

Urlaub in Deutschland Der ländliche Rassismus und ich
Mein Umzug nach Berlin war keine zwei Wochen her, da saß ich zum ersten Mal an einem See in Brandenburg. Es war warm, der Himmel blau, alles super, eigentlich - doch genießen konnte ich den Ausflug nicht. Schuld war die Anreise.
Wir saßen zu viert im Auto, ich Schwarz, der Rest weiß. Je weiter wir Berlin hinter uns ließen, desto mehr fielen mir die Wahlplakate auf: sehr oft NPD, sehr, sehr oft AfD. Mein Nebensitzer fragte, ob etwas mit mir nicht stimme. Ich antwortete: "Hast du mal aus dem Fenster geschaut?"
So sei es eben auf dem Land, gab er zurück. Eine Antwort, die mich verstörte. Ich kannte das Land. Sehr gut sogar.
Aber nicht so.
Ich bin in einer Gemeinde in Baden-Württemberg aufgewachsen, in der Nähe von Karlsruhe. Knapp 5000 Menschen leben dort, in den meisten umliegenden Ortschaften noch deutlich weniger. Meine Kindheit war geprägt von Dorffesten, obligatorischen Gehweg-Grüßen und Fußballspielen in der badischen Provinz. Statt "ist" sagte man "isch", die Bahn Richtung Stadt kam einmal pro Stunde. Fast überall war ich der einzige Schwarze Mensch.
Seit ich in urbane Räume gezogen bin, erst nach Berlin, dann nach Hamburg und Köln, höre ich Stadtmenschen vom Problem des ländlichen Rassismus reden. Und ich, der Schwarze Landjunge, denke mir: Jein.
Rassismus auf dem Land macht mir keine Angst
Natürlich gibt es Unterschiede. Als Mensch mit sichtbarem Migrationshintergrund bist du in ländlichen Gebieten ein Unikat. Erfahren habe ich das meist durch nett gemeinte, aber dennoch problematische Positivrassismen: Ich war der Einzige, dessen sportliches und musikalisches Talent mit Sätzen wie: "kein Wunder bei deinen Genen" kommentiert wurde. Der einzige, dessen Frisur von Lehrern thematisiert und von Mitmenschen ungefragt angefasst wurde. Oft fühlte ich mich exotisiert, zum Anderen gemacht. Aber nur selten abgelehnt.
Unangenehm sind diese Rassismen trotzdem, doch Angst machen sie mir nicht.
Angst hatte ich, als ich vor knapp zwei Jahren ein ländliches Hotel nahe Aue im Erzgebirge gebucht hatte. Ich traf spät abends ein, am Eingang stand eine Gruppe junger Männer; trinkend, teils kahlrasiert, teils tätowiert. Etwa 20 Minuten lang traute ich mich nicht aus meinem Wagen, hoffte, die Männer würden sich verziehen. Schließlich gab ich auf, nahm meinen Koffer und ging mitten durch die Gruppe. Das Gerede verstummte augenblicklich, schweigend starrten mich die Männer an. Einer blieb demonstrativ stehen, die Arme verschränkt, sodass ich ihn umkurven musste. Nach ewigen Sekunden erreichte ich den Eingang. Mein Zimmer schloss ich an diesem Abend doppelt ab.
Für wen sind die Land-Tipps geschrieben?
Ich kenne wenige Gefühle, die beklemmender sind als die Angst, aufgrund der eigenen Hautfarbe oder Herkunft nicht sicher zu sein. Sich darum bei der Wahl des Hotels, Urlaubsziels oder Wohnorts keine Gedanken machen zu müssen, ist ein Privileg. Oder wie die Schwarze Autorin Kemi Fatoba für "Zeit Online " schreibt: "Natürlich wäre es schön, einfach wegfahren und abschalten zu können - aber wenn am Urlaubsort Diskriminierung befürchtet wird, bleibt der Erholungsfaktor aus."
Gerade in der Coronakrise scheinen viele ihre Heimat zu entdecken. Statt Mallorca, Griechenland oder Marokko heißt es seit diesem Sommer: ab ins Grüne, raus aufs Land. Die Medien liefern rurale Geheimtipps, schwärmen von idyllischen Flecken. Und so mancher Mensch mit sichtbarem Migrationshintergrund fragt sich: Für wen sind diese Tipps geschrieben?
In ihrem Artikel "Stadt, Land, Angst" schildert Fatoba die berechtigten Ängste und Sorgen Schwarzer Menschen, wenn es um Reisen und Aufenthalte auf dem Land geht. Auch sie erzählt von rechten Wahlplakaten, wie ich sie sah. Von unangenehmen Blicken. Von diesen Eigentlich-nichts-passiert-Momenten, die dennoch Narben hinterlassen. Auffällig ist, dass der Text das starke Stadt-Land-Gefälle einzig aus der Region erzählt, in der ich es auch selbst feststellte: rund um Berlin. Im Osten.
Rassismus ist da draußen? Eine bequeme Erklärung
Laut der "Mitte"-Studie der Universität Leipzig sind Sachsen-Anhalt, Bayern, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg die Bundesländer mit den höchsten Zustimmungswerten zu fremdenfeindlichen und rassistischen Einstellungen. Nicht nur liegen die meisten dieser Länder im Osten. Sie alle gehören auch zu den Regionen mit der geringsten Bevölkerungsdichte.
2019 erwähnten die Studienautoren diesbezüglich die These des Provinzialismus: Sie geht davon aus, dass ländlich geprägte Regionen stärker zu Fremdenfeindlichkeit tendieren, weil die Weltgewandtheit und multikulturelle Erfahrung der dortigen Bevölkerung geringer ist.
Diese Erklärung liegt nahe - und dennoch regt sich Widerstand in mir, wenn sie von Stadtbewohnern aufgegriffen wird. In Deutschland gibt es quasi keine Forschung zu anti-Schwarzer Diskriminierung, auch generell sind Untersuchungen zu institutionellem Rassismus kaum etabliert.
Wenn nun Stadtmenschen Rassismus primär im Ländlichen verorten - oder ebenfalls beliebt: im bildungsfernen Raum - erscheint mir das vor allem bequem. Es schafft eine angenehme Distanz, entlastet, spricht implizit frei. Rassismus ist da draußen. Ich bin hier.
Mir indes kommt der städtische Alltagsrassismus nicht wirklich kleiner vor. Eher anders: Hier mag die Haar-, Haut- und Afrika-Neugier vieler Mitmenschen bereits hinreichend gestillt sein und die schiere Masse angenehme Anonymität spenden. Dafür werde ich von anderen Deutschen auf Englisch angesprochen, nach Gras gefragt oder polizeilich kontrolliert. Auch vor offen rassistischen Zwischenfällen schützten mich urbane Räume nicht: In Karlsruhe wurde ich schwerst beleidigt und mit Essen beworfen. In Berlin zeigte mir ein Gegenspieler auf dem Fußballfeld den Hitlergruß. In Köln erklärte mir ein älterer Herr, dass die Sitze in der Straßenbahn für "Deutsche" reserviert seien.
Diese Erfahrungen sollen nicht repräsentativ wirken. Vielleicht aber ergänzen sie die Bedenken der wortführenden Berlin-Community, die bei ihren Ausflügen ins Grüne anscheinend vor allem an ihre Erfahrungen an der Mecklenburgischen Seenplatte oder in der Sächsischen Schweiz denkt.
War mein Bild vom Land seit jeher verklärt?
Für mich jedenfalls gilt nach 18 überwiegend schönen Jahren an Baggerseen, auf Schützenfesten oder Fußballspielen in 1000-Seelen-Käffern: Meinen Schwarzen Mitmenschen würde ich ebenso zu einer Wanderung im Schwarzwald raten - oder eben nicht - wie zu einem Citytrip nach Köln. Ähnlich geht es meinem einzigen Schwarzen Kindheitsfreund, meinen drei älteren Geschwistern oder meinem Vater.
Auch wir spiegeln Schwarzes Leben im ländlichen Deutschland wider. Wir lebten dort. Urlauben dort. Und tragen - ohne dass es je Entscheidungsgrundlage war - dazu bei, Schwarzsein in der deutschen Provinz zu normalisieren.
2017, nachdem die AfD in meiner Heimatgemeinde 14 Prozent der Stimmen holte - doppelt so viele wie in meinem Wohnort Köln - zählte ich Begegnungen auf der Straße: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Wieder ein Mitbürger, der rassistische Politik befürwortet oder aktiv duldet.
Hat sich meine Heimat verändert, frage ich mich. Oder schlimmer: War mein Bild vom Land seit jeher verklärt? Verwaschen von schönen Erinnerungen?
Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass Rassismusfragen zu komplex und meine eigenen Erfahrungen zu ambivalent sind, als dass ich mit ihnen tun kann, was manch weißem Mitmenschen offenbar leichtfällt: sie scharf nach Bevölkerungsdichte, Bildungsgrad oder ein paar Prozenten bei der Bundestagswahl zu clustern.
In Pforzheim, der nächstgelegenen Großstadt, kam die AfD übrigens auf 16,3 Prozent.