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Büdchen und Trinkhallen: Ikonen des Ruhrgebiets

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Trinkhallen im Ruhrgebiet Wallfahrt zum Tante-Elli-Laden

Kaugummi, Cola und Brausepulver: Krämerläden wecken Erinnerungen an die Kindheit. Besonders im Ruhrgebiet sind sie wahre Ikonen. Doch die rund um die Uhr geöffneten Tankstellenshops machen den Trinkhallen das Leben schwer. Ein Rundgang zu einer schwindenden Spezies.

Bochum - Auf Elli Altegoer können sich die Bewohner der Farnstraße verlassen. Jeden Morgen, Punkt 6 Uhr, sperrt die Bochumerin ihre Trinkhalle auf. Wie immer seit 44 Jahren sortiert sie dann die Zeitungen und rückt den Brötchenkorb auf den Tresen - das Tagesgeschäft kann beginnen.

Bald kommen die ersten Kunden: Männer auf dem Weg zur Frühschicht halten kurz an, um bei Altegoer die Morgenzeitung und frisch belegte Brötchen zu kaufen. Viele Kunden kennt sie persönlich, mit jedem wechselt sie ein paar Worte. So viel Zeit muss sein. Wenig später kommen die ersten Hausfrauen: Sie kaufen Milch, Marmelade oder eine Packung Wurst. "Wir haben ja fast alles", sagt Altegoer "wie ein kleiner Supermarkt."

Die Mischung von Süßigkeiten bis Salzgurken ist aber nicht der einzige Grund, warum ihre Kundschaft kommt. Altegoers Trinkhallen-Laden ist zugleich auch Nachrichtenbörse für diese Ecke von Bochum-Ehrenfeld. Wer mit wem und warum? Kaum etwas bleibt verborgen, jeder scheint über seinen Nachbarn Bescheid zu wissen. Dorfleben mitten in der Großstadt? Tratsch und Klatsch? "Wir reden nicht übereinander, wir sprechen miteinander", sagt Altegoer.

Kontemplative Erschließung des Ruhrgebiets

Ihr Lädchen ist eine der sechs Stationen von Giampiero Pirias Trinkhallen-Touren, die der gebürtige Oberhausener im Sommer mit Touristen unternimmt. Als Kioskwallfahrt bezeichnet er seine Rundgänge: "Mit den Trinkhallen bin ich aufgewachsen, habe dort auch mein erstes Taschengeld für Süßigkeiten ausgegeben. Die Stadtwanderungen sind für mich so etwas wie die kontemplative Erschließung des Ruhrgebiets."

Kreuz und quer durch die Bochumer Stadtteile Ehrenfeld, Stahlhausen und das Springerviertel führt die Route, die am Kulturzentrum Rotunde beginnt und endet. Während der dreistündigen Tour berichtet Piria jede Menge Historisches, vom 13. Jahrhundert bis in die heutige Zeit: "Im Alttürkischen war der Kiosk ein Pavillon, in dem die Besucher von Parks kleinere Feste feiern konnten."

An diese orientalische Herkunft erinnere heute noch der Kiosk auf dem Marktplatz in Duisburg Alt-Hamborn mit dem hübsch geschwungenen Dach und Zwiebeltürmchen. "Im Mittelalter etablierte sich der Kiosk in Wien", erzählt Piria. Später hieß er hier dann Tabaktrafik, obwohl nicht nur Tabakwaren gehandelt wurden.

Im Ruhrgebiet entstanden die ersten Kioske um 1870 mit der Industrialisierung. Oft siedelten sich die Trinkhallen vor den Werkstoren der Kohlezechen und Stahlwerke an, darüber hinaus auch in Werkssiedlungen, an Bus- und Straßenbahnhaltestellen oder belebten Straßenkreuzungen. Anfangs als Verkaufsstellen für Mineralwasser gedacht, entwickelten sich Kioske im Lauf der Jahrzehnte zu Supermärkten im Kleinformat. Da gibt es fast alles, was es zu kaufen gibt: Kaugummi und Kekse, Tabakwaren und Toilettenpapier, Bier und Brause, Schulhefte und Verbandpflaster.

Die Trinkhallen sterben aus

"Kioske sind für mich die Ikonen der regionalen Identität", sagt Piria. "Sie gehören zum Ruhrgebiet." Die Kioskwallfahrten bietet er in Zusammenarbeit mit Bochum-Tourismus für Gruppen an. Die Besucher kommen von überall her, aus Bremen und Saarbrücken und natürlich auch aus dem Ruhrgebiet selbst. "Ich will meinen Mitwanderern auf den Touren die Augen öffnen, Dinge und Veränderungen in ihrer Stadt bewusster wahrzunehmen." An fünf Kiosken ist daher eine Ausstellung mit dokumentarischen Ruhrgebietsfotografien des Künstlers Rolf Arno Specht zu sehen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Situation der Kioske verändert. Rund 18.000 Trinkhallen soll es nach sehr vorsichtigen Schätzungen des Kommunalverbands Ruhrgebiet noch gegen Ende der neunziger Jahre zwischen Duisburg und Dortmund gegeben haben. Sicher ist nur, dass diese Zahl immer geringer wird. "Durch die rund um die Uhr geöffneten Tankstellenshops und das Ladenschlussgesetz mit Öffnungszeiten bis Mitternacht haben viele Kioskinhaber aufgeben müssen", sagt Dietmar Osses, Leiter des Westfälischen Landesmuseums für Industriekultur auf der Zeche Hannover in Bochum.

Außerdem hätten die Kioske mit dem Rückzug der Großindustrie ihre Kundschaft verloren: Schließt ein Werk, bedeutet das meist auch das Ende der Trinkhalle nebenan. "Trinkhallen in den Wohnsiedlungen konnten sich jedoch behaupten. Nachdem viele Tante-Emma-Läden großen Supermärkten weichen mussten, füllen Kioske mit ihren Angeboten nun diese Lücke aus", sagt Osses.

Für die Bewohner des Ruhrgebiets sind die Kioske Kult. "Und ästhetisch", fügt Kurt Wettengl aus Dortmund an. Der Professor leitet das Museum Ostwall im U-Turm und ist außerdem Mitbegründer des ersten Kiosk-Clubs 1. KCMO 06. Der Verein sorgt sich um den Fortbestand der Trinkhallen - in der ursprünglichen Form als Tante-Emma-Laden oder in neuer Bestimmung etwa als Ausstellungsplatz für zeitgenössische Kunst.

Ein Kiosk ist in diesem Sommer sogar museumsreif. Innerhalb der noch bis zum 1. September 2013 laufenden Ausstellung "Zum Wohl!" des LWL Industriemuseums auf der Zeche Hannover kommt die Trinkhalle von Emmy Olschewski aus Castrop-Rauxel zu Ehren.

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Foto: Emons Verlag / Bernd Imgrund
Bernd F. Meier/dpa/jus
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