Highspeed-Bahnverkehr nach Paris Knallerbsen zur Unfallvermeidung
Morgens unter den Frankfurts Wolkenkratzern zum Bahnhof hetzen, mittags im Pariser Straßencafé einen Café au Lait genießen und dazwischen liegen lediglich vier Stunden und elf Minuten Fahrt im bis zu 320 km/h schnellen ICE: Am Freitag wird der Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen Deutschland und Frankreich mit zwei Sonderfahrten eröffnet. Die deutschen und französischen Highspeed-Züge ICE und TGV werden zeitgleich um 12.39 Uhr im Pariser Hauptbahnhof einfahren, mit an Bord ist Bahnchef Hartmut Mehdorn. Gut zwei Wochen später startet der Bahnverkehr nach Fahrplan, der der Konkurrenz in der Luft zu gern davonfahren würde.
Der französische Train à grande vitesse (TGV) mit dem Zusatzkürzel POS (Paris-Ostfrankreich-Süddeutschland) wird dann regelmäßig die Südroute über Straßburg nach Stuttgart und der deutsche ICE 3 MF" (M für mehrsystemfähig, F für Frankreich) die Nordroute nach Frankfurt am Main bedienen.
Dabei sind beide Züge keine Allerwelts-TGVs oder ICEs. Mit erheblichem technischem und finanziellem Aufwand mussten die Systeme der Nachbarländer aneinander angeglichen und gegenseitig zugelassen werden. Das fängt bei Kleinigkeiten an wie der Position eines Notschalters in den Loks, der in einem Land links und im anderen rechts angebracht ist - nun gibt es beide Schalter. Bevor der französische Vorzeigezug 2001 zum ersten Mal auf ihren Gleisen eingesetzt wurde, verlangten die Deutschen aber auch stärkere Bremsen und Trinkwasserqualität auf den Toiletten.
Der deutsche ICE musste dagegen kompatibel mit fünf verschiedenen Zugsicherungssystemen und vier verschiedenen Stromsystemen werden. Um Schotterflug auf den französischen Trassen zu vermeiden, wurden an der Unterseite spoilerartige Anbauten angebracht. Weitere Änderungen gab es außerdem für die niedrigeren Bahnsteige in Frankreich und ebenfalls an den Bremsen. Vor der Zulassung in Frankreich musste der ICE 3 MF immerhin mehr als 120.000 Kilometer Testfahrten zurücklegen. Die Anpassung pro Triebzug kostete die Bahn gut acht Millionen Euro, die Zulassungskosten bezifferte das Unternehmen auf 28 Millionen Euro.
Knallerbsen und Hartplastik
Neben den technischen Besonderheiten galt für die französische Staatsbahn SNCF und die Deutsche Bahn allerdings noch, auf die skurrilen Eigenarten der Bahnkultur des Nachbarn Rücksicht zu nehmen: Jeder Zug auf französischen Gleisen muss einen sogenannten Notfallkoffer mit sich führen mit Knallerbsen, Fackeln, roten Fackeln, zur ultimativen Sicherheit, falls all die Hightech-Vorrichtungen den Geist aufgeben sollten. So wollen es die französischen Vorschriften. "Die Knallerbsen werden bei einem Unfall in einem bestimmten Abstand auf die Gleise gelegt, der nachfolgende Zug wird so gewarnt", beschreibt Bahnsprecher Andreas Fuhrmann das Lowtech-Notfallmittel.
Dagegen verwehrte die deutsche Bahnbürokratie den Franzosen ihre Plastikteller im Bistro, Porzellan sollte es eigentlich sein, porzellanartiges Hartplastik werden die ersten Reisenden jetzt vorfinden. Und wer im ICE einen Kaffee in der ersten Klasse bestellen möchte, muss genau darauf achten, ob er einen deutschen oder französischen Schaffner vor sich hat: Dem Franzosen erlaubt seine Gewerkschaft die Kellnertätigkeit im Zug nicht, deutsche Zugbegleiter und ihre Vertretung hätten damit keinerlei Probleme, sagt Fuhrmann.
"Meilenstein der europäischen Bahngeschichte" nennt Deutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn den baldigen Hochgeschwindigkeitsverkehr. Und einen Meilenstein soll das deutsch-französische Projekt wohl auch in der Völkerverständigung setzen: "Wir haben dreisprachiges Personal, Ledersessel und die besten deutschen Weine mit an Bord, wenn wir auf die Reise nach Paris gehen", kündigte Mehdorn an. In der ersten Klasse wird eine Mahlzeit am Platz serviert werden. Im Vergleich zu dem komfortablen ICE mit Restaurantwagen und mehr Platz für lange Beine ist der TGV bescheidener ausgestattet und hat nur in der ersten Klasse Stromstecker an jedem Sitzplatz.
Regelverkehr ab 10. Juni
Komfort und unterschiedliche Servicekonzepte der beiden Vorzeigezüge können die Passagiere ab 10. Juni testen: In der ersten Stufe gibt es täglich mit dem TGV drei Hin- und Rückfahrten von Stuttgart nach Paris. Von Frankfurt gibt es mit dem ICE zunächst eine direkte Hin- und Rückfahrt, dazu kommen zwei tägliche Hin- und Rückfahrten Paris-Saarbrücken mit Anschluss nach Frankfurt.
Zum Fahrplanwechsel am 9. Dezember legt der ICE noch einmal einen Zahn zu und ist zwischen Paris und Frankfurt nochmals 20 Minuten früher am Ziel. Dann werden je Richtung täglich fünf Züge Frankfurt-Paris und täglich vier Züge Stuttgart-Paris fahren. Auf lange Sicht sollen mit einem weiteren Ausbau der Strecke ab 2008 auch zwischen Paris und Straßburg weitere 30 Minuten eingespart werden, statt heute mindestens vier Stunden soll die Fahrzeit nur noch eine Stunde und 50 Minuten betragen.
Einen Rekord ganz anderer Klasse hatte die SNCF im April mit einem modifizierten TGV POS aufgestellt: Auf der gerade erst mit einem gigantischen Feuerwerk eröffneten Neubaustrecke erreichte der Hochgeschwindigkeitszug 574,8 km/h und ist damit das schnellste radgebundene Schienenfahrzeug der Welt. Euphorisch verkündete der Vize-Chef der SNCF, Guillaume Pépy, die Erhöhung der Geschwindigkeit der Regelzüge bis auf Tempo 360 zu prüfen. Technisch sei dies beim TGV möglich, die Frage ist, ob es sich wirtschaftlich lohnt.
Für 99 Euro nach Paris
Zum Start der schnellen Verbindung hat die Deutsche Bahn ein Eröffnungsangebot ab 19 Euro auf den Markt gebracht. Aufgrund der riesigen Nachfrage jedoch ist das Kontingent fast erschöpft, sagt Fuhrmann, viele Züge in den nächsten drei Monaten sind für dieses Angebot ausverkauft. Tickets zum Normalpreis von 99 Euro ab Frankfurt und 95 Euro ab Stuttgart für die einfache Fahrt dagegen jederzeit erhältlich. Die schnelle Verbindung zu Lande ist damit ohne Bahncard- oder Frühbucherrabatte noch doppelt so teuer wie der Luftverkehr: Schon länger wirbt die Lufthansa auf ihren Routen für Hin- und Rückflug mit Preisen ab 99 Euro und sieht der Konkurrenz noch gelassen entgegen.
Air France rechnet dagegen mit einem Verlust von einer halben Million Passagieren jährlich und hat ihre Flüge von Straßburg nach Paris von zwölf auf acht täglich reduziert. Bislang sind Flüge auf dieser Strecke beliebter - im Personenverkehr zwischen Paris und Straßburg entfallen derzeit etwa 65 Prozent auf das Flugzeug und 35 Prozent auf die Bahn. Mit dem TGV soll diese Tendenz mittelfristig umgekehrt werden. Die SNCF will in den nächsten zwei Jahren 60 Prozent des Personenverkehrs übernehmen. Die Deutsche Bahn hofft für beide Strecken auf einen Anstieg der Passagierzahl bis 2012 um 50 Prozent jährlich auf 1,5 Millionen.