Abruzzen Wein aus dem Ofen
Sanft geschwungene Hügelketten, Felder und Wälder wechseln sich ab, die langen Sandstrände der Adria und schroffe Berge rahmen diese Landschaft ein. Die Abruzzen sind ein Stück unberührtes Italien, eine Naturschönheit aber längst nicht mehr nur ein Ziel für Wanderer. Das wird uns schon bei der ersten Station unserer Reise klar: Gianni Masciarelli von der gleichnamigen azienda in San Martino sulla Maruccina südlich von Chieti begrüßt uns mit drei Bordeaux-Gläsern, in die er je einen Jahrgang seines besten Rotweins eingeschenkt hat.
Es ist der "Villa Gemma", ein reinsortiger Montepulciano d'Abruzzo, der nur von guten Jahrgängen abgefüllt wird. Masciarelli lässt ihn in offenen Holzständern vergären und baut ihn 18 bis 24 Monate in neuen Barriques aus. Erst fünf Jahre nach der Lese kommt er in den Handel die meisten Montepulciano haben sich in diesem Alter in Essig verwandelt oder wurden zu Industriealkohol weiterverarbeitet.
Bei diesem Wein hingegen steigert sich unsere Begeisterung von Glas zu Glas. Das Bukett des 1998er ist faszinierend: rote Beeren, Feigen, Dörrfrüchte, Waldboden, Herbsttrompeten, rotes Curry, Vanille, Zigarrentabak. Am Gaumen zeigt sich ein dichtes Gewebe von großer Expressivität, fülliger Eleganz und eindrucksvoller Klarheit. Der 1999er ist zurückhaltender in der Frucht, erdiger, puristischer, er wird mehr von den Aromen dunkler Gewürze und mediterraner Kräuter geprägt. Der Wein nimmt uns vor allem durch seine Vornehmheit ein.
Aufrichtig, stark und entschlossen
Schließlich kommt der 2000er zum Zug. "Unannata grandissima!", schwärmt Masciarelli, "ein gewaltiger Jahrgang". Der Duft ist in der Tat überwältigend, eine intensive und harmonische Komposition aus reifen dunklen Beeren, Feigen, Veilchen, Trüffeln, Kakao, Schokolade und Zigarrentabak. Der luxuriöse, kraftvolle Wein ist so füllig wie seidig am Gaumen, verbindet Konzentration und Komplexität mit Transparenz und Grazie. Keine Frage: Masciarellis "Villa Gemma" ist einer der feinsten Rotweine Italiens. Und dabei ist er ein Montepulciano!
"Von Banditen haben wir uns das Image des Montepulciano d'Abruzzo verhunzen lassen", schimpft Gianni Masciarelli auf die vielen Billigerzeuger. Sie hätten die lockeren Bestimmungen ausgenutzt, nach denen sich fast jeder hier gewachsene Wein mit dem Herkunftsprädikat DOC schmücken kann, und das Renommee der Region nachhaltig beschädigt. Dabei, sagt der Winzer, sei Montepulciano eine fantastische Rebsorte, "und ich bin stolz darauf, diesen Wein zu machen. Denn er ist auch Ausdruck dieser Region, der Landschaft, der Kultur und der Menschen: ein bisschen ungeschliffen vielleicht, aber dafür aufrichtig, stark und entschlossen."
So entschlossen wie Masciarelli selbst, der Anfang der 80er-Jahre mit zwei Hektar begonnen hat und heute mit seiner Frau Marina, einer gebürtigen Kroatin, 177 besitzt. Nur 20 Hektar davon sind allerdings mit Reben bepflanzt, und die sind auf weit verstreute Parzellen verteilt. Nach einer Experimentierphase von 20 Jahren weiß Masciarelli, was dem Montepulciano gut tut: "Die Sorte reift spät und braucht viel Sonne. Andererseits sind kühle Nachtwinde aus den Bergen willkommen, denn sie bringen Frische und Aroma."
Das Powerpaar genießt landesweit Respekt
So profitieren die zumeist sehr alten Reben in Controguerra von den Fallwinden des fast 3000 Meter hohen Massivs Gran Sasso dItalia, jene bei San Martino von der herrlichen Bergluft der Maiella und des Nationalparks. Unter dem Namen Marina Cvetic vermarkten die Masciarelli eine weitere Serie herausragender Montepulciano, außerdem drei sortenreine Olivenöle. Das Powerpaar genießt landesweit Respekt; Gianni Masciarelli gilt neben dem legendären Edoardo Valentini als Leitfigur im Weinbau der Abruzzen.
Ein Erfolgsduo bilden auch Sabatino Di Properzio und Stefano Inama. Eigentlich ist Stefano Inama für seine vorzüglichen Soave bekannt, die er im Veneto ausbaut. Das Potenzial der Rebsorte hat ihn aber ermuntert, mit seinem Freund Sabatino Di Properzio von der Fattoria La Valentina nahe Spoltore bei Pescara auch einen Einzellagen-Montepulciano zu wagen, den "Binomio". Die Trauben wachsen in 500 Meter Höhe auf einem der schönsten Weinberge der Abruzzen. Von hier aus ist die Montagna della Maiella bestens zu sehen, das gewaltige Bergmassiv, das den Charakter der Region prägt. Im Herbst, wenn die Spitze bereits mit Schnee bedeckt ist, kontrastiert das Weiß mit dem Goldgelb der Weinberge und dem Grün der Weiden und Wälder. Zwischen der ersten Schlittentour und dem letzten Sonnenbad des Jahres an den Stränden von Pescara liegen nur 30 Minuten Autofahrt. Sollte in dieser einzigartigen Lage nicht auch ein außergewöhnlicher Wein reifen?
Ja, findet Sabatino Di Properzio: "Wir haben einen alten Klon, der sehr niedrige Erträge bringt und noch aus dem Ursprungsgebiet des Montepulciano stammt, der Gegend von Casaura bei Sulmona, westlich der Maiella." Ehrgeizig und selbstbewusst ist der Winzer, der mit schickem Anzug, Lederslippers und Digitalkamera fast wie ein Manager daherkommt: "Der 'Binomio' soll ein urtypischer Montepulciano d'Abruzzo sein, einzigartig in der Welt und höchsten Ansprüchen genügen." Deshalb hat er die Produktion auch vor acht Jahren auf ökologische, zuletzt auf biodynamische Bewirtschaftung umgestellt.
Eine der besten Adressen in den Abruzzen
Die Montepulciano der Fattoria La Valentina werden vor allem von ihrer dunklen Farbe und klaren, reifen Frucht geprägt. Der "Binomio" 2001 ist konzentriert und kraftvoll, mit reifer, würziger Fruchtfülle und maskulinem Gerbstoffgerüst. Etwas rauchiger, frischer und subtiler, mit Kräuteraromen wie Thymian und Majoran, zeigt sich der andere Spitzenwein des Guts, der seidig und elegant strukturierte Montepulciano "Bellovedere". Er stammt von alten Reben, die um das Gut in unmittelbarer Nähe zur Adria wachsen. Wie der "Binomio", so ist auch er ein außergewöhnlich feiner Montepulciano. Die anderen Weine bestätigen ebenfalls unseren Eindruck: Dieses auf den ersten Blick unscheinbare Gut zählt zu den besten Adressen in den Abruzzen.
Ganz typisch für die Region sind dabei die Pergeln, an denen die Rebstöcke hochwachsen. Diese etwa zwei Meter hohen Stöcke teilen sich am oberen Ende in vier Arme, an denen die Trauben hängen. So werden sie im Winter vor Bodenfrost, im Herbst vor Feuchtigkeit und im Sommer vor der Reflektion der stark erwärmten Kalk-Lehm-Kiesel-Böden geschützt. "Wichtig ist, dass die Reihen gut durchlüftet werden, damit die Feuchtigkeit nicht auf den Beerenhäuten bleibt und den Pilzdruck erhöht", erklärt Elena Nicodemi vom traditionsreichen Weingut Bruno Nicodemi in Notaresco, nördlich von Pescara.
Um möglichst viele Reben mit alten, wertvollen Nicodemi-Klonen, insbesondere des Montepulciano, zu erhalten, hat sie mit ihrem Bruder Alessandro und landwirtschaftlichen Beratern das Pergelsystem optimiert. Bei Nicodemi wachsen jetzt nur zwei anstatt vier Arme aus dem oberen Endes des Stocks. Dadurch hängen die Trauben freier, bekommen noch mehr Licht und Luft. Außerdem haben die Winzer den Ertrag reduziert. Ihr Credo lautet: "Vom schlichten Roten bis zum Spitzengewächs, wir stehen für handwerklich gemachten Wein von hoher Originalität und Qualität." Tatsächlich besticht die gesamte Produktion durch ihre ausgewogene, elegante, authentische Art. Nicht nur die Top-Weine machen Freude schönere Alltagsgetränke als die einfachen Trebbiano und Montepulciano wird man in den Abruzzen wohl kaum finden.
Die charismatischen Weine von Don Luigi
Echten Winzerstolz strahlt auch Lorenzo Filomusi Guelfi aus, den wir in Tocca da Casauria treffen, südwestlich von Pescara. "Ich bin hier für alles verantwortlich, vom Rebstock bis zum Vertrieb. Nur nicht für das Wetter. Leider!", seufzt er. "2005 war nicht berauschend für Montepulciano, dafür gibt es die besten Weißen seit Jahren. Es war kühler als in den Jahren zuvor, und ab Mitte Oktober setzte Regen ein. Dabei braucht Montepulciano Hitze, weil er sehr spät reift. Das Jahr 2004 war auch kühl und regnerisch. Das Jahr davor war hingegen zu heiß und zu trocken."
Und 2002? "Zu viel Regen." 2001? "Grande!" 2000? "Grandissima!" Wer die letzten Abruzzen-Jahrgänge nachvollziehen möchte, ist bei Filomusi Guelfi genau richtig. Sein 2001er Montepulciano ist verführerisch, sicher einer der feinsten dieses Jahrgangs. Auch unter den Gewächsen von 2002, obgleich ein nasses Jahr, gibt es kaum finessenreichere, charaktervollere Montepulciano. Hier ist nichts von jenem künstlichen "Puccini-Schmelz" zu finden, mit dem so viele vor allem schwächere italienische Rotweine gern mal aufpoliert werden.
Ein kostbarer Schatz für die Zukunft
Schmelz haben zwar auch die Weine von Rocco Pasetti vom Weingut Contesa di Rocco Pasetti in Collecorvino. Doch der sympathische Winzer verzichtet auf Kellertricks obwohl er als Önologe jede kleine Unebenheit locker ausbügeln könnte: "Ich möchte keine amerikanischen, sondern mediterrane Weine erzeugen. Wir haben das Meer vor der Tür und eine der edelsten autochthonen Rebsorten der Welt. Das ist ein kostbarer Schatz, besonders für unsere Zukunft." Den Montepulciano sieht Pasetti gleichberechtigt neben Cabernet und Merlot, Nebbiolo und Sangiovese. Seine Gewächse glänzen mit reifem, seidigem Fruchtschmelz und bestechen durch ihre balancierte Art. Seine Weine sind allesamt verführerisch elegant und sinnlich. Mediterrane Typen eben, die bella figura machen.
Markanteres Profil haben hingegen die charismatischen Weine von "Don" Luigi Cataldi Madonna, der allein einen Palast in Ofena in der Provinz L'Aquila bewohnt. Dieses windgeschützte Zentrum der Abruzzen macht das kontinentale Klima im Sommer zum gefürchtet heißen forno d'Abruzzo, zum "Ofen" der Region. Die Berge hingegen sorgen für kühle Nächte und oft harte, lange Winter. Möglicherweise ließe sich auf den Kalksteinböden sogar Merlot erzeugen, doch mit den internationalen Sorten hat Luigi Cataldi abgeschlossen. "Ich habe ein kleines Gut, da kann ich nur eine Richtung einschlagen: international oder regional. Ich liebe Montepulciano, und von den anderen Rebsorten verstehen andere ohnehin mehr als wir hier."
Den klaren Worten des Professors für Philosophie (seine Schwerpunkte: Kant und die deutsche Aufklärung) entspricht ein schnörkelloser Weinstil. Die interessantesten Gewächse sind die beiden Montepulciano Cerasuolo. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedlich vinifizierte rosati, also hellrote Montepulciano. Der warmtönige, gehaltvolle "Piè delle Vigne" kommt wie ein Rotwein daher, ist nur transparenter in der Farbe und mit weniger Gerb- und Bitterstoffen ausgestattet, dafür mit um so mehr eleganten Kirschnoten. Cataldis Rezept: 80 Prozent des Mostes sind früh von den Schalen getrennt und separat weiß vergoren worden, während die restlichen 20 Prozent wie ein Rotwein ausgebaut wurden.
Nichts wird dem Zufall überlassen
Der zweite Cerasuolo erhält seine kirschrote Farbe durch eine kurze Maischestandzeit und wirkt wie eine Light-Version des "Piè delle Vigne": Er duftet nach frischen roten Beeren und Kirschen, besitzt florale Noten (Rosen!) und einen sehr feinen Bittermandelton im Nachhall. Beide Weine zählen zu den feinsten Cerasuolo überhaupt, neben dem von Edoardo Valentini und dem "Myosotis" von Marcello Zaccagnini. Dieser saftige, delikate Rosé-Typ aus den Abruzzen lässt sich gut mit den Tavel von der Rhône vergleichen. Er passt zu Antipasti, Fisch und leichten Fleischgerichten.
Die tiefroten Weine aus den Abruzzen, die am feinsten geschliffen und technisch perfekt sind, macht Marcello Zaccagnini in Bolognano. Schon die riesige Skulptur in Form eines Auges vor seinem Weingut Ciccio Zaccagnini symbolisiert absolute Kontrolle. Nichts wird hier dem Zufall überlassen, alles steht unter computergestützter Überwachung. Marcello Zaccagnini führt eine der modernsten Kellereien Italiens und beschäftigt mit dem jungen Concezio Marulli einen Önologen, der schonende Analysemethoden und Techniken der Vinifizierung tatkräftig mitentwickelt.
Wein ist bei Zaccagnini nicht nur flüssig zu haben, sondern auch in Form von Tabellen mit Werten exakt vermessener Farb-, Inhalts- und Geschmacksstoffe. Ein Koordinatensystem gibt die sensorischen Eigenschaften jedes Weins an, noch bevor ihn jemand probiert hat. So gelingt es, alle Weine auf ein gemeinsames Profil hin zu trimmen, ob Montepulciano, Trebbiano San Clemente oder Chardonnay: Sie schmecken extrem weich, mit Frucht-, Röst- und Lakritzaromen in jeweils identischer, stattlicher Dosierung; florale Noten und Adstringenz sind ausgeschlossen. Die nicht ganz unterdrückte, aber kaum wahrnehmbare Säure wie auch ein Rest Bitterkeit kann man als Kavaliersdelikte betrachten Zaccagninis Weine gefallen Freunden unkomplizierter, aber guter Gewächse.
Regionale Spezialitäten als Überlebensstrategie
Wie vielschichtig der Montepulciano aus den Abruzzen ausfallen kann, beweisen drei weitere Winzer: Einen eher klassisch französischen Stil präsentiert das schönste Weingut der Region, die Azienda Orlandi Contucci Ponno von Marina Orlandi Contucci in Roseto degli Abruzzi. In der Provinz Teramo entstehen ein Chardonnay wie aus Burgund, ein saftiger Sauvignon sowie zwei echte Bordeaux-Charaktere aus Cabernet, Malbec und Petit Verdot. Dino Illuminati setzt in Controguerra hingegen auf einen opulent-internationalen, vor allem amerikanischen Stil. Dennoch werden seine Montepulciano zu den besten gezählt, ebenso wie der eher altmodische, aber darum faszinierende Montepulciano d'Abruzzo von Edoardo Valentini in Loreto Aprutino.
Das hügelige Molise beginnt südlich der Abruzzen. Milder ist das Klima, und den Weinen fast alle stammen aus der Provinz Campobasso mangelt es nicht an Charme, oft aber an Persönlichkeit. Reinsortige Montepulciano werden kaum gekeltert, viele der besten Weine erinnern an Süditalien: Aglianico vom Weingut Di Majo Norante und "Fallanghina" von Borgo di Colloredo. Von diesem Gut stammt auch unser Favorit, der traditionelle "Biferno Rosso" aus Montepulciano und Aglianico samtig, zuweilen ätherisch und recht früh zugänglich.
Patron Enrico Di Giulio lädt uns in der Hafenstadt Termoli in die Trattoria "Z' Bass" ein. Auf den "Fallanghina", der zu den frischen Fischen passt, ist er besonders stolz. "Im Zeitalter der Globalisierung", sagt di Giulio, "ist die Konzentration auf regionale Spezialitäten eine Überlebensstrategie." Wir konzentrieren uns einstweilen auf tubetti in brodo di pesce: Niemand sollte abreisen, ohne diese Pasta mit Muscheln und Scampi probiert zu haben.