Buchenschleimrübling im Buchenwald: Zeichen für einen naturbelassenen Wald
Buchenschleimrübling im Buchenwald: Zeichen für einen naturbelassenen Wald
Foto: Kilian Schönberger

Nationalpark Bayerischer Wald "Um den Wald zu verstehen, braucht man Zeit"

Der Bayerische Wald ist ein echter Dschungel. Wie schafft es ein farbenblinder Fotograf, ihn in Szene zu setzen? Kilian Schönberger über Geduld, ungewohnte Perspektiven und wahrhaft wilde Momente.
Ein Interview von Antje Blinda

SPIEGEL: Sie schreiben auf Ihrer Website, dass Sie farbenblind seien. Gleichzeitig fotografieren Sie besonders gern grünen Wald - wie funktioniert das?

Kilian Schönberger: Ich nehme Farben wahr, aber mit anderen Zuordnungen als Normalsichtige. Für einen Fotografen ist das gewöhnungsbedürftig, aber es scheint auch Vorteile zu haben. So sollen sich Farbenfehlsichtige besser in chaotischen Mustern und Strukturen zurechtfinden und bei Zwielicht sehen können. Was beides im Wald zu finden ist. Vielleicht habe ich den Vorteil, dass ich bei der Komposition des Bildes weniger von Farbflächen abgelenkt werde, sondern mich auf die Struktur der Bäume konzentrieren kann.

SPIEGEL: Sie haben Ihre Kindheit zum Teil in der Nähe des Nationalparks Bayerischer Wald verbracht, der gerade 50-jähriges Jubiläum feiert. Was verbindet Sie mit dem Wald?

Schönberger: Ich haben miterlebt, wie der Borkenkäferbefall die Wälder massiv verändert hat. Bis in die Neunzigerjahre gab es in den Hochlagen noch 150 bis 200 Jahre alte reine Fichtenwälder. Aus einem dichten Wald wurde dann ein sehr lichter, auf einmal gab es Dutzende neuer Aussichtspunkte. Für die Einheimischen war das Baumsterben eine Katastrophe, aber irgendwann haben die meisten verstanden, dass das nur eine Zwischenphase ist und neue Bäume nachwachsen. Jetzt - wo die Natur mit aller Wucht zurückkommt - sagen die Leute, das sei ja schade, dass die Aussicht wieder zuwächst.

SPIEGEL: Diese Entscheidung der Achtziger, nicht mehr in die natürliche Waldentwicklung einzugreifen und den Borkenkäfer nicht zu bekämpfen, war ja lange umstritten und ist es teils noch.

Fotostrecke

Kilian Schönberger und der Bayerische Wald: "Landschaft von herber Schönheit"

Foto: Kilian Schönberger

Schönberger: Ein Wald galt eben über Generationen hinweg nur als schön, wenn er aufgeräumt und sauber war und aus gesunden Bäumen bestand. Dann kam das etwas chaotische Wildniskonzept des Nationalparks und dann noch der Borkenkäfer. Der aber ist nun mal Bestandteil der natürlichen Sukzession in Fichtenwäldern, es kann immer wieder mal zur verstärkten Ausbreitung kommen. Und dann ist es spannend, welche Arten nachwachsen. Ich glaube, man braucht Zeit, um den Wald zu verstehen, sich auf ihn einzulassen, aber auch ihn zu sehen und zu fotografieren.

SPIEGEL: Was macht die Waldfotografie denn so aufwendig?

Schönberger: Ich brauche Zeit, um den Wald zu erkunden und Motive zu finden. Manchmal kehre ich zwei Jahre später zu einer Komposition zurück, um zu sehen, wie sie sich weiterentwickelt. Wald an sich wirkt auf den ersten Blick häufig nicht spektakulär. Bei Bergen ist das anders: Die Drei Zinnen in den Dolomiten etwa sind als Motiv bereits so beeindruckend, dass bei fast jedem Wetter ein halbwegs brauchbares Foto entsteht. Beim Wald funktioniert dies dagegen nur bei sehr speziellen Wetterbedingungen - beim Nebel zum Beispiel.

SPIEGEL: Ihr Bildband heißt "Grenzenlose Wildnis" - wie wild ist denn der Bayerische Wald wirklich?

Schönberger: In 50 Jahren wird er noch mal wilder sein als heute. Auch wenn er relativ spät erschlossen wurde, teilweise erst im 19. Jahrhundert, hat der Mensch viel im Wald verändert, und die natürlichen Urwaldflächen sind heute sehr klein. Diese sind aber eine Art Keimzelle: Urwaldarten, die dort überlebt haben, finden in nachwachsenden Wäldern eine neue Kinderstube - das ist das Konzept der Wildnis von morgen. Und es gibt heute schon eine relativ große Vielfalt an Tierarten, die sonst vom Aussterben bedroht oder schon längst verschwunden sind. Luchs, Wildkatze, Auerwild etwa und eine kleine Elch-Population im tschechischen Teil, dem Šumava-Nationalpark.

SPIEGEL: Ihr Co-Autor Axel Gomille hat die Tierfotos in Ihrem Buch zugeliefert. Hatten Sie auch besondere Tierbegegnungen?

Schönberger: Dieses Jahr war ich am Rand einer Waldwiese mit Fotografieren beschäftigt und sah aus den Augenwinkeln, wie hinter mir ein größeres Tier davonlief. Zunächst dachte ich, es sei ein von mir aufgescheuchter Hirsch. Aber es kam zurück, lief in meine Richtung - und ich sah, dass es ein Wolf war. Meine Nackenhaare stellten sich auf, der Griff am Stativ wurde fester. Gefühlt beäugten wir uns mit Respekt, und der Wolf ist dann in 200, 250 Meter Entfernung an mir vorbeigelaufen. Ein sehr wilder Moment.

SPIEGEL: Haben Sie auch schon Luchse gesehen?

Schönberger: Nein, der Luchs ist ein heimliches Wesen und hat ein sehr großes Revier. Nur im Winter habe ich öfters seine Spuren im Schnee entdeckt. Selbst die Leute, die im Nationalpark arbeiten, haben nur wenige Male einen gesehen. Aber in diesem Jahr gab es ein Gerichtsverfahren, gegen einen Wilderer, der Luchse angefüttert und erschossen haben soll.

SPIEGEL: Wieso passiert so etwas?

Schönberger: Teilweise sind die Ressentiments gegen die großen Beutegreifer wie Wölfe und Luchse noch groß, sie werden als Konkurrenten wahrgenommen. Ich bin auch schon in eine Auseinandersetzung geraten, während der ich fast tätlich angegriffen wurde: Was ich denn als - mutmaßlicher - Tierfotograf wollen würde, wurde ich gefragt, und ob ich ein Wolfs- und Luchsfreund wäre. Gewisse Themen wie die Rückkehr der Raubtiere oder eben auch der Umgang mit dem Borkenkäfer spalten noch immer die Gesellschaft.

SPIEGEL: Wie voll war es in diesem Corona-Sommer, in dem alle vor der Haustür unterwegs waren?

Schönberger: Sehr voll. Regelmäßig hieß es im Radio, dass Parkplätze und Zufahrtsstraßen überfüllt und gesperrt seien. Generell hat der Outdoor-Boom dazu geführt, dass es auch im Wald und in der Wildnis voller geworden ist - mit all den negativen Begleiterscheinungen. Letztes Jahr wollte ich frühmorgens auf einem Berg fotografieren und genoss die Stille, als die Sonne über dem Horizont auftauchte. Da stimmte plötzlich hinter mir eine Frauenwandergruppe ein vielstimmiges Halleluja an. Das wäre mir vor zehn Jahren nicht passiert. Als Fotograf bin ich natürlich auch Wegbereiter des Ganzen, da meine Bilder auch als Anregung dienen, bereits morgens in die Natur zu gehen.

SPIEGEL: Finden sich trotzdem noch einsame Ecken im Bayerischen Wald?

Schönberger: Vor allem die Gipfel im Grenzbereich sind eindrucksvoll, von denen man bis weit nach Böhmen sehen kann. Wo die unheimliche Weite, die fast an Skandinavien erinnert, das Seherlebnis ausmacht und weniger die Vertikale wie in den Alpen. Wo die bewaldeten Hügel sich hinter einander aufreihen. Das ist für mich das Faszinierende dieser Landschaft, die von herber Schönheit ist und einen nicht gleich mit ihren Reizen erschlägt.

SPIEGEL: Der Bayerische Wald ist Ihre halbe Heimat. Was wollen Sie mit diesem Fotoband vermitteln?

Schönberger: Ich möchte zeigen, dass dort in der Mitte Europas grenzübergreifend ein Stück wilde Natur entsteht. Wir brauchen Ruhezonen, die nicht von Infrastruktur zerschnitten sind, in der sich die Natur großflächig frei entwickeln und ein Lebensraum für Wildtiere entstehen kann. Der Mensch darf dort Gast sein, aber es geht primär um ein gewaltiges Naturschutzgebiet. In Deutschland gibt es immensen Nachholbedarf hinsichtlich der Ausweisung von Schutzgebieten. Eigentlich dürfen wir gar nicht mit dem Finger auf Brasilien zeigen.

SPIEGEL: Sie betonen immer wieder die Entwicklung, das Entstehen.

Schönberger: Ja, die Natur ist in ständiger Entwicklung, gerade auch aufgrund des Klimawandels. Mein Buch ist eine Art Zwischenstandsbericht. Darauf aufbauend kann vielleicht ein anderer Fotograf zum 200-jährigen Nationalparkjubiläum reflektieren, was von meinen Ansichten und Einsichten geblieben ist und wie es weitergegangen ist. Vor 50 Jahren, als der Nationalpark gegründet wurde, konnte sich keiner vorstellen, wie er jetzt aussieht. Jetzt sind wir in einer spannenden Situation, die einerseits Aufbruchstimmung ist, andererseits aber viele offene Fragen vorgibt.

SPIEGEL: Welche zum Beispiel?

Schönberger: Was passiert, wenn die Winter wärmer werden, wenn in den Hochlagen weniger Schnee fallen sollte? Wie ändert sich dann der Wasserhaushalt vieler Flüsse in Tschechien und Bayern? Was wird der menschengemachte Klimawandel mit der vom Menschen kaum beeinflussten Natur machen?

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