
"Amazonas des Nordens" in Schleswig-Holstein Wilde, wilde Wakenitz
Was für eine unhanseatische Anmaßung, was für ein billiger Werbegag - ein Flüsslein bei Lübeck "Amazonas des Nordens" zu nennen. So mag mancher Gast denken, der an die Wakenitz reist und die Tourismusbroschüren gelesen hat. Bis er auf der Straße scharf bremst und Nandus über die Wiesen staksen sieht. Laufvögel aus, ja genau: Südamerika.
Sechs der straußenähnlichen Vögel sind im Jahr 2000 aus einem Gehege ausgebüxt, seitdem haben sie sich stark vermehrt. Etwa 220 Nandus streifen mittlerweile durch die Wälder und Felder östlich der Wakenitz. Direkt am Ufer sehe man sie allerdings nie, sagt Moritz Löffelmann, 31. Der Biologe und Förster lebt mit Frau, Kind und Hunden auf einem Bauernhof südlich des Ratzeburger Sees.

Die Kanutour auf der Wakenitz macht Löffelmann regelmäßig mit der Familie. Angst vor dem Kentern muss er nicht haben: Stromschnellen gibt es nicht, und die Wakenitz fließt noch träger als der echte Amazonas. Derart träge sogar, dass es schlauer ist, in Lübeck zu starten und gegen die Strömung in Richtung Rothenhusen zu paddeln. "So haben wir den Wind im Rücken", sagt Löffelmann.
Flusswasser zum Bierbrauen
An der Einstiegsstelle sieht es zunächst nicht nach Dschungel aus, sondern nach reichem Vorort. Villen stehen in manierlichem Abstand um einen See, die Gärten fallen in Stufen zum Ufer ab. Der Fluss ist hier breit wie ein See, seit ihn die Lübecker Ende des 13. Jahrhunderts für ihre Mühlen und Brauereien gestaut haben. Mit dem klaren Wasser brauten sie ihr Bier, in Zeiten der Cholera das bevorzugte Getränk.
Heute steht ein Freibad am Ufer, auch im Fluss wird geschwommen, mit Badekappen und bester Kraultechnik. Löffelmann paddelt vorbei an Holzstegen und Pavillons, zur Rechten ragt der neogotische Turm der Wasserkunst auf. Hinter der ersten Brücke weichen die Villen Schrebergärten. Die ersten Seerosen blühen weiß zwischen ihren Blatttellern, Haubentaucher und Blässhühner tauchen nach Beute, zwei Graureiher flattern dicht über dem Wasser. Bald beginnt das Naturschutzgebiet. Es wird wilder.
"Die Wakenitz wurde nie begradigt", erklärt Löffelmann, als der Fluss die ersten Haken schlägt. An ihren Ufern gab es wenig Industrie und als Transportweg war sie vor allem im Mittelalter wichtig. Heute ist die Wakenitz ein gutes Trainingsterrain für Ruderer. Der Sport hat hier Tradition, Sportler aus dem Ratzeburger Achter holten mehrmals Gold bei Olympia.
Ein ums andere Mal überholt uns ein Vierer. Dazu kommen Kanus, Elektroboote und Stand-up-Paddle-Boards. Als Löffelmann unter einer stählernen Brücke hindurchpaddelt, hupt von hinten ein Ausflugsboot. "An der Eisenbahnbrücke passt entweder das Schiff durch oder ihr - nicht beide", hatte der Verleiher morgens gewarnt. "Auf Kollisionskurs zu gehen, macht keinen Sinn." Löffelmann paddelt rechts ran. Es wird nicht das letzte Mal sein.
Dschungel am ehemaligen Grenzfluss
Den Naturgenuss kann der eine oder andere Stau aber nicht trüben. Es gibt genug zu sehen in der Wartezeit. Im klaren Wasser dümpeln Barsche zwischen den Stängeln der Seerosen. Schmetterlinge und leuchtend blaue Libellen schwirren umher. Bäume neigen sich über Schwertlilien und am Ufer wuchert ein Dickicht aus Brombeeren, Büschen und Farnen.
Ohne die Staumauer in Lübeck wäre dieses Ökosystem am Wasser deutlich schmaler, sagt Löffelmann. Das Wasser würde dann 2,30 Meter niedriger stehen. Die vermeintliche Wildnis ist in Wahrheit stark vom Menschen geprägt. Das sieht man schon an den Ausflugslokalen, die am Ufer mit frischem Bier vom Fass locken und Namen wie "Absalonshorst" tragen.
"Horste sind leicht erhöhte Plätze, wie Halligen, überflutungssicher", erklärt Löffelmann. Einst bauten die Fischer hier Hütten für ihre Netze. Als an den Wochenenden immer mehr Städter ins Grüne strömten, bewirteten sie die Gäste. Aus den Hütten wurden Gaststätten. Bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und bald danach die Wakenitz zum Grenzfluss zwischen den beiden Deutschlands wurde.
Auf der Ostseite wurde der Uferstreifen entsiedelt, dahinter ein Doppelzaun errichtet. "Halt. Hier Grenze", stand auf den Schildern, und im Gebüsch dahinter patrouillierten Grenzsoldaten. Dennoch gelang einigen Menschen hier die Flucht.
Der Unterschied zwischen beiden Ufern ist bis heute frappierend. Auf der Westseite passiert man offene Felder, am Ufer grasen Kühe. Auf der Ostseite wuchert undurchdringliches Grün. Es hat ein bisschen was von Dschungel.
Eisvogel, Adler und Fischotter
Im Wasser sind die verschlungenen Stelzwurzeln der Schwarzerlen zu sehen, umgekippte Bäume liegen kreuz und quer. "Solche aufgeklappten Wurzelteller sind perfekt für den Eisvogel", sagt Löffelmann. "Hier baut er sein Nest." Oft kann man den farbenprächtigen Jäger herumschwirren sehen. An diesem Tag macht er sich rar. Es leben auch Fischotter an der Wakenitz, See- und Fischadler nisten in den alten Bäumen. Sie zeigen sich aber nicht all zu oft.
Als das Magazin "Geo" 1999 zum ersten Tag der Artenvielfalt an die Wakenitz rief, fanden Forscher 2066 Arten von Pflanzen und Tieren, darunter das seltene Sonnentaugewächs. Die Autobahnbrücke mitten durch das Schutzgebiet konnten sie trotzdem nicht verhindern. Nur ein leises Brummen kündigt sie an, dann spreizt sie sich unvermittelt in all ihrer Hässlichkeit in die Idylle.
Natürlich gab es vor dem Bau hitzige Diskussionen. Aber ein Tunnel wäre zehn Mal so teuer gewesen, sagt Löffelmann. Und der Schaden für die Natur sei glücklicherweise nicht so schlimm wie befürchtet. Von hier ist es nicht mehr weit bis zum Fährhaus Rothenhusen mit seinem Fachwerk und der Terrasse am Ratzeburger See. Man ist hier sicher schneller wieder in der Zivilisation, als man das am Amazonas wäre. Aber dafür ist die Anreise deutlich kürzer - und das ist wieder gut für die Umwelt.
Kanutour auf der Wakenitz
Mit der Bahn bis nach Lübeck. Zurückfahren kann man auch von Ratzeburg aus.
Die Paddelsaison dauert von Mitte April bis Mitte Oktober. Im Mai blühen viele Pflanzen, und die Wasservögel balzen und brüten.
In Lübeck gibt es viele Hotels und Pensionen. Am Wakenitzhaus in der Nähe des Fährhaus Rothenhusen kann man in möblierten Zelten mit Betten sowie in einem Bauwagen mit Doppelbett übernachten, pro Person und Nacht kostet das 25 Euro.
Das Kanu-Center Lübeck verleiht Kanus und Kajaks. Für vier Stunden zahlt man pro Kanusitz 12 Euro.
Tourist-Information Lauenburg, Elbstr. 59, 21481 Lauenburg an der Elbe (Tel.: 04153/59 09 220, E-Mail: touristik@lauenburg.de, www.lauenburg.de).