen schon vor dem ersten Kaffee an. Gerade bei zusätzlichen Belastungen, wenn etwa meine Tochter krank ist, platzt es dann am Arbeitsplatz aus mir heraus, und ich spreche über meine Beziehung oder andere private Sorgen. Meistens nehme ich mir direkt danach vor, nächstes Mal den Mund zu halten.«
Magda*, 31
Um die Grenzen unserer Mitmenschen sowie unsere eigenen zu achten, müssen wir vor allem eins: nachdenken, bevor wir sprechen. Leider ist es nicht immer so einfach, bewusst und überlegt zu sprechen. Neben anderen psychischen Faktoren können auch starke Emotionen und Stressoren wie Trauer, Müdigkeit oder Nervosität unser Arbeitsgedächtnis belasten. »Wenn wir gedanklich in bestimmten Prozessen gefangen sind, kann das zu einem temporären Verlust der Selbstkontrolle führen«, so Ginzburg-Marku. Wer gerade eine emotionale Trennung hinter sich hat, teilt häufig besonders viele Details – über die vergangene Beziehung, die letzten Streits, das vermeintlich toxische Verhalten des Ex-Partners. Die Selbstkontrolle sinkt. Verständlicherweise wächst aber auch der Wunsch nach Nähe und Anerkennung.
Eine solche Ausnahmesituation kann der Stress sein, Care-Arbeit und Job zu vereinen, es kann aber auch die Aufregung vor dem Start eines Flugzeuges sein. Leider gibt es kein Patentrezept gegen Stress. Er ist eine normale Reaktion unseres Körpers und befähigt uns in gefährlichen Situationen, schnell zu reagieren. Problematisch wird es allerdings, wenn unser Körper dauerhaft unter Stress und damit unter Alarmbereitschaft steht. Das kann krank machen und unsere Psyche belasten. Wie schlimm Stress für uns ist, hängt stark davon ab, wie wir ihn bewerten. Der richtige Umgang mit Stress ist deshalb wichtig .
Neben Stress gibt es andere Faktoren, die unser Urteilsvermögen oder die Fähigkeit uns zurückzuhalten mindern – Alkohol etwa.
»Ich habe lange als Flugbegleiterin gearbeitet, und es gibt ein Phänomen der Oversharing-Crew-Bank, wenn man kurz vor dem Start oder der Landung nebeneinandersitzt. Obwohl man sich erst seit einer halben Stunde kennt, werden da regelmäßig die intimsten Geheimnisse über Beziehung, Familie und Co. ausgetauscht. Ich habe das selbst oft genug gemacht und mich danach gefragt: Why the fuck?«
Alina*, 29
Nicht so schlimm wie es aussieht?
Viele Menschen haben die Tendenz, sich im Nachgang zu verurteilen, wenn sie offen über ihre Schwächen sprechen. Bei der Offenheit anderer sehen wir dagegen eher den Mut, den diese Offenheit verlangt, und nehmen die Person als nahbar, gegebenenfalls sogar sympathischer wahr.
»Wenn wir uns selbst erlauben, unsere Verletzlichkeit zu zeigen, erlauben wir es auch anderen Menschen, imperfekt zu sein«, sagt Anna Bruk. Die Wissenschaftlerin hat mit Kolleginnen und Kollegen eine Studie zum sogenannten Beautiful Mess Effect (Effekt des schönen Durcheinanders) durchgeführt: »Bei unseren Experimenten haben wir festgestellt, dass das eigene Zeigen von Verletzlichkeit kritischer beurteilt wird als das von anderen.«
»Ich war bei einem Date mit einer Frau und habe sehr viel von meiner Familie erzählt und viele private Sachen über mich. Sie war ein wenig überrascht und meinte: ›Ich finde es krass, wie viel Privates du erzählst. Warum machst du das schon beim ersten Date?‹ Ich habe mich dann sofort infrage gestellt. Aber letztlich hat es dazu geführt, dass das ein Icebreaker war und wir rasch sehr tief ins Gespräch eingestiegen sind. Und dann war es eins meiner besten Dates.«
Sophia*, 23
Das Zeigen von Verletzlichkeit ist nicht zwingend gleichzusetzen mit Oversharing, das immer eine Grenzüberschreitung beinhaltet. Doch die Grenze ist fließend. »Was von einer Person als Oversharing wahrgenommen wird, kann für eine andere Person ein Ausdruck von erfrischender Authentizität sein«, so Bruk.
Je weniger soziale Normen festlegen, was gesagt werden darf und was nicht, desto mehr ist es an uns auszubalancieren, wie viel wir preisgeben möchten und sollten, ohne uns und andere zu verletzen. Das Gefühl, zu viel gesagt zu haben, ist und bleibt relativ. Wer oft bewusst Privates teilt und dabei die Würde, Privatsphäre und die persönlichen Grenzen anderer Menschen in Betracht zieht, muss sich keine Vorwürfe machen – sollte sich vielleicht aber fragen, warum es so häufig dazu kommt.
*Acht junge Menschen erzählen über den Text verteilt ihre letzte »Oversharing-Erfahrung«. Leider geht das Gefühl, zu viel gesagt zu haben, meist Hand in Hand mit Scham- und Reuegefühlen. Die Namen sind deshalb geändert, sie liegen der Redaktion aber vor.