Reisen nach dem Zufallsprinzip Abenteuer Heimat
Die Redaktion sagt: Reise eine Woche durch Deutschland! Nimm den Zug oder das Fahrrad, wandere, fahr Auto, egal. Plane nichts. Lass dich vom Zufall lenken. Sei frei. Im Grunde ist das die Mutter aller Abenteuerreisen. Eine Reise ins Ich. Aber klingt dieser Auftrag, wenn man beginnt, darüber nachzudenken, nicht widersprüchlich? Freiheit heißt, sich entscheiden zu können. Der Zufall dagegen nimmt uns Entscheidungen ab. Andererseits bedeutet es nicht gerade die größtmögliche Freiheit, nichts entscheiden zu müssen?
Normalerweise bin ich ein Planungsfreak, ich bereite Urlaube sorgfältig vor, lese vorher viel. Das Einzige, was ich diesmal im Griff habe, ist der Inhalt meines Rucksacks. Acht Kilogramm für eine Woche. Nur das Nötigste, vor allem Kleidung, der Laptop und eine Deutschlandkarte. Pro Tag ein T-Shirt, dazu zwei Ersatzshirts. Und zwei Bücher: "Das Handwerk der Freiheit" von Peter Bieri, einem Philosophen. "Das erschöpfte Selbst" des französischen Soziologen Alain Ehrenberg. Auch darin geht es um Freiheit und Selbstbestimmung.
Ich fahre also zum Berliner Hauptbahnhof. Es ist August. Wochenende. Mittagszeit. Ich will ans Wasser. Das habe ich entschieden. Nordsee, Ostsee oder Bodensee. Ich werde den ersten Zug Richtung Meer nehmen. In ein paar Minuten geht einer nach Frankfurt/Oder, das hieße Ostsee, wenigstens grob. Hamburg, in einer knappen Stunde, hieße Nordsee. Ich versuche, nicht auf die Abfahrtzeiten zu schielen. Es klappt nicht ganz. Noch drei Minuten, sehe ich, dann fährt der ICE nach München. Ich renne los Richtung Bahnsteig.
Schon immer wollte ich mit dem Rad rund um den Bodensee fahren. Die Ostsee kenne ich ganz gut, auf Nordsee hatte ich, warum auch immer, gerade keine Lust. Mir ist klar, dass ich manipuliert habe. Ich habe bewusst entschieden, jetzt aber bitte schnell, habe ich gedacht. Nicht nach Frankfurt/Oder, sondern Richtung München. Weil eine innere Stimme mir eben doch 13 Uhr 37 zugeraunt hat, Umsteigen in Ulm, Ankunft am Bodensee um 21 Uhr 54.
"Freiheit verursacht Depressionen"
In Lindau finde ich, trotz Hochsaison und später Stunde, sofort ein Zimmer gegenüber vom Bahnhof, günstig und ganz okay. So wird es in dieser Woche immer sein. Man kann mitten in der Ferienzeit auf gut Glück durch Deutschland reisen, sofern man gegenüber den Hotelzimmereinrichtungen tolerant ist und auch eine Nacht lang Gelsenkirchener Barock erträgt.
Der Soziologe Alain Ehrenberg schreibt, dass Freiheit Depressionen verursacht. Seit dem Zweiten Weltkrieg, deutlicher noch seit den 1960ern, sei die Depression geradezu ein Massenphänomen geworden. Der Stimmungsaufheller Prozac sei deshalb nicht nur einer der größten Hits in der Geschichte der Pharmaindustrie, sondern ein Sinnbild unserer Zeit. Was Aspirin für den Kopf ist, das ist Prozac für die schmerzende moderne Seele.
Aber wie kann denn etwas so Gutes und Richtiges wie die Freiheit unsere Seele traurig machen? Jede freie Entscheidung, erklärt mir Ehrenberg, bedeutet Verzicht. Noch vor wenigen Generationen war, durch unsere soziale Herkunft, durch Normen und Traditionen vieles geregelt. Der Lebenspartner wurde von der Familie zumindest mitbestimmt, der Berufsweg ebenfalls. Unsere Großeltern blieben meist dort wohnen, wo sie geboren waren. Ihren Tagesablauf schrieben die Verhältnisse vor. Die Menschen standen unter Zwängen. Aber sie waren nicht verantwortlich. Schuld am Glück oder Unglück ihres Lebens waren im Wesentlichen andere.
Heute dagegen bin ich selbst schuld, wenn mein Leben mir misslungen erscheint. Heute ist jede Entscheidung zugleich eine Absage an 1000 andere Möglichkeiten. Entscheide ich mich für einen Partner, dann sage ich Nein zu allen anderen, die ebenfalls infrage kämen. Werde ich Arzt, dann lehne ich eine Anwaltskarriere ab, für die ich, wer weiß, womöglich besser geeignet wäre. Reise ich im Urlaub nach Indien, dann habe ich die Möglichkeit Island ausgeschlagen.
Ob es mir in Island aber nicht doch besser gefallen hätte als am Strand von Kerala, steht in den Sternen. Wählen heißt verzichten. Sogar wenn wir Erfolge feiern, gibt es niemals eine Antwort auf die Frage, ob sie, hätten wir andere Entscheidungen getroffen, nicht noch größer ausgefallen wären. Der traditionelle Mensch orientierte sich am Vorbild seiner Eltern, der moderne Mensch orientiert sich an jenen, denen alles gelingt. Das, so Ehrenberg, mache viele depressiv: "Depression ist die Krankheit einer Persönlichkeit, die versucht, nur sie selbst zu sein."
Kein Termin, keine Eile, keine Pläne
Rund 150 Kilometer, die kürzere Version des Bodensee-Radrundweges, das ist in zwei Tagen zu schaffen. Aber Moment mal, warum werde ich eigentlich das verdammte Leistungsdenken nicht los? Erst im Rheindelta mit seinen katzengroßen Stechmücken gelingt mir das: Ich lasse das Radfahren gut sein und nehme das Schiff nach Rohrschach, Schweiz. Acht Kilogramm Gepäck bin ich eben doch nicht gewohnt. Hinter Rohrschach, in Arbon, gibt es ein bezauberndes Strandbad. Dort kaufe ich Sonnencreme, und dann bin ich auch schon in Konstanz, fahre am nächsten Morgen zur Fähre nach Meersburg, von Meersburg mit heiterem Gemüte und besonntem Körper Richtung Friedrichshafen.
In Friedrichshafen besuche ich das Zeppelinmuseum und stelle fest, dass sie dort detailgetreue Modelle des legendären, 1937 verunglückten Luftschiffs "Hindenburg" verkaufen, bei denen das Hakenkreuz durch ein schwarzes Kreuz ersetzt wurde. Man denkt, die "Hindenburg" sei im Auftrag des Vatikans geflogen. Ich möchte dies fotografieren, weil in einer ordentlichen Deutschlandreise auch der Aspekt NS-Vergangenheit vorkommen sollte, was aber beim Personal große Aufregung auslöst. Fotografieren ist strengstens verboten.
Ja, gut, fahre ich halt wieder, immer weiter mit dem Fahrrad, die innere Unruhe peitscht mich voran direkt ins Seebad Lindenhof. Es ist später Nachmittag. Bis 24 Uhr fahren ab Lindau Züge. Aber jede Minute im Seebad verringert die Zahl meiner Optionen für die Weiterreise.
Dennoch bin ich nicht deprimiert, im Gegenteil. Muss ich entscheiden? Nein. Der Zufall entscheidet für mich. In Wirklichkeit probiere ich auf dieser Reise nicht die Freiheit aus, sondern das Gelenktwerden durch eine höhere Macht, die ich allenfalls ein wenig manipulieren kann. Im Sinne des Soziologen Ehrenberg bin ich also kein moderner Mensch, der unter der depressiv machenden Qual der Wahl leidet, sondern ein traditionelles Exemplar. Ich muss die Dinge nehmen, wie sie kommen.
Mir geht es wie dem Bauern, der nicht weiß, ob es am nächsten Tag regnen oder ob die Sonne scheinen wird. Dabei fühle ich mich so wohl wie selten auf einer Reise. Es ist ein großartiges Gefühl, an einem Bahnhof zu stehen, und alles darf einem egal sein. Kein Termin, keine Eile, keine Pläne nicht einmal der Zwang, sich zu entscheiden. Nur eine vage Neugier darauf, wo man am Abend wohl zu Bett gehen wird.
Nach dem Voralpinen das Städtische: Augsburg, Frankfurt, Berlin
Vom Voralpinen habe ich erst einmal genug, jetzt soll es etwas Städtisches sein. Augsburg, warum nicht? Bertolt Brecht stammt aus Augsburg, oder? Irgendwo habe ich gehört, dass Augsburg schön sein soll. Der Zug nach Augsburg, 19 Uhr 58, ist leider defekt, also lande ich im Zug nach München, wo ich erfahre, dass ich in einem Ort namens Buchloe doch noch Richtung Augsburg umsteigen kann. Im Hotel frage ich nach dem Frühstück die Dame von der Rezeption: "Was ist in Augsburg eigentlich am interessantesten?" So lande ich in der Fuggerei.
Die Fuggerei ist ein Dorf in der Stadt. Süße Häuschen, plätschernde Brunnen, ach, Deutschland, wie schön du sein kannst! Jakob der Reiche, berühmtestes Mitglied der sagenhaft erfolgreichen Familie Fugger, gründete diese Siedlung 1521, für mittellose Augsburger. Bis heute zahlen die Bewohner für ihre putzigen Häuser an die Fugger-Stiftung eine Jahresmiete von genau 88 Cent. Dafür müssen sie dreimal täglich für die Seele von Jakob und seiner Familie beten. Das aber wird nicht überprüft.
Bei Peter Bieri, dem Philosophen, geht es unter anderem darum, dass es den "freien" Willen oder "die Freiheit" gar nicht gibt. Es gibt Einflüsse und Bedingungen. Ein völlig freier, im Raum schwebender, keinen Einflüssen ausgesetzter Wille stünde unter dem Diktat des Zufalls, das heißt, gerade solch ein Wille wäre unfrei. "Es gibt nichts Teuflischeres als die unbedingte Freiheit", steht in dem Buch, da diese Freiheit "vollkommene Ohnmacht einem unberechenbaren Willen gegenüber" bedeutet.
Bieri ist ein Skeptiker des klassischen Freiheitsbegriffs, genau wie der Soziologe Ehrenberg. Auch der schreibt über "das glückliche Gefühl, nichts planen, nichts entscheiden, nichts denken zu müssen". Frei zu sein heißt für ihn aber nicht, ohne Bedingungen und Zwänge zu leben. Freiheit bedeute lediglich, mindestens zwei Möglichkeiten abwägen und sich bewusst entscheiden zu dürfen. Bei mir zum Beispiel ist die Bedingung der Freiheit der Fahrplan der Deutschen Bahn.
Der Norden gewinnt
Von Augsburg fahre ich nach Frankfurt, Drehkreuz, das passt. Von Frankfurt will ich eigentlich Richtung Osten, weil ich im Osten vieles noch nicht kenne. Am Bahnhof werfe ich eine Münze. Weil es vier Richtungen gibt, lasse ich per Münzwurf jeweils zwei Richtungen gegeneinander antreten. Norden gegen Süden, Osten gegen Westen und so weiter, ein richtiges Turnier, der Sieger kriegt immer einen Punkt. Klarer Gewinner: der Norden mit drei Punkten. Der nächste schnelle Zug Richtung Norden führt über Kassel. Nach Kassel wollte ich schon lange. Immer kommt das heraus, was ich sowieso will.
Ich lese wieder Ehrenberg. Wir sind überfordert. Wir sollen uns einer Welt anpassen, die sich ständig verändert, an ein instabiles Provisorium. Die wichtigste Norm heißt: Sei ganz du selbst. Das ist nicht einfach. Um jemand zu werden, also, um uns kennenzulernen, benötigten wir zuerst einmal Grenzen, an denen wir uns aufreiben, und Autoritäten, wie es sie immer weniger gibt. Im Abenteuer, denke ich beim Lesen, suchen wir nach genau diesen Grenzen, nach einer Selbsterfahrung, die uns die heutige Gesellschaft nicht mehr bieten kann.
Jetzt fahre ich aber wirklich in den Osten! Ich wähle die Richtung Erfurt, Thüringen. Eigentlich will ich zum Kyffhäuser, weil dieses Gebirge ein altdeutscher Mythos ist. Aber das würde fast vier Stunden dauern, und von langen Bahnfahrten hat jeder Mensch irgendwann die Nase voll. Im Zug entscheide ich mich spontan um und steige in Naumburg, Sachsen-Anhalt, aus dem ICE und zwar deshalb, weil mir bei früheren Bahnfahrten diese Gegend hübsch vorkam.
Tatsächlich wirkt Naumburg auf reizende Weise süddeutsch, ein romantisches Domstädtchen, das mich mal an den Rhein, dann wieder an ein studentenfreies Tübingen erinnert. Wie so viele Orte in Ostdeutschland ist Naumburg im Zentrum blitzblank herausgeputzt, an den Rändern jedoch trist und verfallen. Friedrich Nietzsche hat hier gelebt.
Halb verdurstet im Unstrut-Tal
Der Fahrradverleiher gibt mir den Tipp, nicht etwa das Tal der Saale entlangzuradeln, obwohl auch dies durchaus eine lohnende Tour sei, sondern das Tal der kleineren Unstrut. Weinberge, Mühlen, Burgen, üppiges Pflanzengewirr an paradiesischer Aura können es die Gestade der Unstrut beinahe mit dem Bodensee aufnehmen. Mit dem Unterschied, dass man hier manchmal 20 Minuten lang keinen anderen Menschen trifft, was am Bodensee unmöglich wäre.
Das Tal der Unstrut ist auch ein Weinbaugebiet. Deshalb bin ich nur allzu willig, den hiesigen Wein zu probieren. Am Wegesrand taucht zwar hin und wieder ein Weinlokal auf, einmal sogar eine Besenwirtschaft, aber sie sind an diesem Donnerstag im August alle geschlossen, wegen eines Ruhetags, wegen der Mittagspause oder ohne Angabe von Gründen.
Selbst Biergärten und Kioske, auf deren Vorkommen überall an den Radwegen unseres Vaterlandes Verlass ist, sind im bezaubernden Tale der Unstrut so dünn gesät, dass man die Gegend als versorgungstechnisch noch ungeschliffenen Edelstein in der Krone der deutschen Landschaften bezeichnen muss. Am Ende, staubig und halb verdurstet, erreiche ich einen Lebensmittelladen, in dem eine Dame, wenngleich skeptisch blickend, bereit ist, mir eine Flasche Sprudel zu verkaufen.
Als ich am Freitagnachmittag zum Bahnhof gehe, denke ich über die Ziele Leipzig oder Halle nach, dann überwältigt mich eine andere Idee: Naumburg liegt quasi vor den Toren Berlins, und Berlin, wo ich wohne, ist sehr interessant für Touristen. Die Redaktion hat angeordnet, dass ich eine Woche lang meine Wohnung nicht betreten dürfe, also steige ich im Savoy ab, einem bei Künstlern beliebten Haus mit dem Charme eines malerisch gealterten Grandhotels und einer der schönsten Bars überhaupt. Original 1950er-Jahre, Edelholz, begehbarer Humidor, Foto von Freddy Quinn an der Wand.
Zwang zum Individualismus
Es ist ein erhebendes Gefühl, die eigene Stadt als Tourist zu besuchen. Man bekommt sofort Respekt vor ihr. Am nächsten Morgen nehme ich die U-Bahn nach Hause.
Ich habe keine Abenteuer erlebt. Im Gegenteil. Ich habe erfahren, dass man in Deutschland völlig mühe- und gefahrenlos herumreisen kann. Selbst die Gefahr, eine Nacht auf der Parkbank oder in einem überheizten Zimmer verbringen zu müssen, ist minimal. Aber das, was der Abenteuerreisende sucht, ist auch nicht die Gefahr, er ist ja nicht lebensmüde. Er sucht, vermute ich, eine Grenze, und das Glück der Grenzüberwindung.
Alain Ehrenberg, mein Reisebegleiter, sagt dazu, dass die Gesellschaft, in der wir leben, uns nicht mehr zur Gefügigkeit zwingt, sondern zu permanenter Initiative, zu ununterbrochenem Individualismus. Auch das kann Unterdrückung sein und einen fertigmachen. Eine mögliche Befreiung bestünde demnach wohl darin, sich ohne die ständige Frage danach, wer man ist und was man will, einfach treiben zu lassen. Und habe ich nicht genau das getan? Ich habe mich wohlgefühlt. Ich würde es wieder tun.