Mecklenburg-Vorpommern Schlossherr ohne Furcht und Adel
Ein Stuhlkreis, keine Nachnamen, keine Uhren. Vierzehn Teilnehmer sind an diesem Tag gekommen. Andreas hat Probleme mit Fledermauskot und mit einer fünf Meter hohen Turmspitze, die in seinem Vorgarten steht. Christina weiß nicht, was sie von einer neuen Polierpaste für Messing-Kerzenständer halten soll. Marc (Name geändert) ist zum ersten Mal dabei.
Als man ihn vergangenes Wochenende in den Kreis eingeladen hat, kniete er auf dem Parkettboden seines Hauses und kämpfte mit einem Wischlappen gegen Hunderte Liter Wasser, die vom Himmel kamen. Sturmtief Lukas fegte mit 110 Kilometer die Stunde über Norddeutschland. Überall hatte Marc Eimer aufgestellt und Abdeckplanen ausgelegt, vergebens. Er sagte: "Ick schieb nen richtjen Depri, wenn's den janzen Tach nur rinpisst." Und das war kein Wunder; schließlich musste er dabei zusehen, wie eine Wand in sich zusammenrutschte, weil der Fugenlehm sich vollgesogen hatte, wie ein Teil des Gebälks einbrach.
Lange hatte Marc als Tierpräparator in Berlin gearbeitet und nun, mit Mitte 40, "wat Neues" gewollt. Midlife-Crisis? Andere Männer, von ihr erwischt, lassen sich scheiden, gehen segeln oder kaufen sich einen Porsche. Marc ersteigerte ein Schloss.
Dieser Besitz qualifiziert ihn für die Gruppe, die sich in Rensow trifft, gut 50 Kilometer südöstlich von Rostock. Der Tierpräparator, der Friseur, die Unternehmensberaterin, ein Fetischklub-Besitzer. Jeden Mittwochabend sitzen sie beisammen - und sprechen über ihre Schlösser. Sie nennen das Treffen Mittwochsbar, aber es ist mehr als nur ein Zusammensitzen und Trinken. Die Mittwochsbar ist eine Selbsthilfegruppe für Schlossbesitzer.
Vorreiter für einen Tourismus der Zukunft
Sie sind nicht die Adeligen, die zurückkehren, um das Haus ihrer Großeltern zu renovieren. Kein Graf von Polier, kein Freiherr von Maltzahn, kein Graf von Bassewitz. Sie sind meist Städter mit durchschnittlichem Einkommen. Jeder Euro, der am Ende des Monats übrig bleibt, geht in eine ISO-14581-Senkschraube oder das verstärkte Polyestergewebe einer Abdeckplane.
"Raumpioniere" nennen sie sich, es gibt Hunderte von ihnen in Mecklenburg-Vorpommern, zur Gruppe in Rensow gehören knapp 30. Sie wollen das leere Land zwischen Hamburg und Berlin wiederbeleben, einige sehen sich als Wegbereiter für den Tourismus der Zukunft: Mecklenburgs Hinterland statt Mallorcas Strand. Sie sind Menschen, die man so wenig in einem Schloss erwarten würde wie Prinz Charles in einer Einzimmerwohnung.
Marc hat 3500 Euro für seinen Traum gezahlt, drei Bruttomonatsgehälter. "Als ick dit erste Mal drin stand, hab ick aus dem Fenster jekiekt, ne Pfeife jeraucht und jedacht: geil!" Die Linde im Garten, das Rapsfeld am Horizont - das war mystisch. Wenn er heute von seinem Schloss spricht, klingt es eher so, als läge ein Freund im Sterben. Undichtes Dach, modriges Gebälk, Schutthaufen, aus denen Bäume wachsen. Marc kommt nicht an gegen die Krankheiten, die sein Haus befallen; Schimmel, Schwamm. Das Ganze habe sich "entmystifiziert", sagt er im Stuhlkreis. Sein Traum vom Schloss: ruiniert.
Durchhalten!, sagt Knut in Rensow. Nur Mut. Die Gruppe nickt. Das sei allen mal so gegangen, sagt Knut. Er ist der Leiter der Gruppe, der Motivator, ihr Vorbild. "Früher habe ich Geld in Prada-Shirts und Versace-Hosen umgerechnet. Heute in Zementsäcke." Knut, Sechstagebart, Pullover mit Totenkopf, hat geschafft, was vor den anderen liegt.
"Nicht Geld ist wichtig, sondern Mut"
In seinem Schloss treffen sie sich, inmitten von 750 Quadratmeter renoviertem Barock. Ausgestopfte Raubvögel, Hirschgeweihe und Kupferstiche hängen an den Wänden. "Der Eichentisch ist von 1710, der Kronleuchter von 1790, die Truhe von 1690", sagt Knut - so beiläufig, als zähle er von eins bis zehn. Alles nach 1800 ist für ihn Neubau. Fürstlich!, sagen die Neuen, überwältigend! Jedes Glas, jede Kerze so liebevoll arrangiert!
Knut war Händler in Dubai, verkaufte dann Biogemüse in Hamburg, ist nun hauptberuflich Vater, verdient 1800 Euro Elterngeld im Monat. Er hat sein Schloss 2002 erstanden, damals ein verfallenes Haus, in dem kaputte Waschmaschinen lagen, gammelige Lidl-Tüten, tote Füchse. "Liebe auf den ersten Blick." Seitdem saniert er das Gemäuer.
"Die Hälfte der Käufer", sagt Knut, "gibt nach drei bis vier Jahren auf." Entnervt. Frustriert. Finanziell am Ende. "Dabei ist nicht das Geld wichtig, sondern Mut." Der Mut, seinen Lebensmittelpunkt nach hier draußen zu verlegen. Bereit zu sein, sich selbst auszubeuten und vielleicht ein paar Jahre im Minus zu leben, um etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Nur wenn ein Schloss mit Liebe wachse, werde es ein gesundes Schloss. Armut, meint Knut, sei der beste Denkmalpfleger.
Mehr als 2000 Guts- und Herrenhäuser übersäen Mecklenburg-Vorpommern, von den Anwohnern auch dann oft Schloss genannt, wenn sie nicht unbedingt eines sind. Nirgendwo sonst hat Europa eine solche Dichte zu bieten, beinahe jedes Dorf hat eines. Die Häuser stammen aus der Zeit des Landadels vor 1945, der nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet wurde. In der DDR waren sie Volkseigentum, dienten als Kaufhallen, Kindergärten, Altenheime.
Einige wurden "purifiziert": Schmuck entfernt, Fassaden, Türme und Spitzen auf dem Dach abgeschlagen - das feudale Erbe des Landes sollte ausgelöscht werden. Na klar, es sei auch ein Retter-Gen, das sie treibe, sagen sie im Stuhlkreis. Nur wenige hundert dieser Anwesen wurden seit der Wende saniert, vom Rest sind bei Weitem nicht mehr alle zu retten.
Liebe auf dem ersten Blick
Marcel und Leonard aus Hamburg suchen seit zwei Jahren ein passendes Schloss. Angebote finden sie im Internet, auf Seiten wie immobilienscout24.de und gutshaeuser.de. Ihre Haare sind gewachst, ihre Kleidung ist farblich aufeinander abgestimmt. Marcel, Friseur, 42, durchtrainiert, könnte auch Türsteher einer Berliner Szenedisco sein. Sein Mann Leonard, Stylist, 21, ist so schlank und lang wie ein Laufsteg-Model. Fünf Dutzend Objekte haben sie bisher besichtigt, von "nicht mehr zu retten" (3000 Euro) bis "totsaniert und Fußbodenheizung" (3.000.000 Euro).
In den Landsitzen haben sie Designerstudios, Kräuterhotels, Bordelle gesehen. In einem lebt ein Professor, der ein Schloss erwarb, weil er seine zwölf Schreibtische in einer normalen Mietwohnung nicht mehr unterbekam. Nun hat er für jeden Tisch ein eigenes Zimmer, auf dem er seinen Papierkram ausbreitet. Ist ein Tisch voll, legt er eine Schicht Zeitung darüber und nutzt ihn so, als wäre er leer, Schicht für Schicht.
Vielleicht seien auch sie nicht ganz dicht, sagt Marcel, aber seit sie Knuts Anwesen das erste Mal betraten, hätten sie sich mit dem Schlossvirus infiziert. Sie haben sich in Gutshaus Grammow verguckt. Seit einem Dreivierteljahr liefern sie sich eine Bürokratie-Schlacht mit der Gemeinde, der die Immobilie gehört: Vorladungen, Briefe, E-Mails, Telefonate mit der Bürgermeisterin. "Zwei Schwule wollen kaufen? Nicht, dass wir Rotlicht hierher kriegen", haben Anwohner zu ihnen gesagt.
Kronleuchter über eBay
Regnet es, täte ihm das körperlich weh, sagt Marcel, denn Regen zerstöre Grammow. Dann stürzten Wasserfälle durch das undichte Dach. Und so verfallen mit jedem Tag, der verstreicht, Schloss und Preis, weil es immer unwahrscheinlicher wird, dass sich die Ruine retten lässt. Statt 50.000 soll sie noch 23.000 Euro kosten. Genug Geld für den Kauf und das Zunageln der schallplattengroßen Löcher im Dach, für die sogenannte Grundsicherung, haben Marcel und Leonard zusammen.
Nun aber will die Gemeinde einen Beleg der Bank über die gesamte Sanierungssumme sehen. Leonard sagt: "Keine Bank der Welt stellt einen Kredit über zwei Millionen für so eine Ruine aus." Er will seine Großmutter um eine Bürgschaft über 300.000 Euro bitten. Anschließend soll ein Ultimatum an die Gemeinde die Entscheidung bringen: Wenn die binnen zwei Wochen nicht zusagt, wollen sie ein anderes Schloss kaufen.
Es ist eine leere Drohung, denn eigentlich wollen die beiden nur Grammow. Leonard spricht von dem Haus wie von einem eigenen Kind. Er zeigt Bilder auf seinem iPhone, jeder in der Runde kennt sie, stundenlang erzählt er von seinem Luftschloss, auf eBay hat er bereits einen Kronleuchter ersteigert. "Erst mal die Decken vor dem Einsturz sichern, bevor man mit dem Prinzessin-Spielen beginnen kann", sagt einer aus der Gruppe. Die anderen lachen.
1500 Quadratmeter Ruine - ein Lebensprojekt
Fünfzig Kilometer südlich von Grammow entfernt wollen die Raumpioniere Robert und seine Verlobte Conny bald ihr Schloss beziehen. Sie sind ein paar Schritte weiter als Marcel und Leonard: beim Notar gewesen, Kaufvertrag für Schloss Vogelsang unterschrieben, 1500 Quadratmeter Ruine, ein "Lebensprojekt". Gerade haben sie es eingeweiht. Weil es einsturzgefährdet ist, feierten sie im Pferdestall. Das ganze Dorf hatten sie mit selbst gestalteten Karten eingeladen zu Schmalzbrot, Schokokuchen und Dornfelder: 159 Einwohner. Niemand hatte ihnen zu-, niemand hatte abgesagt.
Um 16 Uhr sollte es losgehen, um 15 Uhr 58 war noch kein einziger Dorfbewohner zu sehen. Würden sie kommen, um ihre neuen Nachbarn kennenzulernen? Robert sieht aus wie ein Zwilling von Oscar Wilde. Ein Eins-Neunzig-Mann, die langen, dunklen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, immer im schwarzen Mantel. Von montags bis freitags leitet er eine Werbeagentur, am Wochenende vermietet der promovierte Mediziner einen Fetischklub in Berlin-Kreuzberg. Ein Kellergewölbe, in dem man Lack und Leder trägt, in dem gefesselt und gepeitscht wird. Ein Zuhause für die Fetisch-SM-Gothic-Kinky-Gemeinde, steht auf der Internetseite.
Und dann kamen die Dörfler. Punkt 16 Uhr am Einweihungstag. Als habe man die Stalltüren zu einer Theaterpremiere geöffnet, strömten sie herein: die Männer, ihre Frauen, die Kinder. Nicht einmal beim letzten Dorffest seien so viele aufgetaucht, hieß es später. Einen "Zeugen Jehovas" meinte einer der Nachbarn in Robert vor sich zu haben.
Neugier und Skepsis mischten sich. Vier Neubesitzer dieses Anwesens, vier Einweihungsfeiern mit hochfliegenden Reden hatten die Dörfler schließlich schon hinter sich, nie aber hatte sich einer der Fremden dann wirklich um seine Immobilie gekümmert. Aber da sie noch immer hoffen, schrieben die Nachbarn Conny und Robert am Ende des Abends ins Gästebuch: "Die Getränke waren etwas mager, aber ihr seit nett."
Tagsüber Ponyhof, nachts Peitschenhiebe
Die beiden freuen sich über das Fest. Nun sollen Ferienwohnungen entstehen. Conny will sich um kranke Pferde kümmern, Reitern aus Berlin und Hamburg Landurlaub mit den eigenen Tieren anbieten, der Stall des Schlosses eigne sich gut. Robert denkt an etwas "Burleskes", ähnlich wie in Berlin. Tagsüber Ponyhof, nachts Peitschenhiebe im Schlosskeller.
Im Dorf, das bald Heimat von Robert und Conny sein soll, wissen sie zwar noch nichts von dieser Kombination, die Mitglieder der Selbsthilfegruppe aber kennen die Pläne. Jeder, wie er will, sagen sie. Ob jemand in seinen herrschaftlichen vier Wänden Yogakurse anbieten, Schafskäse produzieren oder sich an Kreuze fesseln wolle, sei ihm überlassen.
Und sie sprechen von ihren Schlössern wie von einer Beziehung: Am Anfang sei man verliebt und blind, jede Schwäche werde übersehen. Irgendwann löse der Alltag die Verliebtheit ab, die Beziehung werde zur Aufgabe, sie könne anstrengend sein. Aber am Ende lohne sie sich doch.
Der Kamin in Knuts Schloss knistert und knackt. Die Runde trinkt inzwischen Calvados und Portwein, sie wird sentimental. "Es zieht, es ist nass, wir leben in ständiger Geldnot", sagt einer. "Warum tun wir uns das eigentlich an?" Aber dann haben sie auch gleich wieder die Antwort: Weil man sich hier Feuerholz als Geschenk mitbringt. Weil sich die Heizung nicht einfach auf Fünf drehen lässt. Weil sie Wärme schätzen lernen. Weil sie das Leben in der Stadt einerseits als zu einfach, andererseits als zu komplex empfinden, zu leer und zu voll - von Gedankenmüll.
Nich der einzich Verrückte
Knut will in 300 Jahren ein Name in der Liste der Schlossbesitzer sein, will Teil von etwas Größerem werden, Teil der Geschichte. Es sei der Drang, etwas scheinbar Unmögliches zu schaffen. "Weil man hier draußen anders tickt", sagt Christina, Knuts Frau. Weil man hier anders lebt. Intensiver.
Um kurz nach zwei Uhr in dieser Nacht ist die Sitzung beendet. Als Marc sich in die Dunkelheit verabschiedet, ist die Nacht trocken und Sturmtief Lukas wahrscheinlich längst am Buckhingham Palace vorbeigezogen. Es gehe ihm viel besser, sagt Marc, er sei jetzt nicht mehr so depri. "Wenn man die anderen sieht, hat man dit Jefühl: Ick bin nich der einzich Verrückte hier."