
#YellowTheWorld: Gelb macht die Welt sichtbar
Weltenbummler mit Sehbehinderung Schritt für Schritt durchs Himalaya
Dario Sorgato sitzt erschöpft im Schnee vor den Zelten des Everest Base Camp. Er weint. Und er hat Angst um sein Augenlicht. Ist es die Höhe von fast 5400 Metern, ist es die Sonne? Seine Sicht ist so schlecht wie nie. Und das, nachdem er sein lang ersehntes Ziel am höchsten Berg der Welt erreicht hat.
Sorgato schaut in die Kamera und hält ein gelbes "Daumen hoch"-Symbol hoch, das Zeichen von #YellowTheWorld, seiner Kampagne für eine behindertengerechtere Welt. "Ich weiß nicht, welchen Preis ich dafür zahlen werde", sagt er. Aber den riskanten Aufstieg habe er gewagt, um Aufmerksamkeit zu gewinnen "für diesen verdammten gelben Daumen. Und für all die Menschen, die vielleicht durch ihre eigenen Grenzen aufgehalten werden." Sie sollten wissen, dass es möglich sei.

Dario Sorgato am Everest Base Camp
Foto: noisyvision.orgDrei Jahre danach: Auf einer Reisemesse in Berlin hat der 39-Jährige gerade vor Publikum von seinem Abenteuer erzählt. Kinder toben kreischend in der Halle, in der Ferne hört man den nächsten Vortragsredner. Mit früheren Hörgeräten wäre diese Situation ein Albtraum gewesen, heute nicht mehr. Sorgato versteht die Fragen gut. "Alles eine Sache der Technikentwicklung", sagt er.
Dario Sorgato leidet seit seiner Jugend an dem Usher-Syndrom, einer fortschreitenden Hörsehbeeinträchtigung, die als häufigste Ursache von erblicher Blindtaubheit gilt. "Mit 16 Jahren begann ich, über Hindernisse zu stolpern. Bis 25 bin ich noch Auto gefahren. Heute kann ich kaum ohne meinen Stock gehen. Berlin ist aber auch eine besonders dunkle Stadt" - hier lebt der Italiener seit sieben Jahren. Inzwischen ist der Hörverlust zum Stillstand gekommen, der Sehverlust nicht. Zurzeit sei es ein Mix aus Tunnelblick und Nachblindheit, sagt er, eines Tages aber könnte er ganz blind sein.
Wüstensand schluckt alle Geräusche
Trotz seiner Einschränkungen ist Sorgato mit dem "Travel Bug" infiziert, sagt er, dem Reisevirus: "ein Hunger, der niemals gestillt werden kann". Seine Reiselust begann mit Mitte 20 mit einer Australienreise - damals konnte er noch gut sehen. Auf einem Segelboot kreuzte er zwei Jahre lang durch die Karibik und lernte zur Sicherheit, jeden Befehl des Kapitäns zu wiederholen. Auf 800 Kilometer Jakobsweg sah er Wegweiser nicht, verirrte sich oft und fragte sich durch.
In Marokkos Wüste entdeckte er, dass Sand alle Geräusche schluckt und die Orientierung unmöglich macht. China und Vietnam erlebte er als am schwersten zu bereisen: der Verkehr, die Kommunikation - ein Alptraum. Dazu kennen Chinesen die Bedeutung des weißen Blindenstocks nicht und waren irritiert. New York zu erkunden, fiel ihm dagegen leicht: Die Straßen sind auch nachts gut beleuchtet, in der Metro konnte er sich gut orientieren.
Sorgato reist zwar manchmal mit Freunden, am liebsten aber allein. "Dann kann ich mir meine Zeit nehmen. Und wenn ich mich unwohl mit etwas fühle, dann mache ich es eben nicht." In einer Stadt bei Dunkelheit zu einem Restaurant zu gehen, sei zum Beispiel viel zu stressig. "Wenn man reist, kann man sowieso nicht alles machen", sagt er. Hilfe holt er sich dort, wo er sie braucht: "In Marrakesch sind Menschen, Autos, Esel, Motorräder auf der Straße unterwegs. Dort habe ich einen Führer engagiert, der mich an der Hand herumführte." In Asien lässt er sich mit Tuktuks durch die Städte fahren - "wenn der Fahrer Englisch kann, lernt man viel".

#YellowTheWorld: Gelb macht die Welt sichtbar
Dario Sorgato ist mutig, seine Freunde nennen ihn "crazy". Er selber sagt, er habe gelernt, seine Einschränkungen zu akzeptieren. Viele Jahre habe er gebraucht, um zu einer positiven Einstellung zu kommen. 2011 gründete er das Netzwerk NoisyVision für Hör- und Sehbeeinträchtigte, das Motto der Website: "We don't see the problem." 2014 startete er in Helsinki seine Kampagne #YellowTheWorld, um die Welt dort gelb anzumalen, wo sie nicht barrierefrei ist. "Gelb ist die Farbe, die am besten sichtbar ist, und die Farbe des Glücks, der Freude und Leidenschaft", sagt der Italiener.
Mit Daumen-Aufklebern markierten Sorgato und Freunde in der finnischen Stadt Hindernisse oder etwa Tafeln, die für sie nicht lesbar sind. "Man muss ja nicht die Schrift größer darstellen", sagt Sorgato. Ein QR-Code helfe schon, damit man die Information auf sein Smartphone herunterladen und vergrößern könne. Mit gelbem Klebeband kennzeichneten sie Orte, wo schwarze Wände auf schwarzen Fußboden treffen, wo schwarze Treppenstufen für Menschen, die schlecht sehen, unsichtbar sind.
Angst und Einsamkeit im Himalaya
Sorgatos Motto ist "Through the limits and beyond" - bis zur Grenze und darüber hinweg. In Nepal jedoch ist er fast zu weit gegangen: "Manchmal habe ich nicht geglaubt, dass ich wiederkomme", sagt er. Der Pfad über Matsch, Steine und Eis zum Everest-Basislager war anspruchsvoll. Mit Wanderstöcken in den Händen tastete er sich vor, folgte Schritt für Schritt seinem Bergführer. Sobald sein Schatten vor ihn auf den Boden fiel, konnte er den Untergrund nicht mehr einschätzen. Auch wurde seine Sicht mit zunehmender Höhe immer verschwommener und die Angst, seine Augen irreparabel zu schädigen, immer größer. Oft stürzte er, schlug sich Kopf und Beine an.
Mit seinem Guide konnte er sich nur mühsam verständigen, er fühlte sich extrem einsam. "Sehr viel mehr als sonst, wenn ich alleine reise", sagt er. Irgendwann überlegte er, abzubrechen - doch er ging weiter. Auf den letzten Kilometern kämpfte er mit seinem Atem, mit Erschöpfung. Und dann kam das Gefühl, es geschafft zu haben: "Das ist die Stille, die ich erleben wollte, und die Berge, die ich sehen wollte - das ist überwältigend", sagt er in die Kamera, mit der er seine vierwöchige Wanderung dokumentierte.
Zum Glück erholten sich seine Augen schon beim Abstieg in geringere Höhen: In Kathmandu konnte er auf seinem E-Book wieder lesen. "Jetzt, drei Jahre danach, kann ich sagen, dass es die richtige Wahl war", sagt Sorgato. "Wenn du ein Anwalt für Behinderte sein willst, musst du als Erster die Barrieren durchbrechen."