Wie es ist, mit Zwangsstörungen zu leben

Studentin Hanna ​berichtet vom Leben im Käfig, der immer kleiner wird

Dieser Beitrag wurde am 11.01.2016 auf bento.de veröffentlicht.

Diskotheken sind die größte Herausforderung.

Der Dreck auf dem Boden. Zerbrochene Bierflaschen. Hitze und Körper, überall. Menschen pressen sich an ihr vorbei, sie riecht und spürt fremden Schweiß. Ein Junge verschüttet etwas von seinem Bier auf ihren Arm. "Sorry!", brüllt er. Hanna nickt höflich und schweigt. Sie tanzt ein wenig, drückt sich aber meist am Rand der Tanzfläche herum. Hanna ist stolz. Es ist schon ein großer Erfolg, dass sie überhaupt hier ist. Vor einigen Jahren noch hätte sie sich das nie zugetraut.

"Als meine Zwänge auf dem Höhepunkt waren, habe ich jede Menschenansammlung gemieden", erinnert sich Hanna, gebürtige Berlinerin. Angst vor Berührungen, Angst vor Krankheiten. "Wenn ich doch mal mitgegangen bin, auf ein Konzert vielleicht, dann habe ich mich sehr dick angezogen, sodass ich so gut wie keine Berührungen mit der Außenwelt riskieren würde."

Zu Hause erwartete sie eine Odyssee: Duschen, Kleider waschen, wieder duschen, Hände waschen. Einmal pro Woche musste sie neue Seife kaufen. Die Hände wurden trocken, die Haut rissig, erinnert sie sich.

Hanna ist hochgewachsen, die Augen grau, das Haar lang und blond. Sie wirkt unbeschwert, lächelt in das Scheinwerferlicht, das zu rot und blau und wieder rot wechselt. Niemand würde jetzt vermuten, welche Furcht in ihr wohnt.

Warum und wie das alles angefangen hat, diese Frage kann Hanna selbst nicht beantworten: "Irgendwann in meiner Teenagerzeit, vielleicht so als ich gerade 16 war, begann ich, Angst vor Krankheiten zu entwickeln". Es fing relativ harmlos an. Sie ging regelmäßig zum Arzt, liebte die jährlichen Check-Ups. Große Blutbilder, Krebsvorsorge; die Ärzte schüttelten den Kopf, als sich die Jugendliche ohne Grund eine Darmspiegelung wünschte. Ob Aids, Hepatitis oder Tuberkulose, Hanna war Expertin und kannte sich besser aus als jeder Hausarzt. Die meisten fanden ihren Tick amüsant. Die Brüder nannten sie Hypochonder, die Mutter schenkte ihr Molières "Der eingebildete Kranke" zum Geburtstag.

Sobald ich auf Toilette musste, musste ich nach Hause.

Doch die Witze hörten bald auf. Hanna begann zunehmend, Menschen zu meiden. Bahnfahrten wurden unmöglich; Partys, Kino, Straßenfeste, sogar der Schulbesuch wurde zur Hürde. Sobald die Gefahr bestand, mit fremden Menschen in Kontakt zu kommen, entschied sie sich, zu Hause zu bleiben. "Öffentliche Toiletten waren ein absolutes Tabu", erzählt sie, "dadurch wurde mir natürlich jede Aktivität erschwert. Sobald ich auf Toilette musste, musste ich nach Hause."

Trotz Hannas ausgefeilten Verschleierungstechniken begonnen die Eltern, skeptisch zu werden. Ihre Mutter Brigitte erinnert sich: "Als wir einmal in einem Restaurant waren, weigerte Hanna sich, von einem Teller zu essen, den die Kellnerin vorher berührt hatte. Da wusste ich: Hier ist etwas im Argen." Brigitte musste beobachten, wie sich ihre Tochter immer mehr zurückzog. Der Radius, in dem Hanna sich ihrer Meinung nach sicher bewegen konnte, wurde immer kleiner: "Als hätte sie sich ihren eigenen Käfig gebaut."

Zwei Wochen später wurde Hanna eine Zwangsstörung diagnostiziert.

Rund zwei Prozent aller Erwachsenen in Deutschland erkranken im Laufe ihres Lebens einmal daran.

Formen von Zwangsstörungen

Die offiziellen Diagnosekriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheiden bei Zwangsstörungen zwei Formen: Zwangsgedanken oder Grübelzwang und Zwangshandlungen mit Ritualen. Dabei erlebt der Patient seine Handlungen oft als Vorbeugung gegen ein eigentlich unwahrscheinliches Ereignis, das ihm Schaden bringen oder bei dem er selbst Unheil anrichten könnte. Das Ritual ist daraufhin ein wirkungsloser aber symbolischer Versuch, diese Gefahr abzuwenden.

Sollte sie ihre Rituale einmal nicht ausüben dürfen, wurde die Angst noch größer, erinnert sich Hanna. Bei der Studentin lag eine Mischung aus zwanghaften Gedanken und Handlungen vor. Die Ideen wurden diffuser: Angst vor Einbrüchen, Angst vor Kontrollverlust, Angst vor Datenklau, Angst vor der Angst.

Man schaut sich selber dabei zu, wie man verrückt wird.

Die Welt sei ihr feindlich vorgekommen, sagt Hanna. Keinem rationalen Argument sei sie mehr zugänglich gewesen: "Das Schlimme bei Zwangsvorstellungen ist ja, dass du dir völlig im Klaren darüber bist, dass das, was du tust oder denkst, völliger Schwachsinn ist", versucht Hanna ihr Verhalten zu erklären. "Du bist wie der Demenzkranke, der weiß, dass er vergisst. Das ist das Schmerzhafte daran. Man schaut sich selber dabei zu, wie man verrückt wird."

Enttäuscht sei sie, dass sie nie mehr über den Auslöser oder Grund ihrer Krankheit erfahren hat. Man schaute in die Familiengeschichte, man suchte nach Traumata. Aber da war auf den ersten Blick nichts Offensichtliches, kein Missbrauch in der Kindheit. Es werde in solchen Fällen ganz schnell mit den Achseln gezuckt, sagt Hanna. Ihre Eltern seien nie in einem übertriebenen Maße auf Gesundheit bedacht gewesen. Abends wurde ein Glas Wein getrunken, im Sommerurlaub lag man auch mal in der Sonne und Jan, Hannas Bruder, durfte sogar in seinem Zimmer rauchen.

Hanna glaubt nicht, dass ihre Familie Schuld an ihrer Erkrankung trägt. "Das wäre zu einfach. Das Problem einer Zwangserkrankung liegt viel tiefer. Die ganzen Waschzwänge oder die Furcht vor Krankheiten waren bloß Symptome für viel existenziellere Ängste."

Entstehung von Zwangsstörungen

Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPP) beginnt die Erkrankung in der Regel in der Adoleszenz, oft begleitet von einem traumatischen Erlebnis, das vom Betroffenen in dem Moment jedoch nicht unbedingt als solches erlebt werden muss, und an das er sich daher oft nur schwer erinnern kann. Um dieses "wieder gerade zu rücken", erschafft sich der Patient ein starres Korsett an Regeln, die nicht missachtet werden dürfen.

In der Wissenschaft werden außerdem vermehrt physiologische Gründe für Zwangsstörungen diskutiert. Fortschritte im Bereich des bildgebenden Verfahrens der MRT (Magnetresonanztomographie) deuten auf eine Signalstörung zwischen verschiedenen Hirnarealen hin. Dabei wurde eine deutliche Überaktivität in temporalen und frontalen Bereichen des Gehirns festgestellt. Diese Dysfunktion normalisiert sich oft durch eine Kombination von Verhaltenstherapie und medikamentöser Behandlung, was auf eine enge Wechselwirkung von psychologischen und neuropsychologischen Prozessen hindeutet.

Anne Katrin Külz, Diplompsychologin und Psychotherapeutin an der Universitätsklinik Freiburg, weist darauf hin, dass sich der veränderte Gehirnstoffwechsel bei Zwangserkrankungen auch auf die geistige Leistungsfähigkeit des Menschen auswirken kann. Dass die Patienten sowieso bereits an der "eigenen Wahrnehmung zweifeln oder wenig Vertrauen in ihre Erinnerungsfähigkeit haben" werde durch die plötzlich reduzierten kognitiven Fähigkeiten noch verschlimmert.

Medikamente können diese Ungleichgewichte ausbalancieren. Das Gehirn des Betroffenen bildet oft nicht genug vom Botenstoff Serotonin. Bestimmte Psychopharmaka, die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, verringern deswegen die Zwänge. Wahrscheinlich sind aber noch weitere Botenstoffe wie Dopamin und Glutamat an der Entstehung einer Zwangsstörung beteiligt.

Auch Hanna wurde medikamentös behandelt.

"Das hat mir schon geholfen, doch", gibt sie zu. Die Verhaltenstherapie sei jedoch eine ziemliche Zeitverschwendung gewesen. "Man versucht, den Patienten mit seinen Ängsten zu konfrontieren, die Reize immer wieder auszulösen. Wenn diese aber so diffus und schwer greifbar sind wie meine, ist das Ganze recht schwierig. Man kann mir schwerlich ein Reagenzglas mit Ebolaviren ins Gesicht schmeißen, mir gleichzeitig alle Internetpasswörter stehlen und sagen 'Taadaa, Reizprovokation!'"

Wobei: Diese Therapieform gilt derzeit als beste Maßnahme bei Zwangsstörungen. Der Erfolg hängt aber stark davon ab, wie weit Betroffene mitarbeiten können und wollen - und wie gut sie mit dem Therapeuten zurechtkommen. Hanna sagt rückblickend, sie hätte zu einem Psychoanalytiker gehen sollen. "Jemand, der überzeugt ist, dass psychische Deviationen eben nicht bloß Stoffwechselstörungen im Gehirn sind. Ich glaube, dass ich mit einem Philosophieprofessor oder sogar Pfarrer eine hilfreichere Unterhaltung über meine Seele haben könnte als mit einem Therapeuten", sagt Hanna und lacht.

Sie sei sich nicht einmal sicher, ob Medikamente oder Therapie irgendetwas zur Heilung beigetragen haben: "Zeit. Es war einfach die Zeit", glaubt sie.

Weitere Behandlungsmethoden

Obwohl die kognitive Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation in Kombination mit Serotonin-Psychopharmaka bislang das wirksamste Verfahren zur Behandlung von Zwangsstörungen darstellt, gibt auch Diplompsychologin Külz zu, dass man damit noch nicht die optimale Therapie erreicht habe: "Rund 30 bis 40 Prozent der Betroffenen leiden auch nach Abschluss der Behandlung noch an mehr oder minder schweren Zwangssymptomen." Aus diesem Grund schlage sie eine achtsamkeitsbasierte Stressbewältigungs-Therapie mit Yoga und Meditationselementen vor, die mittlerweile als Pilotstudie am Universitätsklinikums Freiburg getestet wird. Die Betroffenen sollen eine akzeptierende Haltung gegenüber der eigenen Erfahrung sowie den Zwangsgedanken und Impulsen erlernen.

Auch diskutiert wird die "Tiefe Hirnstimulation" zur Behandlung von Zwangsstörungen. Sie wird zurzeit nur bei schwerstbetroffenen Patienten erwogen, bei denen alles andere nicht angeschlagen hat. Seit 2009 ist der sogenannte "Hirnschrittmacher" bei Zwangserkrankungen in der EU zugelassen. Dabei werden eine oder zwei dünne Elektroden unter der Schädeldecke implantiert und über Kabel mit einem Impulsgeber im Bereich der Brust verbunden. Er gibt dauerhaft elektrische Impulse an die Zielregion im Gehirn ab, wodurch diese entweder deaktiviert oder stimuliert werden kann. Bei der Zwangsstörung bietet sich die beidseitige Stimulation des Nucleus Accumbens als Ziel an. Er gehört zum neuronalen Belohnungssystem des Gehirns und seine Aussschaltung könnte die Patienten von den quälenden obsessiven Gedanken und repetitiven Verhaltensweisen befreien.

Mittlerweile studiert Hanna Philosophie in Hamburg.

Sie genießt die Studentenzeit, die Stadt, die Menschen. Und mittlerweile spricht sie auch über die düsteren Teenagerjahre, vorsichtig jedoch. Das Geheimhalten sei großer Bestandteil der Krankheit. Man bringe Zwangspatienten bislang noch weniger Akzeptanz entgegen als Menschen mit anderen psychischen Leiden, findet sie. Sie würden oft als Freaks oder Schisser gelten.

Die Musik schallt aus den Boxen. Sie wirft die langen glatten Haare über eine Schulter und lässt den Blick über die zuckenden, schwitzenden Leiber schweifen. "Über zehn Jahre ist das alles jetzt her”, ruft sie über den Bass hinweg und lächelt triumphierend. Jeder fremde Schweißtropfen ist jetzt ein Sieg für sie.

Zum Weiterlesen:
  • G.E. Alexander, M. R. DeLong, P. L. Strick: Parallel organization of functionally segregated circuits linking basal ganglia and cortex. In: Annual review of Neuroscience, 1986, S. 357–381.
  • Nestadt, Gerald et al.: Genetics of OCD. In: Psychiatry Clinic North, 2010, S. 141–158.
  • Külz, Anne. Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie in der Behandlung von Zwangsstörungen. In: Psychiatrische Universitätsklinik Freiburg Presse, 2005.
  • Marco A. Grados, John Walkup, Samuel Walford: Genetics of obsessive-compulsive disorders: new findings and challenges. In: Brain and Development, o.S., 2003.
  • Lenertz, Leonard. Assoziation genetischer Varianten des serotonergen Systems mit der Zwangsstörung und kognitiven Endophänotypen. In: Presse Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, o.S., 2013.

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