Interaktiver Krimi-Tourismus Leiche zum Dessert

Hotelnächte in Sträflingskluft, Spurensicherung an Schaufensterpuppen, Killerjagd mit Mafia-Darstellern: Krimi-Fans beschränken sich längst nicht mehr auf Bücher und TV. Bei Rallyes und Dinnern leben sie ihre Leidenschaft aus - von mörderischen Menüs bis "Meucheln hautnah".
Von Jochen Bölsche
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Krimi-Tourismus: Rätselspaß mit Doktor Made

Foto: Roland Scheidemann/ picture-alliance/ dpa

Gern lässt sich der Kölner Kriminologe Mark Benecke, 39, mit einem Teller voller fahler Röllchen ablichten, die auf den ersten Blick an eine asiatische Delikatesse erinnern. Doch die "Ostsee-Zeitung", die das Foto unlängst veröffentlichte, klärte ihre Leser auf: "Das sind keine Sushi-Rollen!" - Benecke präsentiere vielmehr diverse "Maden und Würmer", die ihm bei der Mördersuche behilflich seien.

Medienstar Benecke, TV-Zuschauern auch als "Dr. Made" bekannt, agiert als Ermittler im "1. Rügener Touristenkrimi" , mit dem die Ostsee-Insel neue Besuchergruppen anlocken will. In dem Roman, der im Frühjahr auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin vorgestellt werden soll, treten neben dem Experten für Leichenmaden weitere zehn real existierende Personen auf, die sich jüngst bei einem publikumswirksamen "Krimi-Casting" um einen Auftritt in dem Taschenbuch beworben hatten.

Die Rügener Touristiker versprechen sich von dem Buch eine Verlängerung der Inselsaison bis hinein in die grauen Herbsttage. Die Produzenten des Auftragswerks, darunter ein Autor von "Jerry Cotton"-Heftchen, haben zugesagt, in die fiktive Handlung "unterschwellig" den "Hinweis auf Rügen als Urlaubsziel in der Nebensaison" einzubauen und dem Buch Gutscheine für den Besuch insularer Sehenswürdigkeiten beizufügen.

Das Rügen-Engagement von Deutschlands bekanntestem Kriminalbiologen, der aus der Leichenfauna Rückschlüsse auf Tatzeit und -ort zieht, ist der bizarre Ausdruck eines Trends, von dem sich deutsche Touristiker und Gastronomen eine bessere Auslastung ihrer Kapazitäten versprechen: Allerorten mehren sich derzeit Versuche, mit Krimi-Wochenenden und Krimi-Führungen, Krimi-Dinnern und Krimi-Festivals neue Gäste anzulocken.

Als Zielgruppe haben Tourismusstrategen in Stadt und Land die Abermillionen Fans jener Fernsehkrimis im Visier, die auf diversen Kanälen im Tagesschnitt insgesamt rund 19 Stunden lang zu sehen sind. Hinzu kommen all jene Leser, die Mord und Totschlag als Romanstoff bevorzugen; mittlerweile ist, so der Börsenverein des Buchhandels, jedes vierte in Deutschland verkaufte Buch ein Krimi.

Krimifestivals - Killer in der Bierfabrik

Zulauf haben seit langem schon Krimilesungen, deren Besucherzahlen steigen - nicht zuletzt, seit die Veranstaltungen mehr und mehr an originellen Plätzen stattfinden. So präsentierten die Organisatoren des "2. Braunschweiger Krimifestivals"  jüngst einen US-Roman über einen Fitnesscenter-Killer in einer örtlichen Muckibude und einen Mittelalter-Thriller über ermordete Braumeister in einer nahen Bierfabrik.

Im Elbe-Weser-Dreieck, touristisch vermarktet als "Krimiland Kehdingen-Oste"  ("Jeder Ort ein Tatort"), las im Oktober der Biobauer Thomas B. Morgenstern in einer ländlichen Molkerei bei Sahnequark und Trinkjoghurt aus seinem Agrarkrimi "Der Milchkontrolleur". Autorenkollegin Alexandra Kui ("Blaufeuer") schilderte auf einem Oldtimer-Schiff nahe der Elbmündung den qualvollen Tod eines Wattläufers.

Auch die NRW-Biennale "Mord am Hellweg" , die sich mit rund 150 Veranstaltungen entlang des mittelalterlichen "Höllenwegs" zwischen Duisburg und Paderborn als "Europas größtes Krimifestival" empfiehlt, platziert Lesungen möglichst milieugerecht - in einem Gefängnis, einem Polizeipräsidium, einem Bank-Tresorraum oder in einem Ikea-Lager, wo eine "Große Schwedische Kriminacht" gefeiert wurde. Schon werben die Veranstalter für das nächste Hellweg-Festival, an dem sogar 600 Künstler mitwirken sollen, mit dem Versprechen: "Wie will kill you again 2010."

Stadtführungen - Mörder, Monster, Menschenfresser

Ergänzt werden Autorenlesungen immer häufiger durch Stadtführungen zu den Wirkungsstätten fiktiver Detektive - Angebote, von denen ausländische Tourismusziele seit längerem profitieren. So können Besucher in der Nähe des Reichenbachfalls bei Meiringen in der Schweiz, wo Sherlock Holmes beim Kampf mit dem Schurken Moriaty umkam, ein Pauschalpaket mit Krimimuseumsbesuch ordern; der Hoteldirektor empfängt die Gäste im Tweedmantel mit Pfeife und Kappe.

Und inspiriert durch die Romanserien von George Simenon und Donna Leon offerieren Reisebüros längst auch Arrangements mit Titeln wie "Paris auf den Spuren von Kommissar Maigret" oder "Mit Brunetti durch Venedig". Wer für 199 Euro drei Tage im "Grand Hotel Duchi d'Aosta" in Triest bucht, erhält neben einem handsignierten Krimi von Veit Heinichen auch ein Leih-Navi mit den einprogrammierten Lieblingsplätzen von dessen Commissario Laurenti.

Nach ausländischem Vorbild haben deutsche Städte begonnen, ihre heimischen Kommissare in den Dienst des Tourismus zu stellen. In Leipzig beispielsweise führt Krimiautor Henner Kotte ("Mörder, Monster, Menschenfresser") nachts durch das Revier des legendären, einst von Peter Sodann verkörperten "Tatort"-Kommissars Bruno Ehrlicher. Und Münster Marketing offeriert ein Drei-Tages-Programm mit einer Stadtführung ("ARD-Münster-Tatort") und einem "ebenso westfälischen wie mörderischen Menü".

In Berlin bietet die Firma "Stattreisen"  Krimi-Touren zu den Drehorten der "Tatort"-Folgen mit den ARD-Kommissaren Felix Stark und Till Ritter. Unter anderem geht es auf die Dächer von Hochhäusern, von denen, so das Programm, "bemerkenswert viele Tatort-Mordopfer ihrem Ende entgegenstürzen".

Zuspruch finden auch interaktive Angebote wie Stadtrallyes, deren Teilnehmer in die Detektivrolle schlüpfen. Als "ideales Tagesprogramm" empfiehlt Stattreisen "für Betriebsausflüge" und "größere Familienfeiern" das Spiel "Berlin sucht einen Mörder". Ablauf: Am Leopoldplatz wird frühmorgens eine Leiche entdeckt. Auf Tätersuche durchstreifen sodann "Ermittlungsteams" einen Tag lang Berlin. Ist gegen Abend der Mörder überführt, gibt's für alle ein "wohlverdientes Buffet". Mindestpreis pro Zwölfergruppe: 900 Euro.

Krimi-Dinner - Ein Gangster kommt selten allein

Mehr noch als die - wetterabhängigen - Krimi-Rallyes haben sich in jüngster Zeit Indoor-Mörderjagden zum Renner entwickelt. Eine "Kombination aus Hochspannung und Hochgenuss", aus Mitmachtheater und Menü versprechen Krimi-Dinner, wie sie mittlerweile überall in Deutschland angeboten werden.

"Nie war ein Weihnachtsessen spannender", warb vor den Festtagen eine Weinmanufaktur im rheinland-pfälzischen Dernau für ein vierstündiges und viergängiges "Winzer-Krimi-Dinner":  Profi-Mimen führten ein "Verwirrspiel von Intrigen und Verletzungen" um den Tod eines Weingutsherren im Jahre 1653 auf; das Publikum musste den Fall lösen. Im Preis von 134 Euro war neben dem Menü und der Übernachtung auch eine Flasche Ahrwein ("Krimi-Edition") enthalten.

Die krimiverrückten Deutschen finden Gefallen an dem kulinarischen Mordsvergnügen. Angeboten werden Dinner-Krimis - die bisweilen allerdings, so der Sender rbb, schon mal an einen "Kindergeburtstag für Erwachsene" erinnern - keineswegs nur in Großstädten wie Berlin, wo fast täglich Veranstaltungen wie "Tod couture" und "Letzter Wille" auf dem Programm stehen, oder in Köln, wo zum Mitmachstück "Mord in Ehrenfeld" unter anderem ein "Schnickel-Schnackel-Teller" mit rheinischen Vorspeisen serviert wird.

Die Krimi-Dinner-Welle hat inzwischen die Provinz erreicht, auch in den neuen Ländern. "Meucheln hautnah" erleben die Gäste im abgelegenen Rittergut Bömitz in Ostvorpommern. Im mecklenburgischen Dierhagen wird das Ostseehotel zum Schloss eines Earl von Cornwall, der Sherlock Holmes und Miss Marple um sich versammelt. Und im "Haus des Gastes" im sächsischen Hinterhermstorf treibt ein Mafia-Finsterling während eines italienischen Vier-Gänge-Menüs sein Unwesen. Titel: "Ein Gangster kommt selten allein."

Als attraktiv erscheint das Konzept auch der Kaffeekette Tchibo, die den "Mordfall zum Mitfiebern" in ihr Frühjahrsprogramm 2010 aufgenommen hat - neben den braunen Bohnen liefert das Unternehmen nun auch blaue Bohnen. Für 128 Euro pro Paar sollen Tchibo-Kunden im neuen Jahr "Krimi-Dinner"  an "über 100 Orten" erleben können. Zur Auswahl stehen sechs Stücke mit Titeln wie "Schwarze Nelken für den Don" oder "Bei Verlobung: Mord".

Noch mehr Nervenkitzel als ein mehrstündiger Leichenschmaus versprechen komplette Krimiwochenenden, die immer mehr Hotels anbieten. Im Ostsee-Ort Hohwacht dürfen die Gäste, sobald sie am Freitagabend von einem Mord erfahren haben, bestimmte Zimmer und Autos nach Spuren durchsuchen; bis zum Sonntagsfrühstück musste der Täter überführt sein. Und in einem Landhotel im Naturpark Hohe Mark am Niederrhein helfen sogar "waschechte Kommissare" den Gästen bei der "Spusi" (Spurensicherung) - etwa an einer Schaufensterpuppe, die neben einer Lichtung im Laub liegt; nahebei finden sich zwei Sektgläser und lange blonde Haare.

Krimihochburg Hamburg - Morden im Norden

Zu einer der Hochburgen des neuen Krimi-Tourismus hat sich Hamburg entwickelt, wo das Imperial-Theater  auf der Reeperbahn bereits vor sechs Jahren von einer Musical- zur Krimibühne mutierte, auf der seither rund 170.000 Besucher Stücke wie "Morden im Norden" gesehen haben. Unweit von "Hamburgs blutigster Bühne", in der historischen Speicherstadt im ehemaligen Freihafen, haben in den letzten zehn Jahren mehr als 120 Krimiautoren vor rund 11.000 Zuhörern aus ihren Werken gelesen.

In diesem Milieu, zwischen Fleeten und Kontorhäusern, kann im Dezember in geschichtsträchtigem Gemäuer beispielsweise ein "Criminal Dinner" für 110 Euro pro Person gebucht werden: In der ehemaligen Kaffeebörse der Hansestadt, einst Drehscheibe des weltweiten Kaffeehandels, soll der fiktive Mord an einem Kaffeeimporteur im Jahre 1893 aufgeklärt werden. Aus dem Programmzettel: "Wer ist für den heimtückischen Tod verantwortlich? Matrosen, Huren oder gar Piraten?"

Auf einem nahen Speicherboden wird unterdessen das Original-Menü aus dem TV-Kultfilm "Dinner for One" serviert, während das Publikum bei Kerzenschein der Frage nachgeht: "Warum feiert Miss Sophie ihren 90. Geburtstag allein? Was ist mit Mr. Pommeroy, Mr. Winterbottom & Co. geschehen?" Die Lösung des "dunklen Geheimnisses" erfährt, wer für 79 Euro das Stück "Mörder for fun"  ordert - samt "Sitzplatz an einem festlich eingedeckten Galatisch" sowie "soup", "fish", "chicken" und "fruit".

Die Eifel - "Deutschlands populärste Krimilandschaft"

Am besten scheint das Geschäft mit den inszenierten Morden in der Eifel zu brummen. In "Deutschlands populärster Krimilandschaft", wie der Mainzer Ministerpräsident Kurt Beck stolz befindet, haben mehr als 50 Autoren, darunter der Eifelkrimi-Guru Michael Preute (Pseudonym: Jacques Berndorf), schon Hunderte von literarischen Leichen abgelegt - und damit der abgelegenen Region, die einst als "Preußisch Sibirien" verrufen war, ein touristisches Alleinstellungsmerkmal beschert.

Unter dem Sammeletikett "Tatort Eifel" vermarkten die rheinland-pfälzischen Touristiker mittlerweile ein ganzes Bündel von Angeboten. In Hillesheim etwa können Besucher in einem früheren Gefängnis in gestreifter Sträflingskluft nächtigen und ein "Arme-Sünder-Süppchen" oder eine "Henkersmahlzeit" zu sich nehmen. Nahebei locken das "Café Sherlock" und das Deutsche Krimi-Archiv mit rund 26.000 Bänden.

Auf speziellen Krimi-Wanderwegen - "Zum Morden schön" - können Handy-Benutzer per SMS-Code Details zu sämtlichen fiktiven Tatorten entlang der Route abrufen. So erfahren sie, wo genau der in einem der Berndorf-Krimis (Gesamtauflage: 4,5 Millionen) erwähnte "abgerissene menschliche Finger im Geröll" gefunden wurde und in welchem Steinbruch ein vermeintliches Erdrutsch-Opfer starb ("In Wirklichkeit aber war es natürlich Mord").

Natürlich bietet "Deutschlands Wilder Westen" (Eifel-Werbung) seit langem Krimiwochenenden in ländlichen Hotels, veranstaltet von einer Kölner Agentur namens "Blutspur" (425 Euro pro Teilnehmer). Krimifestivals mit Tausenden von Besuchern, darunter Krimi-Profis aus Verlagen, Sendern, Theatern und Polizeibehörden, sind regelmäßig so erfolgreich, dass 2010 auch die zu Nordrhein-Westfalen gehörende Nordeifel vom Boom profitieren will: Dann soll dort, im Kreis Euskirchen, die "Criminale"  gastieren, das europaweit beachtete Literatur-Festival der Krimiautoren-Vereinigung "Syndikat".

Wahrer Grusel im Bunker

Doch ob die Krimifreunde bei Fackelschein kichernd nach eingebildeten Tätern suchen, in alten Gewölben Mordgeschichten lauschen oder Souvenirs erwerben wie die "200 g Kaffeemischung 'Schwarzer Tod' in der Tatort-Eifel-Dose" - wirkliche Schauder und stummes Entsetzen löst der Krimirummel nur selten aus.

Wahres Grauen dagegen stellt sich regelmäßig am Rande der Eifel ein: in dem einst unter höchster Geheimhaltung erbauten gigantischen Atombunker bei Ahrweiler, ein Kommandostand, von dem aus die Bundesregierung nach einem atomaren Schlagaustausch das Chaos eines dritten Weltkrieges beherrschen sollte. Das Staatsgeheimnis enthüllt hatte 1984 kein anderer als der damalige Journalist und heutige Krimiautor Berndorf im SPIEGEL. Die "New York Times" beschrieb die Eifel daraufhin als Heimstatt von "Dr. Strangelove", des verrückten Bombenfreundes "Dr. Seltsam" aus der gleichnamigen Filmsatire des Starregisseurs Stanley Kubrick.

Auch in dem Regierungsbunker - er beherbergt heute ein Museum des Kalten Krieges - hat Berndorf schon aus eigenen Werken vorgetragen. Hinterher intonierte ein Pianist vor dem Resonanzraum der kilometerlangen, fahl ausgeleuchteten Tunnelröhre, die für den Tag der Apokalypse in den Fels zementiert worden war, das Stück "What A Wonderful World".

Da spätestens, so die Lokalpresse, reagierten die Zuhörer mit "Schaudern" und mit "Gänsehaut" - jenen Reaktionen, die in der Ausflugsstimmung der üblichen Krimitouren ausbleiben, die meistens nur ein bisschen Angstlust auslösen.

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