Eistauchen Rausch der Kälte

Fische gucken? Möglichst tief runter? Papperlapapp. Für Eistaucher zählt vor allem eines: Der Blick nach oben, der ganz neue Aussichten offenbart. Sie schwärmen von der Zauberwelt unter dem Eis - den Rückweg sichert nur eine dünne Schnur.
Von Linus Geschke
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Unter dem Eis: Wie in einer anderen Welt

Foto: Wolfgang Pölzer

Eigentlich liebt Uwe Wegner Eis, bevorzugt in zerstoßener Form. So wie im Cocktail. Da kann er gefrorenem Wasser durchaus etwas abgewinnen. Mit der Vorstellung jedoch, gleich unter einer geschlossenen Eisdecke entlang zu tauchen, ist er noch nicht so richtig warm geworden: Ein Gesicht voller Vorfreude sieht jedenfalls anders aus.

Für den Innsbrucker Dieter Kuchling sind solche Bedenken nichts Neues. Seit knapp 30 Jahren schon organisiert er mit seiner Firma "Tauchen in Tirol"  Wintertauchgänge in österreichischen Seen. "Ähnlich wie bei Tauchgängen in Höhlen oder Wracks müssen sich viele erst mal mit dem Gedanken anfreunden, nicht jederzeit auftauchen zu können. Aber das regelt sich meist nach dem ersten Tauchgang von alleine - danach sind sie süchtig nach den Ausblicken."

Unter den vielen Tiroler Seen zählt der auf 1100 Meter Höhe gelegene Blindsee zu Kuchlings absoluten Favoriten: "Hier liegen Baumstämme wie Mikadostäbchen herum, und die Sichtweiten können unter dem Eis bis weit über 50 Meter betragen. Das sieht gigantisch aus!" Ebenso wie die Landschaft, die den See umgibt. Der Schnee liegt dick auf den Tannen, und die Männer versinken bis zu den Waden im flockigen Pulver, das bei jedem Schritt unter den Stiefeln knirscht: ein Wintermärchen.

Aus einem mitgebrachten Radio ertönt dann auch noch "Leise rieselt der Schnee". Eigentlich ein friedliches und besinnliches Lied. Nur nicht für Wegner, nicht so unmittelbar vor dem Tauchgang. Irgendetwas ist anders als sonst. Warum klingt "…still und starr ruht der See" auf einmal so bedrohlich?

Bizarre Welt aus Eis

"Ich hatte in Fachmagazinen die tollen Bilder vom Eistauchen gesehen und wollte das ausprobieren", erzählt Wegner, während er mit gerunzelter Stirn auf die Eisdecke blickt. "Gerade jetzt bin ich mir jedoch nicht mehr so sicher, ob dies eine meiner besten Ideen war."

Zeit zum Überlegen bleibt ihm jetzt nicht mehr. Kuchling sitzt am Loch, das er zuvor mit der Säge ins Eis getrieben hat. Seine Beine baumeln bereits im Wasser. "Auf geht's, gemma!", ruft er fröhlich, dann taucht er ab. Wegner folgt ihm, erst zögernd, dann entschlossen. Hinunter in eine Welt, die mit jener über dem Eis fast nichts gemeinsam hat.

Zusammen mit Kuchling gleitet er nur einen Meter tief unter der Eisdecke entlang. Das einzige Geräusch kommt von den Atemreglern, es macht "schhhh" beim Einatmen und blubbert, wenn die Luft wieder entweicht. So regelmäßig wie ein Herzschlag. Beide flösseln nur langsam vorwärts, gleiten über abgestorbene Bäume hinweg, deren Äste wie mit Moos besetzte Finger wirken. Beim Eistauchen kommt es nicht auf Tiefe oder Strecke an. Es ist der Blick nach oben, der zählt.

Wenn sich die ausgestoßene Atemluft unter der Eisdecke sammelt und wie flüssiges Metall wirkt, wenn man die Welt darüber wie durch einen milchigen Nebel sieht, spätestens dann nimmt einen die Faszination Eistauchen gefangen.

Im Idealfall ist das Eis auch noch schneefrei, während die Sonne am Himmel steht, ihre Strahlen durch das Eis dringen und Lichtmuster ins Wasser zaubern. Dann ist der Taucher in einer Welt gefangen, die ebenso bizarr wie lebensfeindlich scheint und ihm dennoch ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Selbst Wegner kann sich dem nicht entziehen - die Faszination hat längst sämtliche Bedenken weggewischt.

Ohne Teamwork geht nichts

Vollkommen losgelöst sind die Taucher unter dem Eis nicht. Eine Leine verbindet die beiden mit einem Helfer, der an der Oberfläche auf sie wartet. Diese signalfarbene Schnur ist die Versicherung dafür, dass die Taucher am Ende des Tauchgangs den Ausstieg wieder finden.

Eistauchgänge setzen eine dementsprechende Ausrüstung und Planung voraus: Jeder Taucher muss über zwei getrennt voneinander arbeitende und kaltwassertaugliche Atemregler verfügen. Trockentauchanzüge sind obligatorisch. Und bereits vor dem Tauchgang sollte klar sein, wie anschließend die Einstiegsstelle gesichert wird, damit Schlittschuhläufer und Schaulustige das Loch im Eis nicht übersehen.

Weiter als 50 Meter bewegen sich Kuchling und Wegner nicht vom Ausgangspunkt fort. "Oftmals wird der Sport als Abtauchen in eine Welt der Stille beschrieben", erzählt Wegner später. "Dies ist in den meisten Meeren jedoch Quatsch: Man hört die Brandung, den Lärm von Schiffsmotoren, das Nagen der Fische an Korallen. Hier jedoch trifft die Beschreibung zu - unter dem Eis fühlt man sich wie in einer anderen, geräuschlosen Galaxis. Wenn da nur die blöden Atemgeräusche nicht wären ..."

Nach einer Dreiviertelstunde ist Schluss. Auch der beste Tauchanzug hält kaum noch warm, die Lippen sind der beißenden Kälte gar schutzlos ausgeliefert. Der Tauchlehrer und der Neuling unter dem Eis machen sich auf den Rückweg.

Flucht bedeutet oft den Tod

Wer sich unter das Eis begibt, wird den Anblick von Fischen vermissen. Fast leer geräumt erscheint der See, kaum eine Spur von Aktivität ist zu sehen. Und dennoch sind sie da, meist in Grundnähe, wo der See am wärmsten ist. Während sich die meisten Stoffe bei Abkühlung zusammenziehen, dehnt sich Wasser aus. "Anomalie des Wassers" nennen Fachleute diesen Vorgang. Darum schwimmt Eis oben, werden zugefrorene Seen mit zunehmender Tiefe immer wärmer. Am Grund zeigt der Tauchcomputer meist 4 Grad Celsius an - bei dieser Temperatur hat Wasser seine höchste Dichte erreicht, es wird am schwersten und sinkt auf den Boden.

Kuchling weiß, wo er welchen Fisch finden könnte. Welche Art sich bevorzugt zwischen abgestorbenen Bäumen versteckt, im Schlamm eingräbt oder halb bewusstlos durch das Wasser treibt. Dennoch hält er sich von ihnen fern: "Die meisten Fische fallen in eine Art Trancezustand, fahren sämtliche Körperfunktionen runter und zehren von den Reserven, die sie sich im Sommer zugelegt haben. Würde man sie erschrecken und damit zur Flucht antreiben, kann dies ihr Todesurteil bedeuten - die dabei verbrauchte Energie können sie bei dem geringen Futterangebot im Winter nicht ersetzen."

Fast schon am Ausstieg angekommen, entdecken Kuchling und Wegner dann doch noch einen Zander, der annähernd bewegungslos durch das Wasser treibt. Zu spät: Wen interessiert jetzt noch ein starrer Fisch, wenn oben bereits der heiße Glühwein wartet?

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