Rechnungshof kritisiert EU-Staaten und Fluglinien Milliarden kassiert – Passagiere ignoriert

Der Europäische Rechnungshof übt scharfe Kritik an den EU-Staaten: In der Coronakrise hätten sie Airlines mit Steuermilliarden überschüttet, die Rechte der Flugpassagiere aber teils aktiv missachtet.
Von Markus Becker, Brüssel
Fluggäste in Frankfurt am Main

Fluggäste in Frankfurt am Main

Foto: Martin Sylvest / AFP

Der EU-Rechnungshof wirft den Regierungen der EU-Länder vor, in der Coronakrise stark einseitig zugunsten der Fluglinien gehandelt zu haben. Um die Branche vor einer Pleitewelle zu bewahren, hätten die Mitgliedstaaten den Airlines Dutzende Milliarden Euro an Steuergeldern zur Verfügung gestellt, es aber versäumt, die Rechte der Passagiere zu schützen. Dadurch seien Millionen Fluggäste um ihr Recht auf Rückzahlung des Flugpreises gebracht worden, heißt es in einem Sonderbericht des Rechnungshofs, der dem SPIEGEL vorab vorlag.

Laut dem Bericht haben die EU-Staaten insgesamt 35 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern ausgegeben, um die Airlines zu retten. Allein die Lufthansa habe mehr als sechs Milliarden Euro erhalten, Air France und KLM zusammen sogar über elf Milliarden. An TUI, TAP und SAS sei jeweils mehr als eine Milliarde geflossen.

Die Regierungen knüpften die Zahlung allerdings nicht an die Bedingung, dass die Fluglinien den Passagieren die Ticketpreise für annullierte Flüge erstatten – obwohl dies geltendes Recht ist und die EU-Kommission laut Rechnungshof ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen hat. »Die Rechte der Passagiere wurden weitgehend ignoriert«, kritisiert die Belgierin Annemie Turtelboom, das für den Bericht zuständige Mitglied des Rechnungshofs. »Sie wurden praktisch zu den Banken der Airlines, indem ihr Geld auf deren Konten blieb.«

Steuermilliarden vom Staat, zinslose Kredite vom Kunden

Oft seien Passagiere gezwungen gewesen, anstatt der ihnen zustehenden Erstattungen Gutscheine zu akzeptieren – und damit den Airlines praktisch zinslose Kredite zu geben. Damit nicht genug: Die Gutscheine seien meist auch nicht gegen Insolvenzen der Airlines abgesichert, und ebenso wenig sei garantiert, dass sie für eine Verbindung wie die ursprünglich Geplante taugten. »Es ist bemerkenswert, dass die Regierungen das akzeptiert haben, obwohl damit EU-Recht gebrochen wurde«, so Turtelboom.

Die Finanzprüfer kritisieren nicht die Hilfen für die Flugbranche an sich, da die Pandemie sie besonders hart getroffen habe. So sei die Zahl der Flüge in der EU im April 2020 um 88 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat eingebrochen – was alle anderen Krisen weit in den Schatten stellt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA sei der Flugverkehr in der EU um lediglich rund zwei Prozent zurückgegangen, in der Finanzkrise von 2009 seien es weniger als sieben Prozent gewesen.

Zudem spiele die Luftfahrt eine Schlüsselrolle für die Wirtschaft der EU: 2018 habe sie in der EU – damals noch einschließlich Großbritanniens – über fast 2,7 Millionen Beschäftigte verfügt, die Branche hätte 13,5 Millionen Arbeitsplätze unterstützt und Wirtschaftstätigkeit im Wert von 840 Milliarden Euro generiert. Dies habe 3,6 Prozent der Beschäftigung und 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprochen.

EU-Kommission genehmigte Beihilfen im Rekordtempo

Dennoch hätten die Regierungen die Rechte der Passagiere stärker achten sollen, wie der Rechnungshof kritisiert. So seien Fluggäste unzureichend über ihre Rechte informiert und von den Airlines zur Annahme von Gutscheinen regelrecht gezwungen worden. 15 der 27 EU-Staaten, etwa Frankreich, die Niederlande oder Belgien, hätten sogar Sondermaßnahmen ergriffen, um Fluggesellschaften und Pauschalreiseveranstalter von der Rückerstattungspflicht zu befreien.

Die EU-Kommission – deren Aufgabe eigentlich die Überwachung der Einhaltung des EU-Rechts durch die Mitgliedsländer ist –, hat zwar im Juni 2020 Vertragsverletzungsverfahren gegen zehn Staaten wegen der Verletzung von Passagierrechten eingeleitet und die Slowakei kürzlich sogar vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Noch schneller aber war die Behörde von Kommissionschefin Ursula von der Leyen darin, die Staatsbeihilfen für die Airlines durchzuwinken: Sie genehmigte insgesamt 54 Beschlüsse, davon 23 allein innerhalb einer Woche – ein »Rekordtempo«, wie der Rechnungshof bemerkt.

Dessen Fazit fällt eindeutig aus: »Der aktuelle Rechtsrahmen für den Schutz der Fluggastrechte ist unvollständig und nicht krisenfest.« Dabei ist eine Verbesserung schon seit Jahren geplant. Nachdem der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im April 2010 zur Streichung von rund 110.000 Flügen in der EU geführt hatte, schlug die Kommission 2013 eine Änderung der Verordnungen vor. Beschwerdeverfahren sollten verbessert, die Mittel zur Durchsetzung der Passagierrechte gestärkt werden – »also genau das, was wir in der Coronakrise gebraucht hätten«, sagt Rechnungshof-Verkehrsexperte Luc T'Joen.

Verbesserungsvorschläge stecken seit Jahren fest

Das EU-Parlament unterstützte den Vorschlag, nicht aber der Rat der Mitgliedsländer – wo das Gesetzespaket seitdem feststeckt. Der Rechnungshof fordert nun erneut eine Verbesserung der Lage: Passagiere sollten besser über ihre Rechte informiert werden und »das EU-Recht buchstabengetreu umgesetzt werden, auch in Krisenzeiten«, wie Turtelboom betont. Zudem solle die EU-Kommission »pragmatische Lösungen« zur Hilfe von Fluglinien finden und – die wohl wichtigste Forderung – »Staatsbeihilfen davon abhängig machen, dass Fluggäste den Ticketpreis für gestrichene Flüge erstattet bekommen«.

Sicher, für Fluggastrechte seien nun einmal die Mitgliedsländer und nicht die EU verantwortlich, sagt T'Joen. Aber die EU müsse sicherstellen, dass die nationalen Behörden die notwendigen Daten von den Fluglinien bekämen – was derzeit nicht der Fall sei. »Niemand weiß, wie viele Ansprüche von Passagieren an welche Airline bestehen.« Immerhin würden die Mitgliedsländer inzwischen den Druck auf die Fluglinien erhöhen, den Passagieren ihr Geld zurückzuzahlen. »Wenn das passiert«, so T'Joen, »wird am Ende niemand mit leeren Händen dastehen.«

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