Abtei von Cluny Armut und Maßlosigkeit

Die einst größte christliche Kirche feiert Geburtstag: Vor 1100 Jahren wurde mit biblischem Eifer und architektonischem Größenwahn die Abtei von Cluny errichtet. Jetzt wurde die Ruine für 17 Millionen Euro renoviert - wie es hier wirklich aussah, zeigt jedoch nur noch eine Computer-Simulation.
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Cluny: Bauklötze der Maßlosigkeit

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Cluny - Wie ein Haufen Bauklötze, die ein Kind aus einem Beutel geschüttet hat, wirkt der Chorraum mit seinen vielen Kapellen in dem hölzernen Modell. Würfel, Pyramiden, Zylinder und Kugeln: Fast alle geometrischen Körper sind vertreten. Die Abtei von Cluny, mehr als drei Jahrhunderte lang das größte Gotteshaus der Christenheit, war der zu Stein gewordene Wille, Gott zu Ehren etwas Einmaliges zu schaffen. Im Jahr 2010 feiert der Ort in Burgund in Frankreich die Gründung der Abtei vor 1100 Jahren.

"Wer hier mit einer riesigen Kirche rechnet, der wird enttäuscht", warnt allerdings François-Xavier Verger, Kurator der Abtei von Cluny. Dafür lassen sich faszinierende Spuren des mittelalterlichen Klosters finden, das neben Rom als wichtigstes spirituelles Zentrum des Abendlandes galt.

Der kleine Ort Cluny schmiegt sich in die Hügellandschaft westlich des Rhônetals, die von Weinbergen und Landwirtschaft geprägt ist. Dem achtkantigen Kirchturm, der sich über das Dorf erhebt, ist seine grandiose Vergangenheit auf den ersten Blick nicht anzusehen.

Tatsächlich handelt es sich um einen Nebenturm von einst insgesamt fünf Türmen der Abteikirche, und er krönte nur eines der Querschiffe. "Es war eine Architektur der Superlative. Sie war maßlos, überdimensioniert, vollkommen aus den Fugen geraten", erklärt Verger.

Fast so lang wie zwei Fußballplätze

Die früheren Ausmaße lassen sich am besten von dem Ort erfassen, an dem einst das Hauptportal stand. Der Blick schweift an einem Hotel vorbei, über einen Parkplatz und ein paar kleinere Gebäude bis zu der bewaldeten Hügelkette im Osten. Rechts von der Schneise steht der übriggebliebene Turm, den man sich nun als "kleinen Bruder" des eigentlichen Glockenturms über der Vierung vorstellen kann. 187 Meter war die Kirche lang - 40 Meter länger als der Kölner Dom und knapp so lang wie zwei Fußballplätze.

Die Abteikirche des 12. Jahrhunderts war die dritte, die die Ordensgemeinschaft in Cluny gebaut hat. Sie bildete einen Höhepunkt der romanischen Kunst und kündigte bereits den Übergang zur Gotik an.

Die Architekten haben alles überboten, was damals Standard war. Es gab vier Seitenschiffe, zwei Querschiffe und eine Apsis mit Säulenumgang, an die sich fünf halbrunde Kapellen anschließen. Die Kirche war der Rahmen für eine immer ausgefeiltere Liturgie, die zur Blütezeit des Klosters im Schichtbetrieb rund um die Uhr zum Lob Gottes gefeiert wurde.

Dabei hatte alles so bescheiden angefangen. Zwölf Mönche waren es, die sich im Jahr 910 dort niederließen, um die Ordensregel Benedikts wieder genauer zu befolgen, als es üblich geworden war. Insbesondere das Armutsgebot war im Lauf der Zeit immer weniger befolgt worden.

Stiftung fürs eigene Seelenheil

Viele Klöster waren reich geworden und eng mit den Adligen und weltlichen Herrschern verbandelt. Das Gelände und die ersten Gebäude in Cluny stiftete Herzog Wilhelm I., der sich damit laut Gründungsurkunde nicht zuletzt das eigene Seelenheil sichern wollte.

Wilhelms Sonderregelungen für die kleine Reform-Mönchsgemeinschaft erwiesen sich als folgenreich: Sie wurde direkt dem Papst unterstellt und blieb damit weitgehend selbstständig. Der Abt wurde von den Mönchen gewählt und nicht wie sonst üblich von weltlichen Herrschern bestimmt. Vor allem aber durfte Cluny Tochterklöster gründen, die sich ebenfalls den benediktinischen Idealen verpflichten wollten.

Die Reformbewegung verbreitete sich über ganz Europa. Etwa 1200 Klöster mit mehr als 20.000 Mönchen zählten schließlich zum Verband der Cluniazenser, unter ihnen auch Hirsau im Schwarzwald. In Cluny selbst lebten auf dem Höhepunkt der Bewegung bis zu 400 Mönche, die sich in erster Linie der Liturgie widmeten. Hatte Benedikt den Mönchen 37 Psalmen pro Tag ans Herz gelegt, so beteten die Mönche von Cluny täglich 200. Zahlreiche Reliquien zogen Pilgerscharen an, die ihrerseits zum wirtschaftlichen Aufschwung der Region beitrugen.

Die Ausstrahlung von Cluny war im Mittelalter so stark, dass Päpste mit der gesamten Kurie nach Burgund reisten, um sich in dem Kloster aufzuhalten. Seine Äbte waren die intellektuellen Stars des Mittelalters, zwei von ihnen wurden heiliggesprochen. Sie förderten die Wissenschaften, das Studium der Antike und unter anderem auch die Übersetzung des Korans ins Lateinische.

Höhepunkt und Perversion der Reformbewegung

Der grandiose Kirchbau stellte den Höhepunkt der Reformbewegung da - und zugleich ihre Perversion. Das Ideal des "Ora et labora" (Bete und arbeite) war erneut aus dem Gleichgewicht geraten, über ihrem Gottesdienst hatten die Mönche die handwerkliche Arbeit weitgehend vergessen - ein Versäumnis, das die Reformbewegung der Zisterzienser später korrigieren sollte. Im 13. Jahrhundert wurde der Orden dem französischen König unterstellt, die späteren Äbte waren nur noch Pfründeverwalter.

"Die Abteikirche fiel schließlich der Französischen Revolution zum Opfer, sie wurde verkauft und diente als Steinbruch", erzählt Kurator Verger. "Nur etwa zehn Prozent sind übrig geblieben." Neben den Stümpfen mächtiger Pfeiler und Kapitelle lassen sich heute vor allem die südlichen Querschiffe besichtigen.

Beim Betreten fühlt sich der Besucher wie in einer mächtigen Kathedrale, dabei lässt sich auf dem Grundriss erkennen, dass das Querschiff nur einen winzigen Teil der Kirche ausmachte. Das Gewölbe ist gut 30 Meter hoch. "Der Raum ist mit einer Spitztonne überwölbt, ein erster Schritt in Richtung Gotik", erklärt Verger. Die bis dahin üblichen Rundbögen konnten die Schubkräfte nicht aushalten - was die Baumeister merkten, als ihnen der zunächst traditionell gewölbte Chor gleich am Anfang eingestürzt war.

Hightech fürs Jubiläum

Im Jubiläumsjahr 2010 soll es den Besuchern nun leichter gemacht werden, die Kirche vor Augen zu haben. Ein schwenkbarer Flachbildschirm zeigt das romanische Bauwerk, wie es im 12. Jahrhundert aussah. Die Technik erinnert an Google Street View, das Programm, das virtuelle Spaziergänge in Städten ermöglicht - mit dem Unterschied, dass das Innere der Kirche nicht einfach fotografiert werden konnte, sondern am Computer rekonstruiert werden musste.

An dem Projekt sind die Studenten der Ingenieur-Hochschule "Arts et Metiers" beteiligt, die im ehemaligen Papst-Palast untergebracht sind. Die späten Nachmieter der religiösen Elite des Mittelalters, die sich "Gadz'Arts" nennen, haben ihre eigenen Gewänder und Riten: Sie tragen graue Kittel, die sie mit bunten Graffiti dekorieren, und lassen sich lange Haare und Bärte wachsen.

Wer Cluny besucht, sollte auf einen Abstecher nach Paray-le-Monial nicht verzichten. Die Basilika dort ist eine Art Miniaturausgabe der Abteikirche von Cluny und gilt als eines der schönsten Beispiele cluniazensischer Architektur. Allerdings ist sie aus finanziellen Gründen wesentlich kürzer ausgefallen, als sie hätte werden sollen.

Und eigentlich muss man dann gleich noch weiterfahren bis zur Zisterzienser-Abtei von Fontenay, etwa 200 Kilometer nördlich von Cluny. Sie wurde im Jahr 1139 gegründet, als Cluny bereits im eigenen Zeremoniell erstarrt war. Eine Ironie der Kirchengeschichte: Die Zisterzienser-Mönche traten mit denselben Forderungen an wie die ersten Vertreter der Cluny-Bewegung. Sie wollten zurück zur benediktinischen Ordensregel und das Armutsgebot befolgen. Der Orden entwickelte sich vor allem unter Bernhard von Clairvaux, der mit 25 Jahren zum Abt geweiht wurde und später zum zweiten Kreuzzug aufrief.

Millioneninvestitionen für die Renovierung

Die Architektur der Zisterzienserklöster ist dem asketischen Lebensstil der Mönche angepasst: eine schmucklose Kirche mit einem rechteckigen Chorraum, ein Schlafsaal, der über eine Treppe mit der Kirche verbunden ist, Fischteiche wegen der fleischlosen Fastentage.

In Cluny wird es im Jahr 2010 viele Jubiläumsveranstaltungen geben. Der französische Staat hat etwa 17 Millionen Euro in die Renovierungsarbeiten gesteckt. "Das war dringend nötig. Die Überreste der Abteikirche waren seit ihrer Zerstörung nach der Revolution nicht mehr ordentlich renoviert worden", sagt Bernard Aiguier von der lokalen Touristeninformation. "Bislang kamen im Schnitt etwa 100.000 Besucher im Jahr. Diese Zahl soll sich 2010 kräftig erhöhen."

Auf dem Programm stehen unter anderem eine Ausstellung mit Manuskripten und Skulpturen aus ganz Europa, Kongresse, Konzerte, Theateraufführungen - und nicht zuletzt Gottesdienste, an denen sich auch die ökumenische Gemeinschaft von Taizé beteiligt, die in der Nachbarschaft von Cluny liegt. Wenn deren Gesänge im südlichen Seitenschiff der ehemaligen Abteikirche erklingen, dann können Gläubige und Besucher vielleicht am ehesten ahnen, wie damals in der größten Kirche der Christenheit die Liturgie gefeiert wurde.

Ulrike Koltermann, dpa

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