Kölner Bahn-Unglück Experte zweifelt an Sicherheit von ICE-Radsatzwellen

Neue Vorwürfe gegen die Bahn wegen des Kölner ICE-Unglücks: Ein Experte für Fahrzeugbauteile kritisiert, die Lebensdauer von Radsatzwellen sei trotz Warnzeichen jahrelang weit überschätzt worden. Die Bahn hält die Bauteile dagegen für sicher.
Von Reinhild Haacker

Hamburg - "Der liebe Gott wollte, dass die Radsatzwelle bei einer niedrigen Geschwindigkeit zerbrochen ist", sagt Vatroslav Grubisic. "Es hätte alles viel schlimmer kommen können."

Der 75-jährige Professor ist eigentlich schon im Ruhestand, doch die Entgleisung des ICE in Köln in der vergangenen Woche hat ihn doch sehr aufgewühlt. "Wissen Sie, wenn man so alt ist wie ich, dann kann man doch sein Wissen nicht einfach mit ins Grab nehmen."

Mehr als 40 Jahre lang war Grubisic Spezialist für betriebssichere Bemessung von Fahrzeugbauteilen am Fraunhofer-Institut in Darmstadt. Wegen seiner Erfahrungen auf dem Gebiet wurde er auch als der "Räder-Papst" bezeichnet. Auch ohne den entgleisten ICE begutachtet zu haben, habe er schon geahnt, was inzwischen auch das Eisenbahnbundesamt herausfand: Bei einer höheren Geschwindigkeit hätte ein Bruch der Radsatzwelle zu einer "Katastrophe wie in Eschede geführt".

Auch wenn das Unglück in der vergangenen Woche wegen des geringen Tempos glimpflich ablief - die Panne hätte durch bessere Kontrollen vermieden werden können, glaubt Grubisic: Im Fall des ICE von Köln sei davon auszugehen, dass die Radsatzwelle durch den Betriebseinsatz schon "viel früher angerissen ist".

Zwischenfälle schon 2002

Das Problem mit der Lebensdauer von Radsatzwellen war nach Aussagen des Experten bei der Bahn eigentlich hinreichend bekannt. "Es wurde bereits bei früheren Messungen bestätigt, dass die Radsatzwellen der ICE-3-Reihe für die hohe Belastung zu niedrig dimensioniert waren", sagt Grubisic. Die Lasten, die durch das Gewicht des Zugabteils auf das Verbindungsstück zwischen den Rädern drücken, führten in dem Material zu Rissen. "Dies hat sich in diesem Fall kontinuierlich zum totalen Bruch der Welle ausgebreitet."

Bereits im Jahr 2006 veröffentlichte der Professor gemeinsam mit dem Wissenschaftler Gerhard Fischer einen Aufsatz zum Thema "Versagen von Radsatzwellen und dessen Ursachen". Der jüngste Aufsatz zu dem Thema erschien im April 2008 im Magazin "ZEV Rail", das unter anderem von Bahn-Vorstand Karl-Friedrich Rausch herausgegeben wird. Die darin geäußerten Zweifel an der Lebensdauer von Radsatzwellen führten aber laut Grubisic nicht zu verstärkten Prüfungen. Erst der entgleiste ICE von Köln und der Druck des Eisenbahnbundesamtes führte dazu, dass das Intervall von 300.000 Kilometern auf 60.000 Kilometer verkleinert wurde.

Grubisic macht dagegen klar, welche Lasten bei dem Hochgeschwindigkeitszug auf die Achse drücken - und dass allein deshalb bereits die Lebensdauer stark begrenzt wird: Eine Radsatzwelle des ICE 3 werde bei einem Betriebseinsatz von 400.000 Kilometern in einem Jahr 140 Millionen Mal mit unterschiedlicher Intensität nach oben und unten gebogen. Allein das bewirke eine Ermüdung der Welle. Zusätzlich werde das Material beim Bremsen und Beschleunigen in sich gedreht.

Grubisics Fazit: "Dadurch haben die Radsatzwellen nur eine beschränkte Lebensdauer. Die Frage ist, wie hoch diese Lebensdauer ist: Wenige Jahre bis zum ersten sichtbaren Anriss, bevor anschließend ein totaler Bruch entsteht? Oder die geforderten 30 Jahre?"

Schon vor rund sechs Jahren hatten Risse in Radsatzwellen für einige Tage zur Stilllegung von Hochgeschwindigkeitszügen zwischen Chemnitz und Nürnberg geführt. Bahn und Eisenbahnbundesamt befassten sich damals zwangsläufig mit dem Thema. Auch die TU Clausthal hatte im Jahr 2004 erhöhte Belastungen der Radsatzwellen im Rahmen eines Forschungsprojekts festgestellt. Demnach seien die Beanspruchungen auf die Radsatzwellen des ICE 3 zum Teil "ungewöhnlich hoch", wie es in dem Bericht heißt.

Bahn weist Vorwürfe zurück

Grubisic sieht ein generelles Problem: "Die Höchstwerte der Spannungen überschritten die Normwerte um bis zu 19 Prozent auf den Laufradsätzen und 17 Prozent auf den Treibradsätzen. Damit ist fraglich, ob diese Wellen eigentlich die Dauerfestigkeitskriterien nach Normen erfüllen."

Die Bahn ist trotz der Vorwürfe von der Qualität ihrer Radsatzwellen überzeugt. "Die ICE-3-Flotte der DB hat bereits drei Milliarden Kilometer zurückgelegt, ohne dass es jemals in den regelmäßigen Ultraschall-Untersuchungen Anzeichen für einen Vorfall wie den vom vorvergangenen Mittwoch gegeben hätte", sagt Bahn-Sprecher Jürgen Kornmann. Auch bei den derzeitigen technischen Zusatzüberprüfungen der Flotte gebe es keine Befunde für Rissbildungen.

Nach Aussagen des Eisenbahnbundesamtes wird die Europäische Norm 13104, die die Festigkeit von Radsätzen festlegt, von der überwiegenden Mehrheit der Fachwelt für korrekt gehalten. Wenn man Inhalte in einer solchen Norm verändern wolle, müsse man festgelegte Prozesse durchlaufen, sagt Sprecherin Bettina Baader. Sie schließt mögliche Änderungen aber auch nicht aus: "Es handelt sich schließlich nicht um ein starres System", sagte sie.

Dass die Bahn künftig die Radsatzwellen nach 60.000 Kilometern überprüfen will, ist nach Ansicht Grubisics unabdingbar - ständige Routine-Ultraschallprüfungen würden die feinen Risse allerdings nicht zwangsläufig aufdecken, glaubt er. Außerdem seien die Kontrollen teuer: "Ein Prüfintervall von 60.000 Kilometern bedeutet, dass die Wagen etwa alle zwei Monate auf den Prüfstand müssen. Das kann aber auf die Dauer schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht gelten." Wie teuer für die Bahn das kürzere Prüfintervall wird, ist nicht bekannt. Dies lasse sich nicht quantifizieren, sagt Bahn-Sprecher Kornmann.

Grubisic fordert, statt der Prüfungen "endlich durch entsprechende Versuche die zu erwartende minimale Lebensdauer der Radsatzwellen bestimmen". Er verweist außerdem darauf, andere Länder hätten weniger Probleme mit ihren Hochgeschwindigkeitszügen: "Die TGV in Frankreich fahren auf einer Strecke, die nur für Hochgeschwindigkeitszüge ausgerichtet ist. Dort sind die Belastungen auf die Radsatzwellen geringer und die Radsatzwellen stärker."

Der Professor selbst fuhr nach eigenen Aussagen bisher gern mit dem ICE 3, denn "ich ging bisher davon aus, dass die Radsatzwellen wenigstens die Hälfte der geforderten Lebensdauer von 30 Jahren überstehen". Jetzt fahre er nicht mehr ganz so gern - aber, sagt er, "in meinem Alter ist es nicht mehr so schlimm, wenn etwas passiert".

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