Bahn-Gepäck im Check Mit Schokolade gegen den Streik
Adrian Vogel hofft, am frühen Nachmittag per Fernbus in Amsterdam zu sein. Der 28-Jährige aus Weimar hat gerade eine Trennung hinter sich und deshalb spontan entschieden, bis Ende des Monats durch Europa zu reisen. Der Gitarrist der Gruppe "Die Apokalyptischen Reiter" will nach Paris, Lissabon und von dort dann mit einem Mietwagen durch Portugal fahren. Er hat eine BahnCard, "aber die nützt mir jetzt ja nichts". Auf der Busfahrt will er vor allem Musik auf seinem Smartphone hören, zum Beispiel von Jay Luxe, den er gerade im "Kleinen Donner" in Hamburg auf der Bühne erlebt hat. "Wenn Bahnstreik ist", sagt Vogel, "merken wir das auch - an der Abendkasse." Zu einem Konzert seiner Band neulich hätten viele Leute nicht kommen können, weil die Züge nicht fuhren.

Auf Ärger eingestellt: Lokführer Johannes Montag
Foto: Achim MulthauptJohannes Montag gehört zu den Streikenden und hat sich deshalb vor allem auf eines vorbereitet: viel Ärger. "Bei den letzten Streiks war der Ansturm groß", sagt der 29-Jährige. "Die Leute wollten alle ihren Frust loswerden." Heute ist das anders: Die etwa 15 versammelten Lokführer bleiben weitgehend unter sich. Montag steht seit 7 Uhr in der Kälte, um "für faire Löhne und fairen Wettbewerb" zu demonstrieren. So steht es auf den Flugblättern, die sie an die Menschen verteilen, die mehr über ihren Ausstand wissen wollen. "Aber es fragt ja keiner nach", sagt Montag achselzuckend. Um der frostigen Stimmung zu trotzen, hat er sich morgens noch extra einen dicken Pulli unter die Jacke gezogen und "Klingelgeld für Kaffee" eingesteckt.

Nach Amsterdam mit Musik im Ohr: Adrian Vogel am ZOB in Hamburg
Foto: Achim MulthauptLina A. war ein paar Tage bei einer Freundin in Kiel und ist nach einem Zwischenstopp bei ihrem Cousin in Hamburg nun auf dem Rückweg nach Gevelsberg in Nordrhein-Westfalen. Hin ist die 25-Jährige mit der Bahn gefahren, aber: "Ich hatte schon so ein mulmiges Gefühl und mir deshalb kein Rückfahrticket gekauft." Bei den Fernbussen war alles voll, deshalb hat sie nach einer Mitfahrgelegenheit gesucht. Mit zwei Koffern nicht ganz einfach, "aber dann habe ich doch eine bei BlaBlaCar gefunden". Die Politologin hat ihren Laptop dabei, um sich die Zeit zu vertreiben. In dem vollen Auto kommt sie an den aber gar nicht ran. Greifbar sind nur eine Packung Schokoriegel - Nervennahrung für eine Fahrt, die sechs, sieben Stunden dauern wird statt der erwarteten 4,5.

Gabi Cafdar freut sich über Kunden und Kollegen - zumindest die einen sind da
Foto: Achim MulthauptGabi Cafdar arbeitet seit 14 Jahren im Imbiss "Wurst und Durst". Sie hat den Nachtbus aus Harburg genommen, um pünktlich um 3.30 Uhr hinter ihrem Tresen am Hamburger Hauptbahnhof zu sein. Ihre Kollegen sind teils eine Stunde zu spät gekommen, weil sie auf die Bahn angewiesen sind. Wie der Streik sich sonst noch bemerkbar macht? "Keine Kundschaft!", sagt die 62-Jährige und zeigt auf die Leere vor ihren Mettbrötchen. Sonst stehen die Leute hier morgens Schlange. Cafdar ärgert sich deshalb zwar über den Streik, lässt sich die Stimmung aber trotzdem nicht verderben. "Das Einzige, was ich brauche, um gute Laune zu haben, sind meine Kollegen und die Kunden", sagt sie - und zumindest das Team ist am späten Morgen endlich vollzählig.

Der Ersatzfahrplan und viel Zuversicht: DB-Auszubildende Jessica Louwers
Foto: Achim MulthauptEin Lächeln, Informationen zu Bus-Alternativen und der Notfallfahrplan - das sind die Dinge, die Jessica Louwers durch den Streiktag bringen. Die 21-Jährige ist Auszubildende bei der Deutschen Bahn. Die angehende Kauffrau für Verkehrswesen hat während eines GDL-Streiks schon mal Dienst an der kleinen Informationstheke vor dem Reisezentrum gehabt. Sie weiß also, dass sie bei den Rat suchenden Reisenden mit Frust rechnen muss. Trotzdem bleibt sie entspannt. "Ich kann das gut verstehen", sagt sie. "Und ich sehe das alles als Erfahrung." So ein Streik ist eben auch eine Möglichkeit, den Umgang mit verärgerten Kunden zu üben. Und Möglichkeiten zu trainieren, gibt es genug: In den ersten zweieinhalb Stunden ihres Einsatzes waren erst 30, 40 bei ihr - aber dann bildet sich auch schon die erste längere Schlange des Tages.

Auf den Metronom umgestiegen: Friseur Tom Kroboth
Foto: Achim MulthauptTom Kroboth hat sich für seine Fahrt nach Bremen mit Cola versorgt, einem Brötchen ("Käse-Pute") - und einem dicken Stapel "Haar-Zeitschriften". Der 45-Jährige ist Friseur und von Berlin über Hamburg auf dem Weg zu Kunden. Der gebürtige Österreicher hat Glück: Ein Metronom bringt ihn problemlos ans Ziel. Eigentlich hatte er nur sein Bahnticket umbuchen wollen, sagt er, aber die Schlangen im Service-Center seien "riesig" gewesen. Dann hat er auf Anraten von Freunden den Stand der Privatbahn außerhalb des Bahnhofs gesucht und sich dort eine Fahrkarte gekauft. "Dieses Mal passt alles zufällig", sagt Kroboth. "Aber ich habe wegen der Streiks auch schon Aufträge verloren. Einfach, weil ich nicht rechtzeitig da sein konnte."

Berlin, Berlin, sie fahren nach Berlin: Doris Großmann (l.) und Ursula Schiller
Foto: Achim MulthauptNoch einmal Berlin sehen - das hat Ursula Schiller sich gewünscht. Deshalb sitzen die 79-Jährige und ihre Tochter Doris Großmann jetzt am Bahnsteig und warten. In ihren Händen halten die beiden Hamburgerinnen große Becher Kaffee. Der wichtigste Proviant für ihren Streiktag ist aber die Vorfreude, und die kann nichts trüben. "Wir wollen unbedingt auf die Reichstagskuppel", sagt Großmann, "und ins Café Kranzler", ergänzt Schiller. Weil sie noch nicht wissen, wann sie am Samstag zurückfahren können - "den Ersatzfahrplan dafür gibt's heute ja noch nicht" - hat Großmann aber zum Nachschauen extra ihren Laptop eingepackt.

Vorfreude im Gepäck: Margit Gosch (l.), Siegfried Kurt und Regina Mason
Foto: Achim MulthauptSie stehen am Anfang einer großen Reise: Margit Gosch, 67, Siegfried Kurt, 53, und Regina Mason, 64 (von links), wollen heute noch nach Jordanien. Dafür müssen sie um 14.40 Uhr ihren Flug in Berlin-Tegel bekommen. Wie sie das trotz Bahnstreik schaffen sollen, haben sie in den vergangenen Tagen mehrfach durchgespielt. "Wir haben ein paarmal umgebucht - mit Reservierungen", sagt Kurt. Um ganz sicher zu gehen, haben die drei sich jetzt auf den 8.06-Uhr-Zug nach Berlin geeinigt. Extra-Streik-Utensilien haben sie nicht dabei. "Wir haben ja uns", sagt Regina Mason und lacht. Diskutiert wird auch: Während Gosch und Mason den Streik unverhältnismäßig finden, ist Kurt dafür. Aber wenn sie erst im Flugzeug sitzen, ist das sowieso vergessen.

Heimaturlaub: Sabine Weber will mit der Bahn von Hamburg nach Mainz
Foto: Achim MulthauptZurück in die Heimat, nach Mainz, möchte Sabine Weber. Die Soldatin macht in Hamburg gerade ein Praktikum im Krankenhaus, als Vorbereitung auf ihr späteres Medizinstudium. Sie musste wegen des Streiks einen Tag früher los als geplant - "weil ich sonst keine passende Rückfahrt mehr bekommen hätte", sagt sie. Wenn die Bahn nach Frankfurt pünktlich losfährt, muss sie sich noch überlegen, wie sie von da nach Mainz kommt, "denn die S-Bahnen fahren da ja auch nicht". Entspannt bleibt die 18-Jährige dank ihres Smartphones, auf dem sie Spiele spielt und über das sie Musik hört, Tim Bendzko zum Beispiel - "und Schokolade habe ich auch dabei".

Meike Wagner vertreibt sich die Zeit mit einem Buch
Foto: Achim MulthauptMeike Wagner musste wegen des Streiks einen Umweg nehmen. Statt wie sonst mit der Regionalbahn von Hamburg-Rahlstedt in die Stadt zu kommen, musste die 22-Jährige mit dem Auto zur nächstgelegenen U-Bahn-Station fahren, um dort die öffentlichen Verkehrsmitteln zu nehmen. Der Park-and-Ride-Parkplatz war Gott sei Dank noch leer, sagt sie. "Wahrscheinlich weil ich so früh dran bin." Um 7.30 Uhr ist sie am Hauptbahnhof, noch rechtzeitig, um pünktlich zu ihrer schulischen Ausbildung als Medizinische Kosmetikerin zu kommen. Ihr Streikgepäck ist ein Buch: "Das Schicksal ist ein mieser Verräter".

Vollkommen unvorbereitet: Kirstyan Pachev ist auf dem Weg nach Italien
Foto: Achim MulthauptKristyan Pachev hat vom Bahnstreik gar nichts mitbekommen. Der Bulgare, der aus Kopenhagen über Hamburg und München nach Trento möchte, spricht nämlich kein Deutsch. Dass sein Zug gen Süden um 7 Uhr nicht wie geplant fährt, hat er erst am Bahnhof erfahren. Nun geht es wahrscheinlich um 10 Uhr weiter. Auf den Ausstand vorbereiten konnte sich der 39-Jährige also nicht. "Und das ist das erste Mal überhaupt, dass ich den Zug nehme, anstatt zu fliegen", sagt er und seufzt. Lust zu lesen oder Musik zu hören, hat er aber ohnehin nicht: "Ich will nur schlafen." Eigentlich sollte er um 18 Uhr in Trento sein, bei seiner Familie. Jetzt ist er mindestens vier Stunden länger unterwegs.

Gepäck zum Bahnstreik: Kaffee, Freunde und Musik
Überblick: Der Tarifkonflikt bei der Bahn
Die GDL fordert fünf Prozent mehr Lohn bei kürzeren Arbeitszeiten. Zusammengerechnet ergibt sich eine Steigerung von 15 Prozent. Weselsky will zudem künftig nicht nur Tarife für die rund 19.000 Lokführer aushandeln, sondern auch für die Zugbegleiter und Rangierführer unter den GDL-Mitgliedern. Bislang wurden diese von der Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vertreten.
Video-Aufruf: Sie stehen am Bahnsteig oder stecken im Verkehrschaos? Dann schicken Sie uns einen Zehn-Sekunden-Clip mit Ihrem Kommentar an: bahnstreik@spiegel.de