Abfahrt vom Simmering: Ohne Aufstiegshilfe zum Gipfel
Abfahrt vom Simmering: Ohne Aufstiegshilfe zum Gipfel
Foto: Kast Guenter

Alternativer Wintertourismus in Tirol »Seit der Sessellift weg ist, haben wir im Winter mehr Gäste denn je«

Urlaub im Schnee ohne Skilifte und Pisten ist undenkbar? Auf dem Mieminger Plateau westlich von Innsbruck beweisen mutige Hoteliers, dass das funktionieren kann.
Von Günter Kast

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»Bürgermeister-Lift«. So nennt Christoph Stock, Vizedirektor von Innsbruck Tourismus, den Dinosaurier vom Grünberg, den sie im Herbst 2011 endgültig ausgemustert haben: einen spartanischen Einsitzer-Sessellift mit harter Plastikunterlage und einer fragwürdigen Metallstange als Sicherheitsbügel.

Er stammt aus einer Zeit, als es noch wichtig war, dass jeder Dorfbürgermeister sein eigenes kleines Skigebiet vorzeigen konnte. Als alpiner Skilauf eine Gelddruckmaschine war. Einige der ausrangierten Grünberg-Sessel kann man noch besichtigen: Sie hängen jetzt zweckentfremdet auf dem Waldspielplatz in Weisland am Mieminger Plateau  an einem Drahtseil – als Schaukel, als Ruhebank.

Fotostrecke

Mieminger Plateau: Wintersportregion für Skitouren- und Schneeschuh-Fans

Foto: Kast Guenter

Im nahen Stubai-, Ötz- und Pitztal, nur wenige Kilometer südlich, würden sie sich totlachen über so ein Relikt. Dort rüsten sie trotz Corona auf: noch mehr Pistenkilometer, noch komfortablere Bergbahnen, noch größere Gebietszusammenschlüsse, noch höhere Gipfelrestaurants. Auf dem Mieminger Plateau dagegen ist der abgebaute »Bürgermeister-Lift« ein Symbol für einen Aufbruch in eine neue Zeit. Eine Zeit ohne präparierte Pisten und ohne Bergbahnen.

»Für uns war der Lift ohnehin nie wichtig«, sagt Simon Wilhelm, Eigentümer des Vier-Sterne-Biohotels Holzleiten nahe Obsteig. »Wir haben schon immer unser eigenes Ding gemacht und wollten nicht abhängig sein von den Entscheidungen anderer.« 2008 hat der heute 40-Jährige kräftig investiert, die klassische Herberge der Eltern in ein modernes Wellnesshotel mit viel Lärchenholz verwandelt, bereits 2011 komplett auf Bio umgestellt.

»Unsere Gäste wünschen sich Ruhe und Erholung in einer intakten Natur«, sagt Wilhelm. Im Skiraum stehen Langlaufski, Tourenski, Schlitten und Schneeschuhe – es gibt jeden Tag geführte Touren. Die 41 Zimmer sind an den Wochenenden fast immer ausgebucht, das Hotel ist rund um das Jahr geöffnet.

Für aktuelle Schneehöhen interessiert sich Wilhelm kaum noch: »Wir haben ein anderes Publikum. Freundinnen gönnen sich bei uns ein Wellness-Wochenende. Familien kommen mit ihren Kindern wegen der Bioküche und um den Winter auf die sanfte Art zu erleben.«

Natürlich seien er und seine Frau Nicole anfangs nicht ganz sicher gewesen, ob die Strategie aufgehen würde: »Hinterher klingt das immer logisch. Aber es war schon ein Risiko.« Er erinnert sich noch gut an die jahrelangen, kontroversen Diskussionen in der Gemeinde Obsteig über die Zukunft des kleinen Skigebiets am Grünberg: »Einige Hoteliers fühlten sich damals im Stich gelassen, als das Aus beschlossene Sache war.«

Bergführerin im Haus statt Skipässe

Zu ihnen gehörte auch Hermann Föger, Bürgermeister, Eigentümer des Hotels Der Stern und pikanterweise Geschäftsführer der Liftgesellschaft, die den Grünberg-Lift betrieb. Föger senior hatte noch die goldenen Achtzigerjahre mitgemacht, als das Skifahren boomte: »Das Geld wird im Winter verdient«, hieß es damals.

Doch die Obsteiger hatten es sich zu lange in der Hängematte bequem gemacht, die Zukunft verschlafen, vergessen zu investieren. Der alte Sessellift verschlang jährlich 200.000 Euro Betriebskosten und lockte immer weniger Besucher. Viereinhalb Millionen Euro hätte eine neue, moderne Bergbahn gekostet.

Mieminger Plateau

Das Sonnenplateau Mieming und Tirol Mitte (ortsübliche Aussprache: »Miaming«) liegt auf einer Terrasse zwischen 850 und 1000 Metern oberhalb des Tiroler Inntals westlich von Innsbruck, am Südhang der Mieminger Kette. Es umfasst die Gemeinden Wildermieming, Mieming, Obsteig und Mötz.

Info: Sonnenplateau Mieming und Tirol Mitte 

Das Land Tirol sagte zwei Millionen Euro Fördermittel zu, den Rest hätten Gemeinde und Liftgesellschaft mit Krediten stemmen sollen. So richtig wohl war dabei aber kaum jemandem. Die meisten Hoteliers ahnten: Mit den großen Skiarenen, von denen man regelrecht umzingelt ist, würde man auch dann nicht mithalten können.

Kontrovers diskutiert wurde selbst innerhalb der Familien. Auch bei den Fögers. Sohn René, der das Hotel Der Stern 2005 vom Vater übernommen hatte, wollte vieles neu und anders machen: Auch er stellte auf Bio um, machte das Hotel mit Hackschnitzelanlage und Holzöfen als eines der ersten in ganz Österreich klimaneutral.

Im Gegensatz zu seinem Vater war er dafür, dass die alten Liftmasten am Grünberg abmontiert wurden. Weil die Gästezahlen 2012, im ersten Jahr ohne den Lift, im Stern stabil blieben und bis zum Ausbruch der Pandemie stetig anstiegen, war der Generationenkonflikt schnell vorbei. Juniorchef René Föger, der sogar den Nachhaltigkeitspreis Tirol Change Award gewann, räumt jedoch ein, dass es nicht bei allen so gut lief: »Diejenigen, die so weitermachten wie bisher, mussten Federn lassen.« Bei den Fögers gibt es jetzt statt Skipässen eine Bergführerin im Haus, die die Gäste auf Schneeschuh- und Skitouren mitnimmt.

Wie sehr der alternative Wintertourismus boomt, davon kann man sich am Grünberg überzeugen. Den Schlepp-Übungslift für die Kleinen gibt es dort immer noch. Neu ist das »Kinderland«, in das der Tourismusverband aus dem gesparten Geld für den Liftneubau eine Million Euro investiert hat: in Zauberteppiche zum Beispiel. Die Kleinen sollen ja durchaus noch Skifahren lernen und ihren Spaß haben, Familien sich wohlfühlen.

Ansonsten sieht man hier Hunderte von Skitourengehern, die den Grünberg jetzt für sich beanspruchen und dort eine leichte Skitour ohne Lawinengefahr genießen. Einer der »Aufsteiger«, die das verlassene Liftwärter-Häuschen oben am Berg ansteuern, sagt: »Hätten früher so viele Leute einen Skipass gelöst, wie jetzt mit Tourenski unterwegs sind – der Lift hätte nie stillgelegt werden müssen.«

Die Konditionsstärkeren gehen noch weiter zur Simmering-Alm auf gut 1800 Meter Höhe. »Seit der Sessellift weg ist, haben wir im Winter mehr Gäste denn je«, sagt Hüttenwirt Günther Aschbacher, der gerade mit der Schneekatze die Zutaten für Kaspressknödel und Kaiserschmarrn nach oben fährt. Skitourengehen liege voll im Trend, begeistere im Gegensatz zu früheren Zeiten vor allem die Jungen.

Günther Aschbacher und Sohn Matthias: Die Simmering-Alm ist besser besucht denn je

Günther Aschbacher und Sohn Matthias: Die Simmering-Alm ist besser besucht denn je

Foto: Kast Guenter

René Föger, der ebenfalls noch junge Chef des Hotels Der Stern, freut sich über so viel Rückenwind. Aber ein bisschen wehmütig ist er dennoch: »Wissen Sie, ich bin mit dem Grünberg-Lift aufgewachsen: Wir kamen von der Schule, die Tasche flog in die Ecke, und dann ging's zum Skifahren. Im Winter jeden Nachmittag.«

Vorbei. Tourismusmanager Christoph Stock ist zufrieden mit der Entwicklung auf dem Mieminger Plateau. Sie hätten damals viel Überzeugungsarbeit leisten müssen: »Wie die Missionare sind wir von Hotel zu Hotel gezogen und haben für die Wende geworben. So manch einer war entsetzt, von Verrat war die Rede.«

Einige wie die Skischule von Ingemar (wie Stenmark) Schaber gehörten tatsächlich zu den Verlierern. Juniorchef Patrick konnte plötzlich keine Kurse für Erwachsene mehr anbieten, der Ausrüstungsverleih brach ein. Inzwischen hat er das Geschäftsmodell angepasst: Kinderkurse gibt es noch immer, Tourenkurse für Einsteiger sind neu hinzugekommen, dazu verleiht er Schlitten, Langlauf- und Tourenski.

Es geht auch ohne DJ Ötzi

»Früher wollten die Mieminger ihren Gästen einen Bauchladen für alles anbieten«, sagt Tourismusmanager Stock. »Jetzt haben sie verstanden, dass sie ein Alleinstellungsmerkmal besitzen, das sie nur richtig vermarkten müssen: Ruhe, Natur ohne Bausünden und Liftmasten, einen der längsten Sommer Tirols mit vielen Sonnenstunden.« Sein Verband habe in neue Geräte zum Präparieren der Loipen investiert, in die Schlittenbahn zum Lehnberghaus, und im Sommer in Erlebnisspielplätze, Rundwanderwege und ein Moos-Biotop mit Holzstegen und einem Naturlehrpfad.

Skitouren am Mieminger Plateau

Skitour, leicht, 2,5 bis 3 Stunden, 1080 Höhenmeter

Charakter: Einfache Skitour ohne technische Schwierigkeiten, fast immer gespurt. Bei der Abfahrt entlang der Aufstiegsspur kaum lawinengefährdet. Bei der Abfahrt direkt vom Gipfel ist Vorsicht angebracht.

Ausgangspunkt/Endpunkt: Gasthof Arzkasten (1150 Meter), gebührenpflichtiger Parkplatz (vier Euro)

Route: Man folgt dem Fahrweg zum Lehnberghaus bis zur ersten Brücke. Diese queren und links einer schmalen Waldschneise folgen (nicht entlang der Rodelbahn). Später ein kurzes Stück entlang des Rodelwegs bis kurz vor das Lehnberghaus. Rechts Richtung Nordost durch eine breite Schneise bis auf circa 1600 Meter. Hier rechts durch lichten Wald Richtung Ost zur »Lacke«. Auf breitem Rücken nach Norden über kupiertes Gelände aufwärts bis zum »Kanonenrohr«. Links davon auf dem Rücken bleiben und unschwierig zum Gipfel.

Varianten: Direkt vom Gipfel sehr steil in den Graben abfahren, der zur Waldschneise oberhalb des Lehnberghauses leitet (nur bei sicheren Verhältnissen), oder knapp unterhalb des Gipfels (westlich) in die Scharte, die nach Obermieming hinabführt (Rückfahrt mit Taxi).

Einkehr: Gasthaus Arzkasten

Aber Stock weiß natürlich auch, dass das nur so lange funktioniert, wie nicht andere es nachmachen. Nicht jeder sei sportlich genug, um mit Tourenski Berge zu besteigen. Auf Alpinski den Hang hinabrutschen – das könne dagegen fast jede und jeder. Entsprechend groß sei der natürliche Kundenkreis.

In Tirol gibt es derzeit nur acht Gemeinden, die zu den »Bergsteigerdörfern«  zählen und sich verpflichtet haben, mit Natur und Ressourcen respektvoll umzugehen. Pistenraupen und Schneekanonen sind dort tabu.

Im Biohotel Holzleiten haben sich unterdessen die meisten Gäste im Wellnessbereich eingefunden. In der Saunahütte im Garten ist ein »Meditations-Aufguss« angekündigt. Zum Sound von tibetischen Klangschalen gießt der Aufgussmeister ätherische Öle über den heißen Ofen. Man hat nicht das Gefühl, dass irgendwer DJ Ötzi schmerzlich vermissen würde.

Günter Kast ist freier Autor des SPIEGEL. Seine Recherche wurde unterstützt vom Tourismusverband Innsbruck Tourismus.

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