Radreise im "Pott" Tour de Ruhr

Kann eine Radtour zu Hochöfen und Kettenfabriken Erholung für die Seele sein? Sie kann, wie der Ruhrwanderweg beweist. Denn dort belohnen urige Fachwerkdörfchen und Naturschutzgebiete für Strampel-Strapazen - und skurrile Begegnungen mit Einheimischen.
Von Hans-H. Krüger
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Ruhrgebiet per Rad: Strampelpfad an der Ruhr

Foto: Sabine Bungert

Unspektakulärer kann ein Anfang nicht sein. Aus dem morastigen Waldboden tritt der Wasserlauf hervor, plätschert durch die Rinne eines Rondells und verschwindet im hohen Farn. Ein Gedenkstein verrät: Ruhrquelle. Wir sind auf 666,5 Meter Höhe am Nordhang des Ruhrkopfes im Hochsauerland . Genau hier beginnt jener Fluss, der einer ganzen Region seinen Namen gab.

Früher war er Symbol für Fortschritt, Macht und Kohle, Motor der industriellen Revolution. Heute ist er Trinkwasserspender, Energielieferant und Naherholungsgebiet, plätschernde Geschichte. An seinen Ufern schlängelt sich einer der schönsten Radwege Nordrhein-Westfalens, der Ruhrtalradweg: 238 Kilometer von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein. Eine langsame Reise ins Herz Deutschlands. Eine Fahrt der stillen Bilder, nichts zum Protzen, mehr etwas für die Seele. Strampeln wir los.

Tag 1: Winterberg - Arnsberg, 68 Kilometer

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Ruhrgebiet per Rad: Strampelpfad an der Ruhr

Foto: Sabine Bungert

Auf Wirtschaftswegen geht es durch Wälder und Weiden, vorbei an Lichtungen mit blühendem Rotem Fingerhut. Die Berge sind hintereinandergestaffelt wie auf einem Scherenschnitt. Auf den Wiesen weiden Rotvieh, Schwarzbunte und Schafe. Fachwerkhäuser drängen sich in engen Tälern zusammen.

Vor den Häusern sind Holzscheite aufgeschichtet, die für ein paar sehr kalte Winter ausreichen sollten. Dörfer tragen Namen wie Wiemeringhausen, Assinghausen, Wulmeringhausen. Es gibt genügend Weihnachtsbaum-Plantagen, um am Heiligabend die Wohnzimmer des gesamten Ruhrgebiets zu erleuchten. In Olsberg ist die Ruhr noch ein Bach, nur zehn Kilometer weiter, in Velmede, bereits ein kleiner Fluss.

Dann kommt Meschede, Kreisstadt, Einkaufszentrum, Geburtsort des Malers August Macke  und sprachlicher Einstieg in das prägnante "woll". Oma in der Fußgängerzone zu ihren Enkelkindern: "Aber esst das Eis schön langsam, woll."

Nicht überraschend ist die große Zahl holländischer Touristen. Ihre flache Heimat liegt nur ungefähr zwei Autostunden entfernt, das Sauerland erfüllt ihren sehnlichen Wunsch nach Höhe, Größe, Aussicht. Hank, 43, und Tony, 45, kommen aus Venlo und machen Kurzurlaub auf ihren Mountainbikes. Hank schwärmt: "Hier geht's richtig hoch und runter."

Früh am Abend erreichen wir unser erstes Etappenziel. Arnsberg ist ein Städtchen aus dem sauerländischen Bilderbuch: Kopfsteinpflaster, eindrucksvolle Bürgerhäuser, Alter Markt mit Glockenturm, Stadtkapelle St. Georg, Rathaus und Maximilianbrunnen. Am Neumarkt haben sich die Preußen mit klassizistischen Beamtenbauten verewigt.

Wie es sich für eine ordentliche deutsche Stadt dieser Größe gehört, hat Arnsberg einen guten Italiener. Das Mercato Vecchio liegt gegenüber unserem Hotel, dem Landsberger Hof. Zu späten Spaghetti carbonara taucht im Ristorante eine lautstarke Gruppe der Bürgerschützen-Gesellschaft Arnsberg auf, die grünen Schlipse über die Schultern geworfen, das Warsteiner in der Rechten. Zwar wird den Sauerländern eine gewisse Sprödigkeit nachgesagt, aber diese sind so fröhlich wie Neapolitaner.

Tag 2: Arnsberg - Volmarstein, 76 Kilometer

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Foto: Sabine Bungert

Sonnenstrahlen blinzeln über Berggipfel. Wir packen unsere Fahrradtaschen und radeln durchs städtische Sauerland, Neheim, Hüsten, Wickede. Vor Echthausen stehen auf einer Koppel sechs Dromedare, die noch völlig besoffen wirken vom satten Grün ihres neuen Zuhauses. Hinter Wickede beginnt wieder Bauernland, Maisfelder, abgeerntete Kornfelder, Wiesen und Pappelhaine. Unter Trauerweiden üben Wildgänse Formationsschwimmen.

Fröndenberg ist schon Ruhrgebiet. Kohle- und Eisenland, Malochen statt Muße. Im 19. Jahrhundert war die Produktion schwerer Schiffs- und Ankerketten ein bedeutender Wirtschaftsfaktor der Stadt. Dutzende von Kettenfabriken hämmerten gegen die englische Konkurrenz. Das Kettenschmiede-Museum zeigt die Herstellung vom Rundstahl bis zur fertigen Kette. Außerdem befindet sich im Gebäude eine Nebenstelle des Standesamtes. Da werden wohl Ehen geschmiedet.

20 Kilometer weiter taucht die nächste unbekannte Schönheit auf, Schwerte. Liebevoll renovierte Fachwerkhäuser, die gotische Sankt-Viktor-Kirche  aus dem 15. Jahrhundert, ein spätgotisches Rathaus, jetzt Museum. Auf dem Marktplatz sitzen zwei wohlgenährte Damen mit kleinen Yorkshire-Terriern und philosophieren über das Leben. "Jaja", sagt die eine. Lange Pause, tiefer Seufzer: "Jaja", antwortet die andere.

Flussabwärts wird die Ruhr zuerst zum Hengsteysee gestaut, danach zum Harkortsee. Kajakfahrer üben den Paddelschlag und Teenager auf den Liegewiesen das Flirten. Grillplätze sind die Feuerstellen der Kulturen, rechts brutzeln Bratwürste, links Lammkoteletts; im tief blauen Sommerhimmel vereinigt sich der Rauch der Holzkohlefeuer.

Bei Herdecke erhebt sich eines der elegantesten Beispiele mobiler Architektur: das Ruhrviadukt der Rheinischen Eisenbahn . Ein paar Kilometer weiter, hinter Wetter, geht es steil hinauf zum Burghotel Volmarstein. Da schlafen wir hinter den dicken Mauern der Geschichte.

Inhaber Peter Vorberg sagt: "Unsere Familie besitzt das Haus seit 1642." Im 19. Jahrhundert war das Hotel ein berühmtes Ausflugslokal. Auf der Terrasse spielten Militärkapellen, in den Salons und Gasträumen saßen bis zu 500 Gäste bei Kaffee und Kuchen. Die feine Gesellschaft kam im Landauer vorgefahren, Damen trugen Hüte, fast alle Männer rauchten Zigarre. Vorberg spricht von der alten Zeit, als sei sie erst gestern gewesen. Er ist 65 Jahre alt und sucht dringend einen Nachfolger. So enden Dynastien.

Tag 3: Volmarstein - Essen, 57 Kilometer

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Foto: Sabine Bungert

In der Ferne wirft der Fluss Schleifen. Am Himmel setzt eine Gruppe sibirischer Graugänse zum Sinkflug auf die Ruhrauen an. "Schön, woll", flüstert Gerhard Musielak. Wir sind im Naturschutzgebiet bei Witten-Bommern. Musielak, 79, kommt jeden Tag mit seinem Rad in die Auen, Tiere beobachten, Stille tanken, die Heimat genießen. "Ich möchte nich woanners hin", sagt er.

Wir müssen weiter, zur ehemaligen Zeche Nachtigall in Witten. Das gleichnamige Museum erinnert an jene Epoche, als das schwarze Gold nicht mehr handwerklich, sondern industriell abgebaut wurde. Vor einer mit Kohlenstaub gefüllten Lore steht Börje Nolte und hält die Erinnerungen wach an die Arbeiter der frühen Jahre: "Tiefe Schächte, kurze Nächte, nasse Arbeit, trockenes Brot sind des Bergmanns früher Tod."

Wie es sich für einen Knappen gehört, trägt der 33-Jährige Helm, Grubenlampe und Arbeitsanzug. Dann gesteht er: "Eigentlich bin ich ja Diplom-Pädagoge. Aber ich hatte schon immer eine große Affinität zum Bergbau." Die kann er jetzt vier- bis fünfmal die Woche bei seinen Führungen unter Tage ausleben.

Hochofen als Museum

In Witten-Herbede setzen wir mit der Fähre Hardenstein über die Ruhr. Am Ufer des Kemnader Sees rollen wir weiter Richtung Hattingen. Auch hier steht einer dieser Dinosaurier der Schwerindustrie, der Hochofen 3 des Hüttenwerks Henrichshütte. Einst arbeiteten 10.000 Menschen auf dem riesigen Areal, produzierten Koks, Eisen und Stahl.

Heute ist die Hütte Museum, Schaugießerei, Veranstaltungsort. Hinter Hattingen geht es historisch weiter. Da verläuft der Ruhrtalradweg auf einem alten Leinpfad. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stampften über diesen Treidelweg Kaltblutpferde. An Seilen (Leinen) zogen sie Kohleschiffe, die sogenannten Ruhraaken, gegen den Strom.

Jürgen Bones interessiert sich nicht für die Vergangenheit, sondern für das Hier und Heute. Er ist am Spinnfischen. Gerade hat er einen 20 Zentimeter langen Barsch gefangen. Aber der landet gleich wieder im Wasser. "Zu klein", sagt er. "Vor 20 Jahren war dat hier noch 'ne richtige Brühe", erinnert er sich. Inzwischen schwimmen sogar wieder Lachse in der Ruhr. "Mein größter Fang war ein Döbel von 53 Zentimetern", sagt Bones und wirft seinen Blinker aus.

Je näher wir den Ballungszentren des Ruhrgebiets kommen, desto größer ist die Zahl der Kinderwagen, Spaziergänger, Jogger und Radfahrer. Städte tauchen nicht auf. Sie verstecken sich hinter dem Grün der Parks und Flusswälder.

Am Baldeneysee, wo uns die Beschilderung in die Irre führt, bringt uns Herr Möller auf den rechten Pfad. Er ist 79 Jahre alt und zieht mit dem Rennrad seine täglichen Bahnen. Seine Beine sind so lang, dass wir kaum mithalten können. Vor ein paar Monaten zeigte sein Tacho die 100.000-Kilometer-Marke an. "Dafür habe ich knapp neun Jahre gebraucht."

Wir übernachten im Parkhaus Hügel im feinen Essen-Bredeney. Süßer Abschluss des Tages ist ein Dessert aus drei Kirschkreationen auf der Restaurantterrasse. Der Mond hängt dick und rund wie ein chinesischer Lampion über dem Baldeneysee .

Tag 4: Essen - Duisburg, 37 Kilometer

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Foto: Sabine Bungert

Kurzvisite in einer berühmten Immobilie. Auf der sonnenbeschienenen Terrasse der Villa Hügel in Essen-Bredeney  sitzt Familie Blase - Vater, Mutter, Tochter - beim späten Frühstück. Alle im schicken Freizeitdress, in strammen Radlerhosen und bunten, atmungsaktiven Oberteilen. Dem ersten Hausherrn, Alfred Krupp, hätte es vermutlich die Sprache verschlagen.

Ab Essen wird der Radweg zu einem Schaulauf durch Urbanität, Geschichte und Natur. Breit und behäbig passiert die Ruhr Dörfer und Städte. Essen-Werden besitzt eine eindrucksvolle Abteikirche, der Ortsteil Kettwig eine überraschend schöne Altstadt. Mülheim macht seinem Ruf als ordentliche Beamtenstadt alle Ehre.

Dann tauchen die riesigen Becken des Duisburger Hafens auf. Der größte Binnenhafen Europas ist gleichzeitig wichtigster Arbeitgeber, er beschäftigt 36.000 Menschen. Nachdem die Ruhr 219,321 Kilometer zurückgelegt und rund 160 Brücken unterquert hat, endet sie in Duisburg-Ruhrort. In den letzten Tagen ist uns der Fluss ans Herz gewachsen. Jetzt wird er einfach vom Rhein verschluckt. Schade.

Aus ADAC Reisemagazin "Metropole Ruhr"

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