Das Jugenderholungsheim Puan Klent auf Sylt liegt an der Wattseite der Nordseeinsel
Das Jugenderholungsheim Puan Klent auf Sylt liegt an der Wattseite der Nordseeinsel
Foto: puan-klent.de

Urlaub auf Sylt Am Ende gewinnt immer das Meer

Die Fernreise fällt dieses Jahr aus - und Sie wollen stattdessen Deutschland entdecken? Unsere Autorin verrät Ihnen ihren Lieblingsort auf Sylt - familienfreundlich und günstig. Nur der Name ist seltsam.
Von Anke Dürr

Das Wort Aerosole habe ich zum ersten Mal auf Sylt gehört. Ungefähr zwanzig Jahre ist das her, und es bedeutete etwas Gutes. Eine Bekannte erzählte mir damals, warum sie ihr Großstadtleben aufgegeben habe und nach Sylt gezogen sei: der Aerosole wegen. Ihr Arzt hatte ihr dazu geraten, sie hatte eine chronische Lungenkrankheit. Und wenn es etwas gebe, das ihr das Atmen erleichtern könnte - so erzählte sie, während wir von einer kleinen Bar in den Dünen auf den Sonnenuntergang über den Wellen sahen –, dann diese Sylter Luft, die das Meer, seine Feuchtigkeit und seinen Salzgehalt direkt in die Lungen transportiert. Als säße man vor einem gottgeschaffenen, riesigen Inhalationsgerät.

In unserer Familie hat niemand Atembeschwerden, aber dass Sylt gut ist, um durchzuatmen, kann jeder von uns bestätigen. Es hat nicht nur mit dem Geruch nach Meer zu tun, sondern auch mit dem kilometerweiten Strand und den hohen Wolken am Himmel. Dem frischen Wind. Mit dem Gefühl von Freiheit.

Unser Sylt ist seit jeher das Sylt von Puan Klent

Das Sylt meiner Familie, mein Sylt hat nichts mit den bekannten Klischees über die Insel zu tun. Wir halten uns von jeher möglichst fern von Westerland, dem von den "Ärzten" besungenen Hauptort, der zu seinen Attraktionen eine der hässlichsten Fußgängerzonen Deutschlands zählt und die Aussicht auf die Wellen mit einem grotesk überdimensionierten Hochhaus verstellt hat. Und auch Kampen interessiert uns nicht, wo sich bekanntermaßen die Reichen und Schönen treffen und ausgewählte Designer an der Dorfstraße ihre Dependancen unterhalten.

Unser Sylt ist seit jeher das Sylt von Puan Klent . Puan Klent, benannt nach dem Versteck eines friesischen Seeräubers, ist ein Jugenderholungsheim mitten in den Dünen, eigentlich gedacht für Schulklassen und Freizeitgruppen, aber man kann dort auch als Familie Urlaub machen. Der nächste Ort in Richtung Norden ist fünf Kilometer entfernt, genauso in Richtung Süden. Das Heim liegt im südlichen Teil der Insel, an einer der schmalsten Stellen, direkt an der ruhigen, schläfrigen Wattseite.

Zum Weststrand hinüber braucht man 15 Minuten, man läuft über einen Sand- und Kiesweg durch die Dünenlandschaft, und der Sommerduft auf diesem Weg hat sich seit meiner Kindheit, seit mehr als 45 Jahren, nicht geändert: Er riecht nach der lila blühenden Heide und den Hagebutten, nach Dünengras und Sonne. Meine Mutter sagt, auch in den Fünfzigerjahren hat es schon so gerochen.

Der Weg über die Düne zum Weststrand hat sich in 100 Jahren kaum verändert (Abbildung aus dem Buch "Puan Klent: 100 Jahre Sand in Sylter Schuhen")

Der Weg über die Düne zum Weststrand hat sich in 100 Jahren kaum verändert (Abbildung aus dem Buch "Puan Klent: 100 Jahre Sand in Sylter Schuhen")

Foto: Stiftung Puan Klent / Libronauti Verlag

Kurz vor dem Meer muss man noch eine besonders hohe Düne erklimmen, was allen in unserer Familie, solange sie Kinder waren und kurze Beine hatten, wie eine sehr gemeine Anstrengung vorkam – aber dann kann man hinunterlaufen, direkt auf die Wellen zu, und plötzlich ist es ein großes Vergnügen, dabei mit den Füßen im weichen, warmen Sand zu versinken.

Niemand will uns hier was verkaufen

Solange kleine Kinder dabei sind, fängt man am besten gleich an, im nassen Sand eine Burg zu bauen - die man dann, wenn die Flut kommt, solange wie möglich gegen die Wellen zu verteidigen versucht. (Am Ende gewinnt immer das Meer.) Oder wir gehen am Strand entlang, der uns fast allein zu gehören scheint. Niemand will uns hier was verkaufen, von keinem wird man begutachtet; aus welcher Saison die Sneaker stammen, ist egal. Der Wind weht uns ins Gesicht, im Juli angenehm kühl, im Oktober erfrischend feucht, im Februar prickelnd kalt.

Das größte Vergnügen ist aber, sich in die Wellen zu stürzen und sich von ihnen überrollen zu lassen, das Tosen in den Ohren. Für mich hat nur dieses stürmische Meer die Bezeichnung Meer verdient. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich war, als ich zum ersten Mal an der lauwarmen, kraftlosen Adria stand.

Am Abend muss man aufpassen, dass man nicht die Zeit vergisst und rechtzeitig über die Düne zurückklettert Richtung Puan Klent – denn dort ist alles streng geregelt, auch die Essenszeit. Man sitzt, wie das in einem Landschulheim so ist, an Resopaltischen in einem großen Speisesaal, umgeben vom Lärm der Gruppen und Schulklassen. Niemand stört sich hier daran, wenn die eigenen Kinder laut sind.

Und dann? Lässt man den Abend ausklingen. Um 22 Uhr ist Bettruhe. Habe ich schon erwähnt, dass dies der einzige Ort der Welt ist, an dem sogar mein Luxus-verwöhnter Mann bereit ist, in einem schmalen Stockbett zu schlafen?

Als wir jünger waren, hat meine Mutter häufig versucht, meinen Bruder und mich zu überreden, abends noch mal ohne die Eltern loszuziehen und dahinzufahren, wo auf der Insel "noch was los ist". Sie verstand nicht - oder glaubte uns nicht -, dass es genau darum ging: zwei Wochen lang an einem Ort zu sein, der einen mit seinen Regeln zur Ruhe geradezu zwingt. Endlich Zeit zu haben für das Buch, das man schon so lange zu Ende lesen wollte. Und dann doch nach wenigen Seiten einzuschlafen, weil Seeluft so schön müde macht. Ausgehen kann man in München oder Hamburg sowieso viel besser.

Ein Kindheitsort, der sich kaum verändert hat

Von außen betrachtet ist Puan Klent sehr karg. Böse gesagt: Man sieht den flachen Backsteinbauten an, dass sie aus einem aufgegebenen Militärlager entstanden sind. Der Geist war aber ein anderer - Hamburger Jugendbünde, von Sportlern über Guttempler bis hin zur Arbeiterjugend, verwalteten das Heim gemeinsam und gründeten dafür einen Verein. Genau 100 Jahre ist das her, im Buch zum Jubiläum gibt es tolle Fotos aus den Anfangsjahren, von Gottesdiensten und Turnübungen im Sand.

Sonntagsgottesdienst einer Jugendgruppe in den Dünen, Anfang der Zwanzigerjahre

Sonntagsgottesdienst einer Jugendgruppe in den Dünen, Anfang der Zwanzigerjahre

Foto: Stiftung Puan Klent / Libronauti Verlag

Für uns war die Geschichte von Puan Klent nicht wichtig, solange wir Kinder waren. Interessant fanden wir höchstens die Schmalspurbahn, von der unsere Eltern erzählten, sie hielt direkt vor dem Heim, dort, wo jetzt der Fahrradweg entlangführt. Es gibt sie schon seit 1970 nicht mehr.

Vieles andere ist aber seit den Anfängen unverändert geblieben. Um an einen Ort seiner Kindheit zurückzukehren, ist das das Allerbeste, was einem passieren kann. Aber es hilft nichts, die Bauten sind an vielen Stellen marode und müssen dringend saniert werden. Nach einer gerade noch abgewendeten Pleite vor zwei Jahren gibt es inzwischen sogar Geld und einen Plan dafür - sofern die Coronakrise ihn nicht durchkreuzt.

Begonnen hat man ausgerechnet damit, dass das alte, elegante Logo von Puan Klent verdrängt wurde, eine stilisierte Möwe, entfernt verwandt mit dem Lufthansa-Kranich, die auch als Wetterhahn auf dem Vorderhaus thront. Sie taucht nur noch klein auf, dominiert von einem großen plumpen P, für das die Silhouette von Sylt zurechtgebogen wurde. Und die Zimmer, die 100 Jahre lang nach bedeutenden Menschen oder friesischen Orten benannt waren, tragen jetzt Nummern.

Vielleicht erzählen wir irgendwann unseren Enkeln mit Wehmut in der Stimme von dem schönen alten Wetterhahn oder dem Zimmer namens "Pidder Lyng", so, wie meine Mutter immer noch von der alten Bahn schwärmt. Wahrscheinlich werden sie sich für diese sentimentalen Geschichten aber nicht besonders interessieren, weil sie viel lieber loswollen, in den Sand, ans Meer.

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