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Späti International in Berlin: Ein Hauptstadtphänomen

Foto: Carsten Fleck

Kult-Spätkauf in Berlin Party beim Kiez-Krämer

Klopapier und Katzenfutter, Bier und Bohrmaschine: Wer beim Einkaufen etwas vergessen hat, muss in Berlin nicht verzweifeln, sondern zum Späti gehen. Die Kioske mit Kultstatus sind rund um die Uhr geöffnet - und für Großstädter wie Touristen Oasen des Glücks.

Früher drehten sich unter der Dunstabzugshaube Dönerspieße um ihre eigene Achse. Heute wuselt in dem ehemaligen Imbiss Dogan Karaoglan umher. Er füllt die Regale auf, sortiert Zigarettenpäckchen ein und kassiert zwischendurch Beträge, die oft zwischen 50 Cent und fünf Euro liegen. "Ich hab die Schnauze voll", sagt der 45-jährige Besitzer des Späti International in Berlin-Neukölln. Am liebsten wolle er seinen Kiosk in der Weserstraße aufgeben und endlich auswandern.

Machte der Mann seine Drohung wahr, es wäre ein herber Verlust für viele hier im Kiez. Dogans Späti International ist ein Treffpunkt für Anwohner und Hauptstadttouristen. Eine Anlaufstelle für Menschen ohne Freunde. Er ist Krämerladen, Bar-Ersatz, Single-Börse und Wohnzimmer in einem - und Leuten wie der 38-jährigen Julie Colthorpe ans Herz gewachsen.

Die Britin kam vor 13 Jahren nach Berlin und lebt seit fünf Jahren in Neukölln. "In den vergangenen zwei Jahren ist hier alles teurer geworden", sagt sie. "Hier machen immer mehr Szenelokale auf, meine Miete soll um 20 Prozent steigen." Sie schätzt, dass sie bei Dogan einen halben Liter Berliner Pilsener für 1,40 Euro trinken kann. Sie braucht keine schicke Bar, sondern Gesellschaft. Und die hat sie vor dem kleinen Geschäft, wo sich den ganzen Samstagabend über die Partygänger versammeln.

Manche wollen einfach nur ein Feuerzeug, eine Packung Kaugummi oder eine Flasche Bier kaufen und dann feiern gehen. Doch viele bleiben vor dem Kiosk bis nach Mitternacht hängen. "Weil der Besitzer gut drauf ist", lautet die Antwort vieler. "Weil mir die äthiopische Musik gefällt, die Dogan spielt", sagt der 57-jährige Rolf, der oft aus Kreuzberg hierherradelt.

Schläge für den Spielautomaten

Der Späti International ist einer von Hunderten Kiosken, die in Berlin wahren Kultstatus genießen. Späti ist die Abkürzung für Spätverkaufsstelle. "Das sind moderne Tante-Emma-Läden, in denen man sich noch mit dem Händler unterhält und in denen sogar Freundschaften entstehen", sagt Christian Klier, der gerade eine Diplomarbeit zu dem Thema verfasst hat. Ein Jahr lang verbrachte der Student der Visuellen Kommunikation viel Zeit in den Berliner Kiezkiosken. Er fotografierte an die 300 von ihnen, sprach mit den Besitzern und stellte fest: "Auch wenn sich die Spätis ähneln, sind sie immer Unikate."

Meist finde sich das ganz normale Späti-Repertoire in den Lädchen, sagt Klier: Tabak, Tütensuppen, Klopapier. "Andere Händler haben verrückte Geschäftsmodelle und verkaufen weitaus mehr." So wie der Baumarkt-Späti in der Pannierstraße. Hier gibt es neben Bier und Bifi alles, was der Heimwerker benötigt.

"Tabakwaren, Getränke, Leckereien, Spielautomaten" steht auf dem giftgrünen Neonschild, das über Dogans Späti leuchtet. Den Spielautomaten hat er inzwischen wieder abgeschafft. "Wenn betrunkene Kunden Geld verloren haben, schlugen sie drauf ein." Das hat ihn genervt.

Neuköllns nächtlicher Kiezmagnet

Dogan - Jogginghose, Badelatschen, Vollbart - hat viel zu meckern. Über das Ordnungsamt, das ihm wegen Lärmbelästigung neulich 328 Euro abknöpfte ("Kann ich doch nichts für, wenn die Leute draußen stehen und quatschen"). Oder über die Tageszeiten, wenn kein Kunde kommt. "Dann ist es langweilig ohne Ende", sagt er.

Dorian Mandzukic weiß, wovon Dogan spricht. Der 27-jährige Kroate kam vor einigen Monaten aus Zagreb nach Berlin und hat, weil er im Sommer als Architekt keine Arbeit fand, zehn Tage lang im Späti International ausgeholfen. In seiner Heimatstadt gebe es keine Kioske, die nachts geöffnet sind, sagt Mandzukic. "Mir sind die Spätis gleich als Kiezmagnete aufgefallen." Doch nach ein paar Schichten gab er auf. Er fühle sich als Kunde wohler und verbringe seine Zeit "lieber vor dem Laden, als hinter der Kasse zu schuften".

So wie in dieser noch lauen Spätsommernacht. Zusammen mit einer Freundin sitzt er auf einer Treppenstufe und nippt an einem Wodka-Apfelsaft-Gemisch. "Ist doch toll, dass man mit wenig Geld einen schönen Abend haben kann. Außerdem mag ich den Überraschungfaktor." Zufällig Freunde treffen, abhängen, spontan sein. "Es ist eine billige Alternative zur Bar oder zum Café. Und weil es so viele Spätis gibt, hat sich eine richtig lebendige Straßenkultur entwickelt."

Um ihn herum stehen junge Leute, die sich auf Deutsch, Englisch und Spanisch unterhalten. Der Höhepunkt des Abends sei, so Manzukic, wenn Dogan eine Runde Weingummischlümpfe oder -frösche schmeißt. "Einmal brachte er auch türkische Spezialitäten mit."

Wäre der Späti Teil eines Dreigängemenüs, dann wäre er die Appetit machende Vorspeise oder das süße Dessert. "Der Späti ist der Ort, wo ein guter Abend beginnt oder wo ein schlechter endet - als Trost für unerfüllte Erwartungen", sagt Mandzukic.

Das Glück enttäuschter Großstädter

Es scheint, als fänden enttäuschte Großstädter in Läden wie dem von Dogan ihr Glück. Auch Späti-Forscher Christian Klier findet, die Rund-um-die-Uhr-Kioske hätten einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. "Ich hab Leute getroffen, die in ihrem Kiezspäti die einzigen Worte des Tages gewechselt haben." Beim Dosenmilchkauf der Einsamkeit entkommen - auch ein Motiv für die Stippvisite im Späti.

Die meisten von Dogans Samstagabendkunden aber suchen das ultimative Berlin-Gefühl. Die 23-jährige Australierin Amaryllis Gacioppo reist mit Freunden durch Europa und hat weder in England, Polen, Dänemark oder Italien einen Ort wie diesen gefunden. Auch die Finnin Aya Brace, 21, ist restlos begeistert von den nächtlichen Gelagen vor dem Späti International. "In Helsinki bekommst du nach 9 Uhr abends keinen Alkohol mehr in den Geschäften", sagt sie. "Dann gehst du in die nächste Bar und zahlst dich dumm und dämlich."

Während sich seine Kunden über den günstigen Rausch freuen, klagt Dogan über hohe Bußgelder, die er schon abdrücken musste, weil er sonntags Alkohol verkaufte. "Neulich musste ich 273 Euro zahlen", sagt er. Er ärgert sich darüber, auch weil es in Berlin Supermärkte gibt, die dem Verbot nicht unterliegen.

Die Geldstrafe hat ihn auch deshalb getroffen, weil er an einem Sonntag gerade mal 150 bis 170 Euro Gewinn macht, wie er sagt. Doch Dogan lässt sich so schnell nicht unterkriegen. "Geld ist nicht alles", sagt er. So richtig nimmt man es ihm nicht ab, wenn er sagt, er wolle seinen Späti am liebsten dichtmachen.

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