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Trend Retro-Hotel: Troddel, Kronleuchter, Nierentischchen

Foto: Retro Design Hotel

Hotels im Retrolook High vom Hingucken

Orangefarbene Leuchten, eiförmige Sessel und Telefone mit Wählscheibe: Viele neu eröffnete Hotels schwelgen im Vintage-Look. Woher kommt der Trend zur Zeitreise?
Von Dirk Lehmann

Sie trägt Jeans mit Schlag, eine weiße Bluse mit Blumenstickereien am Dekolleté. Ihr Begleiter - im Hemd mit Kringeldessin - hat einen Vollbart und eine John-Lennon-Brille auf der Nase. Die beiden frühstücken in einem Raum, der aussieht wie der Nachbau eines WG-Zimmers: mit Lümmelsofa und offener Küche aus weiß lackiertem Holz. Auf der Arbeitsplatte stehen Schüsseln mit Müsli und Brötchen, Käse und Wurst. Wer noch etwas anderes haben möchte, holt es sich aus einem mannshohen Kühlschrank mit gewölbter Front.

Was die WG-Kopie vom Original unterscheidet: Hier ist picobello aufgeräumt, nirgends steht ein Plattenspieler und es riecht nicht nach Gras. Jane und John, wie ich das hübsche Paar in Anlehnung an ihre Lookalike-Vorbilder Jane Fonda und John Lennon nenne, passen so gut in diesen Raum, dass ich mich für einen Moment frage: Sind das echte Hotelgäste? Oder sind das Gästedarsteller, gebucht bei einer Casting-Agentur?

Die WG-Zimmer-Kopie nämlich ist gleichermaßen Lounge und Frühstücksraum im Hotel Henri. Das kürzlich in der Hamburger Innenstadt eröffnete Haus gehört zur gediegenen, teils recht tantenhaften Arosa-Gruppe. Henri soll ihr junger Neffe sein, unkonventionell, frisch, mit neuen Ideen. Und wie präsentiert sich ein Hotel, das sich den zeitgenössischen Hipstern an die schmale Brust werfen will? Genau: im Retro-Design der siebziger Jahre.

Ewiges Gestern in neuen Häusern

Retro-Hotels laden zu einer Zeitreise ein. Mit dem Konzept versuchen es auch Häuser in Rom (Retrome), Reykjavik (Kex Hostel) oder Brüssel (Vintage Hotel). Offenbar ist die jüngere Vergangenheit sexy. Aber fällt den Hotelgestaltern zu Gegenwart und Zukunft so wenig ein, dass sie sich im Design der Sechziger, Siebziger und Achtziger suhlen müssen? Was ist der Grund für das ewige Gestern in neuen Häusern?

Angefangen hat die Retro-Welle als Notlösung. Um armselige Herbergen in hässlichen oder miserabel gelegenen Gebäuden als "Beherbergungsbetrieb" aufzumöbeln, hat man sie als Kunst- oder Happening-Hotel gelabelt. So konnte man für ein unterirdisches Zimmer in einem schlecht geführten Haus viel Geld verlangen, denn der Gast wähnte sich als Teil einer Inszenierung (in deren Zentrum eigentlich nur seine Brieftasche stand).

Unverblümt deutlich wurde der Ansatz mit dem Retro Design Hotel auf Langeoog. Ein hässliches Mehrfamilienhaus, rote Backsteinfassade, in dritter Reihe gelegen, ohne Meerblick. Wie macht man so was cool? Indem man ein Restaurant gestaltet, das aussieht wie die Kantine der Fernsehserie "Raumschiff Orion". In die Zimmer klebt man Tapeten, deren Muster high machen, stellt Lampen mit orangefarbenen Plastikschirmen auf und eiförmige (inzwischen sehr teure) Sessel.

Ich begegnete dem Hotel mit Skepsis - kannte ich doch solche Herbergen aus meiner Kindheit. Die Wände der Pensionszimmer in Österreich waren dekoriert mit Streifenmustertapeten und röhrenden Hirschen. Nachttischchen in Form innerer Organe standen neben dem Bett. Von der Decke hing ein Lampenungetüm, dessen fünf Arme durch den Raum tentakelten, von den schief auf den Glühbirnen steckenden Schirmchen hingen Troddeln.

Jetzt saß ich mit einem Bier im freundlich gemachten Retro-Zimmer auf Langeoog, amüsierte mich über die so lustvoll zitierten Design-Schrecken der Vergangenheit und trank auf die Erfinder dieser neuen Form der Hotelwiederbelebung. Hochachtung!

"Wo gibt's 'ne Tüte?"

Viel subtiler in seiner Rückwärtsgewandheit präsentieren sich Hotels wie "The George" in Hamburg. Die Zimmer sind eine Wucht: tiefe dunkle Teppiche, Tapeten mit Streifenmuster, große Ohrensessel, eine iPod-Docking-Station neben dem bequemen Bett.

Im Bad lächelt mir eine Frau von einem Foto zu. Ich sehe sie an, während ich mir die Zähne putze, und frage mich, wie wohl die jungen Gäste auf das Bild reagieren? Eine hübsche Blondine, werden sie denken, mehr nicht. Twiggys Modelkarriere war schon Anfang der Sechziger vorbei, da waren die meisten Gäste, die Retro-Hotels so cool finden, noch gar nicht geboren.

Flower-Power. Rock'n'Roll. Discopop. Eine Zeit, die sich nicht wehren kann und hemmungslos ausgeschlachtet wird. Eine Zeit ohne Burnout und andere Stresssymptome. Man musste nicht entschleunigen, denn man war ohnehin nicht schnell. Das Design der Retro-Hotels lässt solche Gefühle aufleben.

Die Lobby ist locker. Das Einchecken "geht echt unkompliziert", wie Jane und John zwischen Brötchen-Gemummel beim Frühstück verkündeten. Das Zimmer sei "irgendwie cool". Ein großes schwarzes Telefon mit Wählscheibe und Anruflicht steht auf dem Nachttisch. Und die fetten Bakelit-Lichtschalter rasten mit lautem Klack ein. Retro wird es sogar dunkel.

Das "Henri" ist gutgemacht. Für jemanden wie mich, der die Zeit sogar kennt, an die all die Versatzstücke erinnern, macht es Spaß, die Kopie zu erkunden. Befreit vom Muff und der Spießigkeit von damals, wirkt der Raum freundlich, unterhaltsam. Und vor allem: harmlos.

Ich lasse mich auf das Bett fallen und rufe die Rezeptionistin an: Hey, Sie wissen doch bestimmt, wo ich eine Tüte kaufen kann?

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