Kopenhagens Wahrzeichen Kleine Meerjungfrau verlässt die Stadt

Sie wurde mit Farbe besprüht, enthauptet und ins Wasser gestürzt: Kopenhagens Kleine Meerjungfrau ist jede Menge Ärger gewohnt. Jetzt muss sie auch noch die Strapazen einer China-Reise zur Expo über sich ergehen lassen - viele Dänen sind empört.
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Kleine Meerjungfrau: Wahrzeichen von Kopenhagen

Foto: Scholz/ picture-alliance / dpa

Kopenhagen - Zwei Enthauptungen und einen abgesägten Arm musste sie schon über sich ergehen lassen - und jetzt auch noch die lange Reise nach China. Am Donnerstag muss die Kleine Meerjungfrau, unbestrittenes und weltberühmtes Wahrzeichen der dänischen Hauptstadt, ihren Stammplatz am Kopenhagener Hafen räumen und eine Flugreise nach Shanghai antreten. Dort soll sie sich von Besuchern der "Expo"-Weltausstellung bestaunen lassen, ehe es im November heimwärts geht. Nächstes Jahr können Millionen Touristen die 1,25 Meter kleine, barbusige Bronze-Nixe mit der großen Flosse dann wieder am Langeliniekai fotografieren.

96 Jahre alt ist die Dame aus dem Märchen von Hans Christian Andersen inzwischen. Auch in jüngeren Jahren hat sie sehr unangenehme Unterbrechungen ihres beschaulich-sitzenden Daseins auf einem Felsstein über sich ergehen lassen müssen. 1964 und 1998 wurde ihr der Kopf abgesägt, beim zweiten Anschlag auch der rechte Arm. 2003 sprengten sie ein paar Rüpel regelrecht von ihrem Stammplatz.

Und jetzt verärgert der Kopenhagener Stadtrat viele Bürger mit der Entscheidung, die Dame auszuleihen. "Das bringt uns in Dänemark am Ende etwas ein, wenn wir die Meerjungfrau mal nach China ausborgen", begründete die zuständige Bürgermeisterin Pia Allerslev ohne große Umschweife, warum man so einfach mal eben das Wahrzeichen der Stadt für ein halbes Jahr weggibt.

"Wir sind einfach traurig. Wir haben ihnen eine Kopie angeboten, aber das wollten sie nicht", empört sich Erling Eriksen über das einseitige Schielen der Politiker auf den "Zukunftsmarkt China". Eriksen ist für die Dänen so eine Art Enkelsohn der Meerjungfrau.

Kopf einer Primaballerina

Sein Großvater, der Bildhauer Edvard Eriksen, hatte die Nymphe aus dem Märchen von Hans Christian Andersen nach dem Oberkörper der Ehefrau Eline geformt. Und den Kopf nach einer berühmten Primaballerina, nicht weil der schöner war, sondern weil die Gattin nicht als Nackte erkannt werden wollte.

Ihrem Ruf als betont "pragmatisch", sprich geschäftstüchtig, wurden die Dänen bei der Entscheidung für eine Ersatzlösung voll gerecht: Eine - etwas kleinere - Version der Kleinen Meerjungfrau ist vorhanden, wird aber nicht einfach am alten Stammplatz aufgestellt, zu dem mehrere Millionen Menschen jedes Jahr mit ihren Kleinkameras pilgern. Nein, die "kleine Schwester" kommt in den Vergnügungspark Tivoli im Zentrum der Hauptstadt. Wer sie dort fotografieren will, muss erst mal 95 Kronen Eintritt (13 Euro) zahlen. Und für jedes Kind noch mal den halben Preis dazu.

Auf etwas originellere Art versucht derweil das Kopenhagen benachbarte Helsingør, in die Lücke durch die jungfraufreie Zeit am Langeliniekai zu stoßen. Warum nicht einen Kleinen "Meerjungmann", auch sitzend und nackt, an der Hafeneinfahrt aufstellen, überlegte der Stadtrat und hat eine Statue in Auftrag gegeben.

Der Vorschlag für die gleich auf zwei Meter angelegte Figur ist ebenfalls heftig umstritten, könnte aber sicher für zusätzliche Einnahmen sorgen. Bisher kommen vor allem Touristen nach Helsingør, 50 Kilometer nördlich von Kopenhagen, weil sie fälschlicherweise glauben, dass der "echte" Prinz Hamlet hier auf Schloss Kronborg gelebt hat.

Aber William Shakespeare hat sich das nur für sein Theaterstück so ausgedacht. Hamlet war nie in Helsingør und kann seinen immer wieder verwendbaren Satz "Etwas ist faul im Staate Dänemark" deshalb hier nie gesagt haben.

Tragische Liebe: Andersens Geschichte von der Kleinen Meerjungfrau

Die tragische Liebesgeschichte von der Kleinen Meerjungfrau ist ein Kunstmärchen von Hans Christian Andersen (1805-1875). Anders als die Gebrüder Grimm, die für ihr Märchenbuch traditionelle Volkserzählungen sammelten, verfasste der dänische Schriftsteller "Den lille Havfrue" im Jahr 1837 selbst.

"Weit draußen im Ozean, wo das Meer so blau ist wie die schönste Kornblume, und es klar ist wie Kristall, ist es sehr, sehr tief", beginnt Andersen. Dort lebt auch die schöne jüngste Tochter des Meerkönigs. Wie ihre Schwestern darf sie vom 15. Geburtstag an auf einem Felsen sitzen und die Welt der Landmenschen sehen. Angelockt von Musik beobachtet sie die Feier zum 16. Geburtstag eines Prinzen auf einem Schiff. Als dieses im Sturm sinkt, rettet die Meerjungfrau den besinnungslosen Königssohn und legt ihn an den Strand.

Sie sieht, wie eine junge Frau den Prinzen findet. Dieser hält die Unbekannte für seine Retterin und führt sie auf sein Schloss. Die Meerjungfrau - nun unsterblich in den Prinzen verliebt - will zu ihrem Angebeteten. Für einen Hexentrunk, der ihren Flossenschwanz in Beine verwandelt, gibt sie ihre Zunge her und geht stumm zu ihm.

Während Meerjungfrauen 300 Jahre alt werden, leben Landbewohner nur kurz, haben dafür aber eine unsterbliche Seele. Um an diesem ewigen Glück teilhaben zu können, muss die Meerjungfrau von einem Menschen geliebt werden.

Doch der Prinz hat nur Augen für seine vermeintliche Retterin, die sich als Prinzessin eines benachbarten Königreichs entpuppt. Nur die Ermordung ihres Angebeteten kann die stumme Meerjungfrau noch retten, aber sie wirft ihr Messer ins Meer und opfert sich damit. Als die beiden Königskinder heiraten, vergeht die Kleine Meerjungfrau beim ersten Sonnenstrahl und wird zu Schaum auf den Wogen des Ozeans.

Thomas Borchert, dpa
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