
Nikolaus-Brauch auf Borkum: Schläge mit dem Kuhhorn
Klaasohm-Brauch auf Borkum Nikolaus, der Frauenjäger
Im lichten Dünengras lässt Klaasohm das Meer hinter sich. Ein Jahr lang war er den Grund am Schelf entlanggewandert, hatte Ruhe gesucht in den versunkenen Gehöften. Nun aber ist sein Tag. Er hievt sich aus dem Sandboden, schüttelt seinen gefiederten Kopf, sticht seine ellenlangen Hörner ins Nachmittagsgrau. Westwind kommt überm Großen Kaap auf. Der Klinker des Seezeichens funkelt rot, als Klaasohm eine Unrast packt. Zorn. Dann läuft er los.
Diese Legende erzählen die Borkumer ihren Kindern jedes Jahr, wenn es auf Nikolaus zugeht - wie sie ihn, ihren Klaasohm, am Großen Kaap ausgraben und er über die Insel hereinbricht.
Kaum einen Mann hält es dann, sie drängen am Spätnachmittag zum Schuppen der Inselbahn. Die Jungen in Vierergruppen, mit Kornschnaps in den Taschen ihrer Daunenjacken; die Alten mit dem Taxi bis zur Tür, und dann gestützt von ihren Enkeln hinein. "Hey, hey, hey, der Ohm ist los!", schallt es übers Pflaster.
Auf dem nordwestlichsten Flecken Deutschlands feiert man einen Brauch, den es nur hier gibt. Wenn anderswo Kinder am 5. Dezember ihre Stiefel für den Nikolaus vor die Tür stellen, ziehen sechs Borkumer ihre eigenen an; ein alter Jungmännerbund ernennt sie hierzu jedes Jahr neu. Die sechs verwandeln sich in Klaasohme.
Ein bisschen Nikolaus, viel Ruprecht, Odin und Dämon. Erst heute Mittag hatte Oldermann Henrik Poppinga, Präsident des Vereins Borkumer Jungens e.V., den Sechsen seinen Entschluss mitgeteilt - zwei Erwachsenen, zwei 16-Jährigen und zwei 14-Jährigen. Die Voraussetzungen: männlich, ledig, sportlich.
Nahezu jeder geborene Borkumer ist Mitglied im Verein, ab 16 Jahren bis zur Heirat. Die Kämpfe um den Klaasohm in der Kleinbahnhalle sind streng geheim, Fotos und Filmaufnahmen verboten. Niemand wird später darüber sprechen. Rituale, die seit Generationen überdauert haben, womöglich eine Mischung aus Judo und Sumo.
Der Wiefke rennt vorweg
Als das große Haupttor eine Stunde später schließlich hochgezogen wird, haben die Klaasohme ihre interne Hierarchie durch Muskelkraft besiegelt: Sollte ein jüngerer den älteren bezwungen haben, müsste jener schmachvoll ausgetauscht werden. Ordnung ist wichtig bei diesem Fest.
Doch dieses Jahr ging es gut: Henrik Poppinga, ein drahtiger junger Erwachsener mit stets misstrauischem Blick, rennt hinaus. Er schüttelt laut eine Handglocke, hinter ihm die Klaasohme mit ihren tonnenförmigen, einen halben Meter hohen Masken.
300 Leute haben sich auf dem Platz vorm Schuppen versammelt, sie begrüßen die Klaasohme mit Kuhhornfanfaren und Schellen, es klingt grell und dumpf zugleich. Viel sehen die Maskenmänner durch die Schlitze nicht, Jungens vom Verein, die Biloper, führen sie. Dann verfallen sie in einen Dauerlauf quer durch die Stadt.
Eigentlich ist der Klaasohmumzug schnell erzählt. Es gibt weder Reden noch Lieder, nur ein paar Verkleidete. Und sie trennen sich schnell. Den großen Maskenmännern rennt "Wiefke" voran, ein Mann in Frauenkostüm mit einer eng anliegenden Maske, halb Hund, halb Wildschwein. Rund zwei Stunden Lauf.
Die beiden großen Klaasohme rennen in die Westerstraße, hinein in die Nummer elf, ins Wohnzimmer. "Klaasohm! Klaasohm!", schreit die Familie des Hauses und mit ihr ein Dutzend Gäste; sie ballen die Fäuste und springen im Viervierteltakt, beben, als zuckte über ihnen ein Discolicht. Drei Minuten bleiben die Klaasohme und Wiefke im Haus, tanzen und grölen und jagen wieder hinaus.
Der Legende nach entstand der Brauch im 18. Jahrhundert, in der Hochphase der Walfangzeit. Viele Männer Borkums heuerten auf den Schiffen aus Amsterdam an, den Sommer verbrachten sie auf dem Nordmeer, bis sie Ende Herbst dem Eis wichen und ihren Lohn zurück auf die Insel brachten. Da in den Monaten zuvor Frauen das Regiment auf Borkum geführt hatten, sollen die Männer das Klaasohmfest begründet haben, um die Insel wieder formell in Besitz zu nehmen und die Ordnung wiederherzustellen. Denn Klaasohm schlägt zu.
"Lassen wir ihnen das Spiel"
"Ich hab eine!" Wiefke hält eine 16-Jährige fest. Sie will sich entwinden. "Lasst mich, bitte, bitte!" Da kommt Klaasohm, in seinen Händen ein Kuhhorn. Er holt aus, rasch drückt der Biloper ihren Kopf nach vorn. Ein-, zwei-, drei-, viermal saust das Horn auf den Hintern nieder. Als der erste Klaasohm ablässt, wiederholt ein zweiter das Ritual. Und steckt ihr am Ende, als sie ihn stumm anstarrt, einen Lebkuchen in den Mund; die größte Demütigung dieses Aktes.
Früher schlossen sich die Frauen ein; auf den Straßen durften sie sich in der Klaasohmnacht nicht blicken lassen. Und hofften, dass nicht jemand aus der Familie heimlich Klaasohm ins Haus ließ. Bis in die 1990er waren die Hörner mit Sand gefüllt. Noch heute hinterlassen die Schläge rote Male. Kinder unter 14, verheiratete Mütter und Ältere umarmt Klaasohm brav, verteilt "Moppe", eine Art Honigkuchen, ist ganz Nikolaus. Zu den jungen Frauen aber ist er Knecht Ruprecht.
Bei Klaasohm geht es auch um Sex. Der Verein Borkumer Jungens ist eine Art Inselloge, ein Bund der Jungmänner, und zu Klaasohm demonstrieren sie, dass die Mädchen der Insel nur mit Jungs der Insel gehen sollen; geschlagen wird nur, wen man kennt, Touristinnen bleiben verschont - als wollte man die Grenzen der Insel vergegenwärtigen, die innere Gemeinschaft stärken.
"Okay, das ist frauenfeindlich", sagt Natalie, 15. "Aber es gehört dazu. Das ist unser wichtigstes Fest, größer als Weihnachten." Warum hauen die Frauen nicht zurück? "Nicht unser Stil. So was machen nur Jungs." Es klingt gnädig. "Es ist doch so", sagt Natalie, "an den anderen Tagen im Jahr regieren wir. Lassen wir ihnen das Spiel."
Gewalt gegen Frauen gehörte bis weit ins 19. Jahrhundert zu vielen Festen in Deutschland. Alemannische Fastnacht, Nürnberger Schembartlauf - Jungmännerbünde beanspruchten immer und überall das Maskenrecht, und wo verkleidete Männer mit Peitschen feierten, ging es stets gegen die Frauen. Eine Tradition, die viele wohl vergessen wollten. Die Volkskunde berichtet über diese Vergangenheit kaum, Gewalt bleibt der blinde Fleck ihrer Forschung. Aber warum hielten die Borkumer als Einzige daran fest?
Der Endpunkt naht. Deutlich langsamer stapfen die Klaasohms, beide Hände an den Hüften, entlang eines Gartenzauns aus alten Walknochen, vorbei am Friedhof. Schwarze Wolken treiben dichten Schnee herab, den ersten in diesem Winter. Im vergangenen Jahr zeigte die See am Tag des Klaasohms ihr düsteres Gesicht. 100 Kilometer vor Rotterdam kollidierte die Autofähre "Baltic Ace" mit einem Containerschiff und sank, elf Männer starben. Und nun dämmert, warum Klaasohm den Insulanern so wichtig ist.
Es soll nichts überliefert werden
Als Borkum vor 5000 Jahren langsam aus dem Sand wuchs, aus Ablagerungen durch Strömungen, Wind und Flut, war dies für Menschen gefährlicher Grund. Inseln entstanden und zerfielen, bis ins 19. Jahrhundert hinein verschwanden ganze Ortschaften im Meer. Jeden Winter bedrohten Stürme Borkum. Die Insel war über Monate hinweg isoliert; wer nicht genügend Essen im Keller hatte, erhielt Hilfe aus der Solidarkasse der Insulaner. Das schweißte zusammen.
Die Klaasohme sind jetzt platt. Mehrere Kilo wiegen ihre Masken. Wie trunken passieren sie das "Café zur Lokomotive" am Georg-Schütte-Platz, bemerken nicht die im Dunkeln sitzenden Frauen. Jetzt geht es nur noch darum durchzuhalten, sich der Maske zu entledigen. Klaasohm wieder in die Unterwelt zurückzuschicken.
"Klaasohm ist ein Fest von Borkumern für Borkumer. Andere verstehen das gar nicht", sagt Erwin, der Frühpensionär wärmt sich am schier eingeschneiten Würstchengrill vorm Eingang der "Künstler-Klause". Drinnen kehren noch einmal die Klaasohme ein, klettern auf einen Tisch, halten sich aneinander fest. "Wir müssen auch mal unter uns sein. Sonst geht da was flöten."
Und so schweigt man über Klaasohm. Die Veranstaltungskalender der Stadt Borkum werben für jede Wattwanderung, Klaasohm aber erwähnen sie nicht. Die Lokalzeitung wird am nächsten Tag nur Fotos vom Umzug drucken, keinen Text. In den vergangenen 100 Jahren sind vielleicht zwei, drei Artikel über das Fest geschrieben worden, Schriftquellen gibt es kaum. Es soll auch nichts überliefert werden: Trauen sich Reporter vom Festland auf die Insel, geht auch schon mal eine Kamera kaputt. Klaasohm, das ist auch ein "Wir gegen die anderen".
Mit einem Mal zieht es alle aus den Häusern und Kneipen. Die Menge drängt zu einem Platz, im Zentrum eine einsame Litfaßsäule. "Hei kummt!", rufen die Ersten, und dann immer mehr, immer wieder: "Klaasohm!" Plötzlich springen Jungens vom Verein herbei, drücken eine Schneise. Als die Klaasohme mit Wiefke heranlaufen, schreien viele nur.
Die Maskenmänner klettern die Litfaßsäule empor. Nun stehen sie oben, lassen ihre geballten Fäuste vor der Brust zittern. Was die Klaasohme schreien, geht im schaurigen Klang der Hörner unter. Es schüttelt sie, da kommt etwas heraus, von ganz unten. Als hätten die Masken sie übermannt.
Gleich ist es so weit, der Sprung in die Menge wird Klaasohms Spuk beenden. Einer nach dem anderen taucht ein in das Netz aus Händen. Als der letzte Klaasohm in der Masse verschwindet, dauert es nur wenige Augenblicke, und der Platz ist menschenleer.
Dies ist eine gekürzte Version des Artikels aus dem "Mare"-Heft Nummer 101 , Dezember 2013/Januar 2014.