Entgleister Zug Wie es zu dem ICE-Unfall kommen konnte
Das Unglück geschah direkt vor dem schwarzen Loch: Um 21.05 Uhr am Samstagabend raste der ICE 885 vor der Einfahrt in den Landrückentunnel in eine Schafherde. Geschwindigkeit: 220 km/h. Zehn der zwölf Waggons und beide Triebwagen entgleisten im Tunnel bei Kalbach in Nordhessen. 19 von 135 Reisenden wurden verletzt, vier von ihnen mussten mit Knochenbrüchen und Platzwunden die Nacht im Krankenhaus verbringen.
Ein verheerendes Szenario - doch vermutlich hatten die Passagiere Glück im Unglück. Dass der Zug erst im Tunnel entgleiste, habe möglicherweise Schlimmeres verhindert, sagte Bundespolizeisprecher Reza Ahmari am Sonntag. "Im Tunnel wurde ein Ausbrechen der Waggons und damit deren Aufeinanderprallen verhindert." Auch Jörn Pachl, Professor für Verkehrssicherheit an der TU Braunschweig, teilt die Ansicht: "Der Zug wurde so in Form gehalten", sagte er zu SPIEGEL ONLINE. Dagegen meint der Kasseler Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Tunnel den Zug quasi in der Spur hielt und so ein größeres Unglück verhinderte. Der Zug hätte anders ausgesehen, wenn er immer wieder die Wände berührt hätte."
Außerhalb des Tunnels wäre nach Holzapfels Ansicht womöglich sogar weniger passiert: "Es hat schon ähnliche Unfälle auf freier Strecke gegeben, sowohl mit dem französischen TGV als auch mit dem deutschen ICE. Die hohe Geschwindigkeit der Züge hat die Tiere dann einfach weggeschleudert." Im Landrückentunnel seien die Kadaver hingegen auf den Gleisen geblieben - und hätten so möglicherweise die Achsen verklemmt.
Das ICE-Unglück wirft fünf entscheidende Fragen auf, die Experten zu beantworten versuchen:
Hätte alles viel schlimmer sein können?
Der Unglückszug fuhr von Nord nach Süd durch den Landrückentunnel. Zu einer Katastrophe hätte es kommen können, wenn ein Zug aus der Gegenrichtung an dieser Stelle auf die Schafsherde geprallt und entgleist wäre. Denn kurz nach dem nördlichen Tunnelausgang kommt eine Bahnbrücke. Dort hätte ein entgleister Zug keinen Halt gefunden - und wäre womöglich in die Tiefe gestürzt.
Einer solchen Katastrophe sind die Passagiere des ICE 782 von München nach Hamburg/Bremen knapp entgangen: Der Zug hatte nur wenige Minuten vor dem verunglückten ICE 885 den Tunnel in der Gegenrichtung passiert. Der von Süden kommende Zug rammte an der Tunnelausfahrt zwei Schafe, der Zugführer musste eine Vollbremsung durchführen. "Der Zug bremste stark, es hat gestunken", berichtet Ulrich Delius SPIEGEL ONLINE. Der 49-Jährige saß im dritten Wagen des ICE 782. "In einer Durchsage wurde gesagt, dass es ein Unfall mit einem Tier gegeben habe und dass der Schaden angeguckt werden müsse."
Der Zug, der in Nürnberg mit einer Verspätung von zwölf Minuten abgefahren sei, sei dann mit einer Geschwindigkeit von 160 statt mit 220 Kilometern pro Stunde weitergefahren. In Fulda sowie in Kassel-Wilhelmshöhe habe sich die Bundespolizei die Schäden am Triebwagen angeschaut, wie Delius zufolge in Durchsagen angekündigt wurde. Mit einer Verspätung von rund 35 Minuten traf Delius an seinem Zielbahnhof Göttingen ein. "Es wird immer von Beinahe-Katastrophe gesprochen", sagt Delius, "was wäre gewesen, wenn erst unser Zug entgleist und dann der andere in uns hineingefahren wäre?"
Einen Bericht der in Bielefeld erscheinenden "Neuen Westfälischen" über den Gegenzug hat die Bahn inzwischen bestätigt. Der Zugführer verhielt sich einem Bahnsprecher zufolge korrekt und meldete den Schaden. Ob er die ganze Schafherde sehen konnte oder womöglich den entgegenkommenden ICE 885 hätte warnen können, ist bislang unklar und wird von der Bahn noch untersucht. Die Polizei schweigt "aus ermittlungstaktischen Gründen" dazu.
Wie sind die Schafe auf die Gleise geraten?
Das ist noch nicht geklärt. Der Besitzer der Schafe, Norbert W., der zum Unfallzeitpunkt auf einer Familienfeier war, meint, dass die Schafe auf die Gleise getrieben wurden. "Schafe laufen nicht einfach auf Gleise", sagte der Landwirt aus Mittelkalbach. "Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich meiner Sorgfaltspflicht als Schäfer nachgekommen bin." Bereits vor zwei Tagen habe es Probleme gegeben, weil Unbekannte Hunde von der Weide gejagt hätten.
Die Geschäftsführerin des hessischen Verbands für Schafzucht und -haltung, Dagmar Rothhämel, sagte, Schafe verließen normalerweise ihre Koppel nicht, wenn sie nicht aufgeschreckt würden: "Die Koppel war korrekt eingezäunt und noch dazu durch einen Bach vom Tunnel getrennt." Zudem sei ein bereits vor zehn Jahren gestellter Antrag auf Errichtung eines Schutz- oder Fangzauns am Tunneleingang wegen zu hoher Kosten seitens der Bahn abgelehnt worden, erklärte Rothhämel unter Berufung auf den Schafhalter.
Die Bundespolizei hat inzwischen ein Strafverfahren gegen Norbert W. eingeleitet. Dem Mann wird ein gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr vorgeworfen, wie der Sprecher Reza Ahmari am Montag sagte.
War eine Weiche im Tunnel Ursache des Unglücks?
Die Ermittler gehen den Angaben zufolge weiter davon aus, dass die Schafe den Unfall verursachten. Eine Weiche an der Unglücksstelle sei vermutlich nur sekundär von dem Unfall betroffen und nicht ursächlich dafür gewesen. Dies werde aber von den Kollegen vor Ort überprüft.
Der Kasseler Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel hält schon das Vorhandensein einer Weiche in einem Tunnel für bedenklich: "Ein Bild zeigt offensichtlich einen Weichenkörper. Weichen sind aber immer Schwachpunkte, gerade bei Hochgeschwindigkeit. So etwas in einen Tunnel zu bauen, könnte man fast als fahrlässig bezeichnen."
Sollten alle Hochgeschwindigkeitsstrecken eingezäunt werden?
Anders als auf den TGV-Strecken in Frankreich sind auf den Gleisen in Deutschland alle Zugtypen unterwegs. "Nur zwischen Frankfurt und Köln gibt es separate ICE-Strecken", sagte ein Bahnsprecher SPIEGEL ONLINE. Eine Einzäunung der insgesamt rund 34.000 Bahnstreckenkilometer sei nicht möglich und nicht sinnvoll. Eine komplette Einzäunung der Gleise lehnen auch die Experten Pachl und Holzapfel ab: "Die ICE werden auch mal umgeleitet, und man kann nicht ganz Deutschland einzäunen", sagte Holzapfel. Die Tunneleingänge müssten aber besser gesichert werden.
Die Sicherungen an den Tunneleingängen seien eigentlich sicher, würden aber noch einmal untersucht, kündigte Bahn-Chef Hartmut Mehdorn in Berlin an. "Das darf nie wieder passieren, und dafür werden wir sorgen", betonte er. Er selbst hätte es nie für möglich gehalten, dass eine Schafherde mit 60 Tieren in einen Tunnel gelange. Dies sei auch weiter rätselhaft.
Wieso wird die Strecke so lange gesperrt?
Die Strecke zwischen Fulda und Würzburg soll wegen der Aufräumarbeiten und der Spurensicherung mindestens bis zum nächsten Wochenende gesperrt bleiben. Die Schäden in dem Tunnel sind laut Bundespolizeisprecher Ahmari erheblich und belaufen sich nach ersten Schätzungen auf mehrere Millionen Euro. Das Gleisbett wurde schwer beschädigt, und auch Betonteile wurden von dem entgleisten Zug herausgerissen. Die Standfestigkeit des Tunnels ist nach diesen Angaben aber nicht beeinträchtigt.
ICE-Züge der Linie Hamburg/Bremen-Würzburg-München sowie Intercity-Züge der Linie Hamburg-Kassel-Augsburg- München werden über Flieden-Elm-Jossa umgeleitet. Die Reisenden müssten mit 20 bis 40 Minuten längeren Fahrtzeiten rechnen, sagte ein Bahnsprecher. Auf diesen Strecken verkehre im Schnitt aber nur ein Zug pro Stunde in jede Richtung. Der Regionalverkehr und die Strecke Fulda-Frankfurt seien von den Behinderungen nicht betroffen.
Auf den Bahnverkehr am kommenden Wochenende sollen die Arbeiten keine weiteren Auswirkungen haben. Es bleibe bei den Verzögerungen für die betroffenen Verbindungen, sagte ein Sprecher. Wegen des Feiertags am 1. Mai dürften am kommenden Wochenende viele Menschen mit der Bahn reisen. Informationen über aktuelle Auswirkungen auf den Bahnverkehr bekommen Reisende im Internet . Reisende mit zuggebundenen Tickets (Sparpreis- oder Dauerspezial-Ticket), die von der Fahrtzeitverlängerung auf dieser Strecke betroffen sind, können auf die nächstfrühere Verbindung ausweichen.
Für Fahrgäste, die von dem Unfall betroffen sind, ist laut Bahn bis Dienstag um 18 Uhr eine kostenlose Info-Hotline mit der Nummer 0800- 3111111 eingerichtet.
abl/AP/dpa