Estland Ignorierte Grenzen
Tallinn - Die Esten mögen ihre Wölfe: den Jägern sind sie begehrte Beute, den Naturschützern schützenswerte Lebewesen, den Wissenschaftlern faszinierendes Forschungsobjekt. Der Wolf ist als Motiv aus der estnischen Literatur nicht wegzudenken. Alle Beteiligten dürften sich freuen, dass die Wolfszahl in dem kleinen Ostseeland immer im Winter zunimmt.
Bis Ende März, wenn die großen Seen zugefroren sind, schleichen russische Wölfe durch den Schnee, ignorieren die Grenze zum kleinen baltischen Nachbarland und werden dann üblicherweise in einem der estnischen Nationalparks heimisch. Jedes einzelne Exemplar registrieren die Grenzwachen dabei nach Möglichkeit. 21 zählten sie im letzten Jahr. Nur in Einzelfällen, so die Experten, zieht es die eurasischen Wölfe wieder zurück in Sankt Petersburger Gebiet.
"Alles muss in Balance gehalten werden und kontrolliert sein", sagt Andres Lillemäe, Berater der estnischen Regierung in Sachen Jagd: "Wenn es hier noch mehr Wölfe gäbe, könnte das Menschen und Tiere tragisch treffen". Denn jeder Wolf verschlingt jährlich rund eine Tonne Fleisch, weiß Lillemäe zu berichten. Also dürfen die Jäger ganzjährig ran, um die Wolfspopulation konstant bei rund 150 zu halten. Anfang der neunziger Jahre gab es noch mehr als 800 Wölfe in Estland.
Helgi Saar ist die Vorsitzende des estnischen "Tierschutzverbands" und hält die Wolfsjagd für "leichtfertig". "Anstatt die Tiere wie früher zu füttern, beschweren sich die Menschen, dass die Wölfe zu nahe an ihre Häuser kämen und die Haustiere angreifen", sagt Saar. Sie glaube nicht daran, dass Jahr für Jahr mehr Wölfe getötet werden müssten. Doch mehrheitsfähig ist Saars Einstellung derzeit nicht in Estland.
"Die Wolfsjagd ist eine Wissenschaft für sich", erklärt hingegen Ülo Kraan, der Pressechef des estnischen Jagdverbandes. Da Wölfe ungemein klug seien, müssten die Waidmänner schon sehr genau Bescheid wissen über Fährtensuche und Treibjagd, um den "König der Wälder" zu erlegen. Natürlich halte man sich an die ungeschriebene Regel, Wölfe nicht während der Fütterungszeiten zu stellen, so Kraan.
Lillemäe hat noch ein Argument für die Wolfsjagd entdeckt: "Wir haben sogar schon Jagdtouristen aus den skandinavischen Ländern und Deutschland zu Besuch gehabt." Und Touristen bringen Devisen - nicht zuletzt deshalb hält man im nicht gerade wohlhabenden Reformstaat Estland Diskussionen wie in Norwegen über den Sinn und Zweck der Jagd gemeinhin für abwegig. Und freut sich weiterhin darüber, dass der Nachschub aus Reihen der mehr als 40.000 geschätzten Wölfe in Russland bislang nicht ausbleibt.
Jakob Lemke, dpa