Stier auf Schienen Siemens will Weltrekord für Elektroloks knacken
Berlin - Mit einem rasenden Stier wird der neue Bahnhof von Kinding im Altmühltal am Samstag in die Technikgeschichte eingehen. Wenn das Wetter mitspielt, startet dort eine Elektrolok auf der Neubaustrecke Ingolstadt-Nürnberg zur Weltrekordfahrt. Damit will Siemens die mehr als 50 Jahre alte Bestmarke von 331 km/h knacken, aufgestellt von der französischen Lok BB-9004 am 29. März 1955 auf der Strecke Bordeaux-Dax im Südwesten des Landes.
Jetzt ist der Kandidat eine Lokomotive des Typs ES64U4. "Hochtastfahrten" hat sie in der vergangenen Woche schon erfolgreich hinter sich gebracht. Hersteller Siemens hat sich für die 6400 Kilowatt starke Maschine auch eine volkstümlichere Bezeichnung gesichert: "Taurus" (Stier), wegen des bulligen Aussehens der Lok, die in der Serienausführung Güterzüge durch halb Europa zieht. Die Lokomotiven, ursprünglich für die Österreichischen Bundesbahnen entwickelt, sind europäische Hightech-Spitzenprodukte, die verschiedene Strom- und Signalsysteme verarbeiten können und so die Grenzaufenthalte der Züge verkürzen. Langfristig soll das dem Güterverkehr auf der Schiene zu besseren Wettbewerbsbedingungen gegenüber der Straße verhelfen.
Für Schnellfahrversuche wie den geplanten müssen die Lokomotiven in aller Regel mit einer anderen Getriebeübersetzung versehen werden. Die französische Lok hatte dazu eine Stromlinienverkleidung. Angeblich sollen die Stromabnehmer während der Fahrt fast weggeschmolzen sein. Auch die Strecken werden vorher präpariert, etwa indem die Fahrleitung verstärkt und anders gespannt wird. Wegen der starken Beanspruchung von Oberleitung und Unterbau stehen anschließend gründliche Wartungsarbeiten an. Die Kosten können Millionen-Dimensionen erreichen.
Schienenzeppelin erreichte Tempo 230
Siemens spricht denn auch von einem "sehr aufwendigen Projekt". Es passt aber in die Firmengeschichte. Schließlich hat der Gründervater des Konzerns, Werner von Siemens, vor mehr als 120 Jahren die erste elektrische Lokomotive gebaut und auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879 im Dauerbetrieb vorgeführt. Eine Siemens- und eine AEG-Lokomotive erreichten schon 1903 im Süden Berlins um die 200 km/h.
Danach wurden Rekorde auf Schienen vor allem von Dampflokomotiven oder exotischen Fahrzeugen wie dem Schienenzeppelin erzielt. Dieses einmalige Gefährt mit Heckpropeller raste 1931 mit Tempo 230 auf der Strecke Hamburg-Berlin, wurde aber nie in Serie gebaut. Die Reichsbahnlok 05 002 fuhr 1935 Weltrekord mit 200,4 Stundenkilometer, wurde drei Jahre später aber von der englischen "Mallard" mit 201,2 km/h sehr knapp - und unter Historikern umstritten, unter anderem weil die Lok bergab fuhr - übertroffen und steht bis heute.
Nicht zuletzt wegen der Kriegsereignisse hielt der Rekord des Schienenzeppelins bis in die fünfziger Jahre, als die französische Staatsbahn SNCF mit mehreren Rekordfahrten ihre Überlegenheit beim Schienenverkehr in Europa - und damals hieß das auch: weltweit - dokumentieren wollte. Das gelang auch mit eben jener Rekordmarke, die Siemens jetzt im Visier hat.
Damals war noch nicht klar, dass gegen Ende des Jahrhunderts nicht mehr lokomotivbespannte Garnituren, sondern Triebzüge den Personen-Schnellverkehr dominieren würden. Auch hier behielt Frankreich in der Regel die Nase vorn. Der Hochgeschwindigkeitszug TGV hält seit 1990 den absoluten Rekord im Rad-Schiene-System mit 515,3 km/h. Zuvor hatte ihn eine kleine Weile der deutsche ICE-V inne, der am 1. Mai 1988 auf der Neubaustrecke Fulda-Würzburg 406,9 km/h erreicht hatte. Da festgelegte Standards für solche Rekorde fehlen, bleiben zwei rekordverdächtige Begleitumstände dieser Fahrt historisch bestehen: Die Bestleistung wurde im Tunnel erzielt, und es waren drei Bundesminister an Bord.
Lokomotiven gewinnen wieder an Bedeutung
Heute fahren Triebzüge eher unauffällig und fahrplanmäßig Tempo 300 und mehr, gerade auch auf der Strecke Ingolstadt-Nürnberg. Der TGV hat 320 als Regelgeschwindigkeit. Der ICE-S-Testzug der Deutschen Bahn probierte vor einigen Jahren zwischen Wolfsburg und Berlin ein Drehgestell mit Tempo 390. Die normalen ICE-3 mussten Testfahrten mit Tempo 330 bestehen, bevor sie für den öffentlichen Verkehr zugelassen wurden.
Die Leistungen von Lokomotiven sind demgegenüber in den Hintergrund getreten; dabei gewinnen sie wegen der Globalisierung auch auf der Schiene immer mehr an Bedeutung. Vielleicht ist das der Grund, warum Siemens mit dem Rekordversuch der "schnellsten Güterzuglok der Welt" das Niveau seiner Verkehrstechnik ins internationale Bewusstsein rufen will. Immerhin ist der rasende Stier schon jetzt für Tempo 230 gut und zieht neben Auto- und Containertransporten Intercity- und Eurocity-Züge durch Mitteleuropa.
Von Thomas Rietig, AP