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Extremwandern in Bayern: 24 Stunden mit Fußschmerzen

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Bayerns 24-Stunden-Wanderung Auf wunden Füßen nach Füssen

60 Kilometer wandern in 24 Stunden - ohne Schlaf. Wer tut sich das an? Hunderte Freiwillige starteten im Allgäu zur Marathontour. Sie erlebten eine Grenzerfahrung für Körper und Kopf.

Vier Alphornbläser spielen "Kein schöner Land", während im Gänsemarsch eine bunte Karawane aus Menschen mit Outdoorjacken, Neon-Rucksackabdeckungen und Regenschirmen an ihnen vorbeizieht. "Wir haben Wetter mit Charakter", hat Organisator Stefan Fredlmaier vor dem Start verkündet, und der Charakter ist zunächst einmal nass und trüb.

"Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das uns're weit und breit", so geht das Volkslied. Zunächst können das die Wanderer, die in Füssen zu den "24 Stunden von Bayern" gestartet sind, nicht bestätigen. Manchmal ist beim Anstieg zum Tegelberg vor lauter Nebel schon der Vordermann in 40 Meter Entfernung nicht mehr sichtbar.

Die Herausforderung sind 60 Kilometer zu Fuß auf einer Tages- und einer Nachtrunde, die ganz Ambitionierten können noch eine Extratour mit zusätzlichen 14 Kilometern draufpacken. Dafür haben sie 24 Stunden Zeit, ab Samstagfrüh um acht. Eine ganz schöne Schinderei. Doch Schinderei kommt an: Innerhalb von zwölf Stunden hatten sich mehr als 2000 Interessenten gemeldet, dann entschied das Los: für Nicholas aus Detmold, Chihiro aus Tokio, Andrew aus London und 441 weitere Teilnehmer.

"Das Einzige, was ich bisher 24 Stunden am Stück gemacht habe, ist vermutlich Schlafen", sagt Andrew. Von einer Tante aus Bayern hat er von dem Event gehört, jetzt ist er zum ersten Mal in Deutschland mit zwei Freunden. Ob er es packen wird? "Keine Ahnung, ich bin seit Jahren nicht gewandert", sagt er. Aber die eine oder andere Nacht habe er schon durchgemacht.

Träume von Neuschwanstein

Auch Nicholas wirkt nicht wie der typische Extremwanderer. Er läuft seit neun Jahren auf Krücken, wegen einer Knochenkrankheit. Der linke Oberschenkel wird von einem Gelenk aus Titan gehalten. "Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit, um über das Leben nachzudenken", sagt der 28-Jährige, der eine Brille mit schwarzem Rand trägt und ein ägyptisches Augensymbol als Tattoo auf dem Unterarm. Er liebt Wanderungen: Zuletzt lief er durch die Gorges du Verdon in Frankreich, im Winter war er auf den Säuling im Allgäu, der sich nun neben dem Tegelberg im Nebel verbirgt.

Chihiro aus Tokio ist die Teilnehmerin mit dem am weitesten entfernten Geburtsort. Seit zehn Jahren lebt sie in Deutschland. "Eigentlich bin ich wegen Neuschwanstein gekommen, als Austauschstudentin", sagt die Soziologin. Als sie vier war, sah sie eine Abbildung des Märchenschlosses in einem Klavier-Lehrbuch. "Seitdem habe ich davon geträumt, das einmal in echt zu sehen." Ihr Traum erfüllt sich schon zum sechsten Mal, als der Nebel kurz den Blick auf die schwanweiße Phantasie-Trutzburg über Füssen freigibt.

Frühstück. Anstehen an einer Holzhütte, in der sonst die Bergführer ihr Material lagern, es gibt Äpfel, Landjäger, Karotten, Brezeln und Holundersirup im Pappbecher. In regelmäßigen Abständen laden auch später am Wegesrand Mitarbeiter in Dirndl oder Lederhose zu Konsum oder Aktivitäten ein - mal mehr ("Einen Heuschnaps?", "Massage?") und mal weniger erfolgreich ("Haben Sie Lust, einen Baum zu pflanzen?").

24 Stunden all-inclusive

Hungern muss niemand, eigene Vorräte sind unnötig, denn etwa alle drei Kilometer werden Energieriegel, Wasser oder ganze Mahlzeiten angeboten. Neben dem Laufen steht deshalb oft eine zweite Ausdauerdisziplin auf dem Programm: Warten. Schlangestehen an der Pasta-Ausgabe, Schlangestehen vor dem Gondellift zurück ins Tal. Der Menschenmassen-Höhepunkt wird natürlich am Schloss Neuschwanstein erreicht. Schwitzende Wanderer und parfümierte Touristen drängen sich an der Marienbrücke aneinander vorbei, ein Clash der Ausflugskulturen mit Traumblick auf die Südfassade.

Ludwig II. soll lieber geritten sein, als zu Fuß zu gehen, darum ließ er hier viele Wege für Pferde anlegen. Seine Mutter Marie von Preußen dagegen war die berühmteste deutsche Bergsteigerin ihrer Zeit, vermutlich hätte sie auch an einer 24-Stunden-Wanderung großen Spaß gehabt.

"Nachts kommt irgendwann immer der tote Punkt", sagt Wanderer Thorsten Hoyer beim Abendessen in Füssen, bei dem sich endlich die Sonne zeigt. Hoyer muss es wissen, er hat 2010 in 49,5 Stunden schlaflos die Alpen überquert, Normalmenschen brauchen von Oberstdorf nach Südtirol sieben Tage.

"Bei mir kommt das Motivationsloch meistens im Morgengrauen", berichtet er. Was dann hilft? "Ein Stück Schokolade, eine kurze Pause." Heute hat er nur einen winzigen Rucksack dabei, besonders anstrengend fand er die ersten 28,4 Kilometer nicht. "Ich bin noch ganz gut in Schuss bisher", sagt der 44-Jährige und grinst in seinen Vollbart.

"Ich leide eben gern"

Es sind Wanderprofis wie er dabei, Marathonläufer und Höhenbergsteiger, aber auch Hobby-Spaziergänger in Turnschuhen und etwa jede Könnens- und Erfahrungsstufe dazwischen. Der Jüngste ist 15, der Älteste 78. Etwa 150 Teilnehmer geben diesmal vorzeitig auf, ein guter Wert, auf den bisherigen vier ähnlichen Events in anderen Regionen Bayerns war es je rund die Hälfte.

Warum tut man sich so etwas an? "Ich leide eben gern", sagt ein Mann aus Potsdam, der schon zum vierten Mal mitläuft. "Ich mag verrückte Sachen", sagt ein anderer. Für viele liegt die Motivation vor allem darin, die eigenen Grenzen kennenzulernen.

Nach einem Schiffstransfer über den Forggensee beginnt die Nachtetappe. Zum Sonnenuntergang lassen Goaßlschnalzer in Tracht ihre Peitschen krachen, danach ist bald nur noch das Zirpen der Grillen und das Klackern der Wanderstöcke zu hören. Der Vollmond leuchtet über den Ostallgäuer Bergen, so hell, dass man nur im Walddickicht die Stirnlampe braucht.

Die Gespräche nehmen ab, die Schmerzen in Füßen und Beinen nehmen zu. Eine Teilnehmerin wird humpelnd zu einem Wagen des Technischen Hilfswerks gebracht. Jeder hat eine Notrufnummer dabei, für alle Fälle. Längst haben sich viele Grüppchen gebildet, alte und neue Bekanntschaften. Extreme Erlebnisse verbinden, man vergisst nicht, mit wem man nach 42,5 Kilometern um Mitternacht Kartoffelsuppe gelöffelt hat, während eine Trachtengruppe bayerische Volkslieder anstimmte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit zeigt sich das erste Tageslicht, Vögel zwitschern in den Bäumen. Die Zehen tun weh, aber der Zielsekt ist endlich in Reichweite. Schon um 2.15 Uhr kommen die Ersten am Füssener Sportplatz an, die Letzten gegen sieben. Unter ihnen ist Andrew, der Londoner. "Sehr anstrengend, aber eine schöne Tour", sagt der Brite, etwas wortkarg ist er durch die Mühen geworden.

"Neuschwanstein war wieder toll", sagt Chihiro strahlend. "Aus der Perspektive vom Tegelberg-Lift habe ich es bisher noch nicht gesehen." Und Nicholas, der Mann mit den Krücken, wundert sich, dass er unterwegs nicht müde geworden ist: "Erstaunlich, was der menschliche Körper leisten kann." Eine ziemlich schmerzhafte Blase hat er aber doch mitgenommen als Erinnerung - an der linken Hand.

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