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Enno Seifried

Zu Fuß von der Nordsee in die Alpen »Das Einzige, was wirkte: weiterlaufen«

3442 Kilometer, 165 Tage Wanderglück: Trotz Blasen an den Füßen und langer Regentage ging Enno Seifried immer weiter – um endlich das Land vor seiner Haustür kennenzulernen.
Ein Interview von Eva Lehnen

SPIEGEL: »Als würde direkt neben mir ein Atomkraftwerk explodieren« – so beschreiben Sie in ihrem Dokumentarfilm »Deutschland zu Fuß«  bange Minuten ziemlich zu Beginn Ihrer Reise. Nach einer Nacht am Weststrand auf dem Darß braute sich über der Ostsee ein heftiges Unwetter zusammen. Während aus der tief hängenden Wolkendecke Donner krachen und Blitze hinabschießen, finden Sie keinen Schutz. Haben Sie sich in diesem Moment zurück nach Hause gewünscht?

Seifried: Eigentlich bin ich ein ziemlich angstfreier Mensch. Ich hatte zum Beispiel überhaupt keine Bedenken, allein loszuwandern, im Gegenteil – aber in dieser Situation dachte ich schon: »Hoffentlich geht das gut«. Hinter mir lag die Steilküste, da kam ich nicht hoch. Also bin ich eng an den Felsen am Strand entlanggelaufen und fand irgendwann den Weg in den Wald. Auch nicht gerade der günstigste Ort bei Gewitter, dennoch fühlte ich mich unter Bäumen geschützter. Kurz nach dem Unwetter riss der Himmel auf, der Spuk war vorbei.

SPIEGEL: Sie sind von Mai bis Anfang November 2019 mit Zelt und Rucksack durch Deutschland gewandert – von List auf Sylt bis Oberstdorf im Allgäu. Wie haben Sie sich vorbereitet?

Seifried: Gar nicht groß. Meine Ausrüstung lag noch von früheren Touren bereit. Zelt, Isomatte, Schlafsack, Kocher, zwei Pullis – von denen ich kurz nach Tourstart einen zurückgeschickt habe, um Gewicht zu sparen – ein Wechsel-Set Unterwäsche und Socken, eine dünne, leichte Daunenjacke, eine Regenjacke und einen -poncho, der auch als Zeltunterlage funktionierte. Und natürlich meine Filmausrüstung. Bei vielen Menschen ist es ja so, dass Vorbereitung die Vorfreude steigert. Bei mir ist das anders.

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Enno Seifrieds Deutschland-Tour: Auf der Fragezeichen-Route

Foto: Enno Seifried

SPIEGEL: Wie denn?

Seifried: Für mich liegt das Abenteuer darin, eben nicht alles durchgeplant zu haben. Ich wusste, wo ich loslaufe und am Ende ankommen möchte und dass ich möglichst viel in der Natur, fern von größeren Städten unterwegs sein wollte. Die genaue Route habe ich dann unterwegs spontan von Woche zu Woche festgelegt.

SPIEGEL: Schaut man sich den Verlauf Ihrer Route auf der Deutschlandkarte an, hat sie eine ganz besondere Form. Sie sieht aus wie ein Fragezeichen. Bestimmt ein Zufall, aber auch ein schönes Sinnbild. Was haben Sie unterwegs gesucht?

Seifried: Viele Jahre hat es mich vor allem in die Ferne gezogen. Nach Nordamerika, Mexiko, Thailand, Myanmar. Ich lief vier Monate quer durch Polen bis zur weißrussischen Grenze, fuhr mit dem Fahrrad knapp 5000 Kilometer von der Ostsee zum spanischen Kap Finisterre, wanderte durch das Velebit-Gebirge in Kroatien und über die Alpen. Und dann 700 Kilometer durch den Harz. Ich hatte keine Ahnung, wie wunderschön es in diesem Mittelgebirge ist. Nach dieser Erfahrung wollte ich unbedingt das Land vor meiner Haustüre näher kennenlernen.

»Ich bin ja nicht auf Tour gegangen, um mich selbst zu geißeln.«

SPIEGEL: Was hat Sie überrascht?

Seifried: Wie vielfältig und abwechslungsreich unsere Heimat zwischen Küste und Haldenwanger Eck ist. Es war so beeindruckend, beim Gehen zu merken, wie sich die Landschaft verändert. Und mich hat die Offenheit der Menschen unterwegs sehr überrascht. Obwohl wir vermutlich völlig unterschiedliche Leben führen und wir wenig miteinander gemein haben, haben sich unterwegs herzliche Gespräche ergeben. Ich bekam Einladungen. So wies mir in Brandenburg ein Mann den Weg zu einem besonders schönen Schlafplatz. Am nächsten Morgen stand er bei mir vorm Zelt und hatte Frühstück mitgebracht. Es ist schon komisch: Ständig begeistert uns die Gastfreundschaft der Menschen in fernen Ländern. Dabei existiert sie hierzulande genauso. Im eigenen Land macht man sich nur so selten auf, sie zu erfahren.

SPIEGEL: Sie haben Ihr Zelt nachts in Wäldern, an Seen oder Flüssen aufgestellt. Anders als zum Beispiel in skandinavischen Länder ist Wildcampen hierzulande verboten. Haben Sie sich Ärger eingehandelt?

Seifried: Kein einziges Mal. Einmal habe ich unterwegs sogar einen Förster getroffen. Eigentlich musste ihm klar gewesen sein, dass ich die Nacht in seinem Wald verbracht hatte. Er hat darauf verzichtet nachzufragen, und hat mich stattdessen zu den besten Johannisbeersträuchern geführt. Ich finde: Der Wald ist für uns alle da. Wer sich dort wohlfühlt, soll darin auch übernachten dürfen. Dass man seinen Platz sauber hinterlässt und nichts zerstört, ist doch klar. Einmal in der Woche habe ich mir ein Bett in einem Gasthof oder Hotel gegönnt. Ich bin ja nicht auf Tour gegangen, um mich selbst zu geißeln, mir sollte es gut gehen. Und ich musste die Akkus meines Equipments regelmäßig aufladen.

SPIEGEL: Ab und zu haben Sie die Isomatte auch in leer stehenden Baracken ausgerollt. Konnten Sie dort denn wirklich gut einschlafen?

Seifried: Klar. Was soll schon passieren? Ich hatte nicht um mich Sorge, sondern eher davor, dass jemand reinkommt und sich furchtbar vor dem Bündel auf der Isomatte erschreckt.

SPIEGEL: Wie sah Ihr Tagesablauf aus?

Seifried: Entspannt. Ich habe meist bis 9 oder 9.30 Uhr geschlafen, dann ganz in Ruhe Frühstück gegessen und mich umgesehen. Gegen Mittag habe ich mich wieder aufgemacht. In den hellen Sommermonaten konnte ich bis weit in den Abend hinein laufen. Meine Etappen waren zwischen 20 und 30 Kilometer lang. Ich wollte mich nicht stressen, sondern die Wanderung wirklich genießen. Auch wenn ich mich sehr darüber freue, dass mein Film vor einigen Wochen endlich fertig geworden ist – unterwegs habe ich immer darauf geachtet, dass die Dreharbeiten nicht wichtiger werden als mein Erleben vor Ort. Ursprünglich hatte ich eine Kameradrohne dabei. Die habe ich jedoch ganz schnell wieder zurückgeschickt.

SPIEGEL: Wie haben Sie sich unterwegs verpflegt?

Seifried: Müsli, Äpfel, Fertignudeln. Im Gepäck hatte ich immer Verpflegung für die folgenden vier bis fünf Tage. Wenn ich an einem Café oder Gasthof vorbeikam, bin ich eingekehrt. Zwei Stück Torte und danach noch ein Eisbecher – kein Problem. Wandern macht wirklich hungrig. Am Ende der Tour war ich zwölf Kilogramm leichter.

SPIEGEL: Während der ersten Wanderwochen hatten Sie ständig Blasen an den Füßen. Was war Ihr Heilmittel?

Seifried: Ich kann leider keinen nützlichen Tipp geben. Ich hatte bequeme Schuhe. Doch kein Pflaster und auch nicht das zweite Paar Socken hat etwas genützt. Das Einzige, was wirkte: weiterlaufen. Irgendwann waren die Blasen verschwunden.

SPIEGEL: Sie waren 2019 unterwegs, im Film ist zu sehen, wie Sie sich manch einen zugewucherten Wanderweg überhaupt erst freischlagen mussten. Im vergangenen Jahr waren Deutschlands Wanderwege hingegen voll. Haben Sie einen Rat für die kommende Saison: Wo wandert man abseits der Massen?

Seifried: Beschäftigen Sie sich mit den Landschaften, die zwischen Wander-Hotspots liegen. Natürlich ist im Harz was los und in der Sächsischen Schweiz – dazwischen ist es aber auch wunderschön.

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