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Besteigung des Hochwanner Der einsame Zweite

Die Zugspitze ist Deutschlands Vorzeigeberg - und entsprechend beliebt. Wie wäre es stattdessen mit dem zweithöchsten Gipfel? Ein Koloss mit Einsamkeitsgarantie und Geschichte.
Von Günter Kast

Auf die Zugspitze fahren die Gondeln seit Pfingsten wieder. Statt 120 dürfen nach der Corona-Zwangspause inzwischen maximal 70 Personen in eine Seilbahnkabine. Auch wenn weniger Menschen am Tag damit auf Deutschlands höchsten Berg gelangen - die Warteschlange ist durch die Beschränkung umso länger, die Tickets an manchen Tagen früh ausverkauft.

Nicht nur die Bergbahnen von Bayerischer und Tiroler Seite führen auf den 2962 Meter hohen Gipfel, sondern auch mehrere Routen für Bergsteiger. Die Alpenvereinshütten im Wettersteinmassiv sind allerdings hoffnungslos ausgebucht, weil sie wegen der Corona-Regeln weniger Gäste als sonst beherbergen dürfen.

Wer sich dem Stau am Dach Deutschlands entziehen will, könnte den zweithöchsten Zacken der Republik in Angriff nehmen. Doch welcher Berg ist denn Vizemeister? Die Frage ist vertrackt, denn es existiert keine allgemeingültige Definition.

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Tour zum Hochwanner: Warum nicht mal auf den Zweithöchsten?

Foto: Olympiaregion Seefeld/ Charly Schwarz

Die internationale Vereinigung von Alpinistenverbänden, UIAA, unterscheidet zwischen Hauptgipfeln und übrigen Gipfeln. In den Alpen gilt ein Berg laut UIAA bereits ab einer Schartenhöhe von 30 Metern als eigenständig.

Vielen Alpinisten und anderen Experten wie Geologen ist das zu wenig. Sie geben eine Mindestschartenhöhe von 100 oder gar 300 Metern vor, zählen daher nur die Hauptgipfel ganzer Bergmassive. Alle Erhebungen unter einer Schartenhöhe von 30 Metern betrachten sie als Nebengipfel.

Nach dieser strengeren Definition folgen auf die Zugspitze eben nicht Schneefernerkopf (2874 Meter) und Mittlere Wetterspitze (2750 Meter), die sich beide in der Nähe der Königin befinden. Die Nummer zwei ist vielmehr der Hochwanner (2744 Meter).

Der liegt zwar ebenfalls im Wettersteinmassiv, ist aber weit genug von der nordwestlich gelegenen Zugspitze entfernt, um als eigenständig zu gelten. Der Watzmann im Berchtesgadener Land mit seiner berühmt-berüchtigten Ostwand, in der bereits mehr als hundert Alpinisten ihr Leben ließen, muss sich mit der Bronzemedaille begnügen. Seine Mittelspitze ist eben "nur" 2713 Meter hoch.

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Erst mit dem Mountainbike zur Rotmoosalm

Dem Hochwanner geht es wie vielen ewigen Zweiten: Kaum jemand nimmt Notiz von ihm. Er wirkt im Schatten der Zugspitze etwas blass. Dabei wurde er schon 1870 erstbestiegen. Und zwar von dem legendären Herrmann von Barth - jenem Freiherren, der vom Allgäu über das Karwendel bis in die Berchtesgadener Alpen viele Gipfel im Alleingang erkletterte.

Wir wollen Barths Route folgen, dem heutigen Normalweg. Die Herausforderung dabei: Zwischen dem Startpunkt im Tiroler Gaistal auf der Südseite des Wettersteins und dem Gipfel liegen gut 1500 Höhenmeter und viele Kilometer. Für eine Tagestour wäre das ein ordentliches Pensum.

Wer seine Energie sparen will, fährt deshalb am besten mit einem E-Mountainbike bis zum Standort der alten Rotmoosalm, die 2009 von einer Lawine zerstört wurde. Die Auffahrt am frühen Morgen führt durch das Gaistal, das als eines der schönsten Täler Tirols gilt. Zur Linken thront die Hohe Munde, rechts ragen die wilden Wände des Wettersteins gen Himmel.

Der Platz für das Raddepot in einer markanten Rechtskurve des Schotterwegs ist leicht zu finden: Hier steht ein kleiner Schuppen sowie der Wegweiser zum Steinernen Hüttl und zum Predigtstein. Nur hundert Höhenmeter oberhalb thront der Neubau der Rotmoosalm - mit bestem Blick auf den Hochwanner.

Der weitere Weg zu Fuß ist nichts für Anfänger - Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und gute Orientierung sind auf dem anstrengendem Geröllanstieg gefordert: "Auf den Hochwanner?", fragt ein Alphirt und zieht die Augenbrauen hoch. "An schönen Schutthaufen habt’s euch da ausgsuacht."

Bis zum Mitterjöchl auf rund 2100 Metern geht es ganz gut. Wir folgen zwar einem mehr oder weniger weglosen Grasrücken, wissen aber, dass wir auf eine Holzbank zuhalten müssen, die da etwas deplatziert auf der Almweide steht.

Grenzkamm ist bekannt als Teufelsgrat

Murmeltiere begleiten unseren Aufstieg mit ihrem Pfeifen. Noch weiter oben weist kein Schild den Weg. Ein GPS-Gerät hilft weiter, denn auf andere Menschen, die man nach der Route fragen kann, sollte man nicht zählen. Auch die Gämsen flüchten in der Steinwüste, wenn man ihnen zu nahe kommt. Eine kurze, felsige Rinne. Lange, Kraft zehrende steile Geröllhalden. Schritt für Schritt geht es nach oben, die Ausblicke auf das Wettersteinmassiv vor der Nase und den Alpenhauptkamm in der Ferne werden immer spektakulärer.

Nach vier bis fünf Stunden ist man hoffentlich ganz oben auf der deutschen Nummer zwei. Wir schauen nach Süden zur Mieminger Kette. Richtung Ehrwald zur Sonnenspitze. Nach Norden zum berühmten Jubiläumsgrat, der am Zugspitzgipfel endet oder beginnt, je nach Startpunkt. Wer ein Fernglas dabei hat, erkennt dort, wie sich Menschen von der Seilbahn zum höchsten Punkt hochhangeln - ohne richtige Ausrüstung riskieren sie viel für ein Selfie.

Das Gipfelkreuz steht übrigens direkt auf der deutsch-österreichischen Grenze zwischen Garmisch-Partenkirchen (Bayern) und Leutasch (Tirol). Der Grenzkamm, der sich vom Gatterl bis zur Oberen Wettersteinspitze erstreckt und dessen höchsten Punkt der Hochwanner-Gipfel markiert, ist unter Kletterern als Teufelsgrat bekannt - nomen est omen.

Noch Furcht einflößender ist der Blick in die 1400 Meter hohe Nordwand des Hochwanners und das tief unten liegende Reintal. Beim Blättern im Gipfelbuch mit seinen wenigen Einträgen sehen wir, dass da tatsächlich eine Seilschaft durch die Nordwand, eine der höchsten der Ostalpen, hochgestiegen ist, und zwar erst vorletzte Woche.

Drama in der Nordwand: Neun Tage Ausharren im Fels

Nur alpinhistorisch Interessierte wissen, dass sich in dieser Wand 1937 ein Drama abspielte, das dem in der Eigernordwand ein Jahr zuvor mit dem Todeskampf des Toni Kurz kaum nachsteht: Am 18. September 1937, einem Samstag, schnallen in München Adolf Haberl, 30, und die beiden 18 und 17 Jahren alten Lehrlinge Georg Baumgartner und Erwin Vuzem ihre Rucksäcke auf die Fahrräder. Ihr Ziel: die bei Wetterstein-Kletterern bekannte Oberreintalhütte, die damals vom schon legendären Fischer Franz bewirtschaftet wird.

Das Trio durchsteigt am Sonntag eine Route am Oberen Schüsselkar-Turm, danach verabschiedet sich Haberl, der am Montag wieder arbeiten muss. Die beiden Teenager haben Zeit und nehmen sich am folgenden Tag die Alte Nordwandroute am Hochwanner vor. 400 Meter unterhalb des Gipfels müssen sie im Schneesturm biwakieren - wie auch am folgenden Tag. Vuzem stürzt beim Sichern des Schlafplatzes 30 Meter in die Tiefe, wird zum Glück von den Schneemassen gebremst. Ohne Schuhe, nur mit Socken an den Füßen, wagt er sich in der stockdunklen Nacht nicht an den Wiederaufstieg zu seinem Freund.

Als er am nächsten Morgen das Biwak erreicht, ist Baumgartner verschwunden, das Seil abgezogen. Vuzem bleibt nichts anderes übrig, als mit seinen erfrorenen Füßen in einer kleinen Felshöhle auszuharren. Er weiß nicht, dass sein Freund zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist, ein ausbrechender Haken ließ ihn beim Abseilen abstürzen.

Hochwanner - Der Aufstieg

Alpinwanderung  mit anspruchsvollen Passagen und einer Kletterstelle im 1. Schwierigkeitsgrad nach UIAA. Orientierungssinn, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind erforderlich. Ein Steinschlaghelm ist empfehlenswert.

Nun beginnt für den 17-Jährigen ein Martyrium, das Ludwig "Wiggerl" Gramminger in seinem Buch "Das gerettete Leben" packend und detailgenau beschreibt. Der Münchner gehört damals zur Elite der deutschen Bergsteiger, ist aber vor allem Bergwachtpionier, der mithilfe einer Stahlseilwinde eine Technik entwickelt, um Menschen aus steilsten Wänden zu bergen. Gramminger gelingt es nach neun Tagen, Vuzem aus der Wand zu holen. Der verliert zwar sämtliche Zehen, führt aber weiterhin ein sehr aktives Bergsteigerleben.

Mit dieser Geschichte im Kopf machen wir uns vorsichtig an den Abstieg. Und sind ziemlich froh, als wir die unangenehmen und extrasteilen Schuttkare hinter uns haben.

In der Gaistalalm stoßen wir auf Deutschlands Zweithöchsten an. Und freuen uns darüber, dass wir dem ruhigen Gipfel eine Chance gegeben haben.

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