Aran-Inseln Eine fabelhafte Masche

Zwischen Mythos und Zweckgegenstand, zwischen Fischerpulli und Modeartikel: Der Zopfpullover von den Aran-Inseln ist aus Irland nicht wegzudenken. Seit Generationen stricken die Fischersfrauen auf Inis Mor, Inis Meáin und Inis Oirr für ihre Männer - und an Legenden.
Von Tanya Lieske

So ist das mit den Geschichten aus Irland: Flugs wird aus einem Faden ein Knäuel. Im vorliegenden Fall geht es um einen Pullover, der seinen Siegeszug um den Erdball angetreten hat. Um den Aran Sweater, die Inselbewohner nennen ihn auf Gälisch Geansaí ("Gansie"). Und weil der Pulli von den Aran-Inseln vor der irischen Westküste kommt, wo die Geschichte zur Sache wichtiger ist als die Sache selbst, wurde das schöne Kleidungsstück schnell zum Mythos.

Einer, der mitstrickt an der Legende, ist Donal Standún. Sein Geschäft, im ganzen Land bekannt als "Standún", liegt gegenüber den Inseln, auf dem Festland, in Connemara. Er hat es von den Eltern übernommen, die den Gemischtwarenladen 1946 in einem einzigen Zimmer gegründet hatten. Mutter May kochte für jeden, der hungrig des Weges kam. Es kamen vor allem Musiker, und hier setzt Donal Standúns Geschichte ein. "Bei uns hat alles angefangen", erklärt er, "bei uns haben die Clancy Brothers ihre Pullis gekauft."

Die Clancy Brothers, das waren Pat, Bobby, Tom und Liam. Sie kamen aus Tipperary, im Süden Irlands. In den Fünfzigern wanderten sie aus nach New York. Die Brüder jobbten hier und dort, Baustellen werden dabei gewesen sein, der eine oder andere Pub. Vor allem aber machten sie Musik, mit wachsendem Erfolg. 1961 wurden die Clancy Brothers in eine sehr bekannte TV-Show eingeladen, die "Ed Sullivan Show". Liam packte die Klampfe aus, dann legten sie richtig los.

Sie sangen vom Heimweh und vom Ozean und der Galway Bay. Sie trugen weiße Pullover, mit vertikalen Zopfmustern, gestrickt auf den Aran Islands. Danach waren die Pullover beim amerikanischen Publikum bekannt und begehrt. 1962 traten die Clancy Brothers in der Carnegie Hall auf; 1963 sangen sie für den Präsidenten John F. Kennedy. Ganz Amerika brauchte jetzt weiße Wollpullis. Sofort, sozusagen über Nacht. "Meine Eltern packten unentwegt Pakete", erinnert sich Donal Standún. Aber sie kamen gar nicht hinterher. Vor allem, weil die Strickerinnen sich nicht aus der Ruhe bringen ließen. "Wenn wir 500 Pullis haben wollten, mussten wir 1200 in Auftrag geben."

Sieg der Geduld

Die Gesetze des Marktes trafen auf die Gesetze der Inseln, und das wichtigste im Umgang mit einem Menschen von den Aran Islands lautet: Man soll ihn nicht hetzen. Außerdem waren die Frauen auf Aran daran gewöhnt, für ihre eigene Familie zu stricken. Jeder Pulli war eine Maßanfertigung. Hatten die Männer, Brüder und Söhne lange Arme, wurden auch die Ärmel lang. Hatten sie dicke Bäuche, wuchs auch jener Pulli in die Breite, der nach Amerika gehen sollte. Und so wurden Leute auf die Inseln geschickt, die den strickenden Frauen die Konfektionsmaße erklärten.

"Die Insulaner waren nicht profitorientiert, man ließ sich auch vom Geld nicht aus der Ruhe bringen", erklärt Donal Standún. Dass es der Aran Sweater dennoch vom Seemannspulli zum globalen Modeartikel gebracht hat, kann auch als ein Sieg der Geduld betrachtet werden.

Die drei Aran-Inseln heißen Inis Mor (Große Insel), Inis Meáin (Mittlere Insel) und Inis Oirr (Östliche Insel). Sie liegen am westlichsten Zipfel von Europa. Der Boden ist karg, die Steine verwittert, es wachsen nur hartnäckige Pflanzen. Im Winter brüllt der Ozean, im Sommer blöken die Schafe. Auf den Inseln wird vorwiegend Gälisch gesprochen. Um 1900 entdeckte der irische Schriftsteller John Millington Synge die Aran Islands für sich. Er kam, blieb fünf Jahre und schrieb. Spätestens seit seinem "Playboy of the Western World" (1907) sind die Inseln auch ein Fluchtpunkt kollektiver Utopien: Nirgendwo geht es rauer, urspünglicher und irischer zu als hier. Davon profitiert die Modebranche bis heute. Wer Aran trägt, darf sich auch ein bisschen irisch fühlen, egal ob in Berlin oder Tokio.

Der Kult um den Pulli fiel zusammen mit der zweiten Renaissance der keltischen Sprache in den späten achtziger Jahren, er war eine gute Dekade lang das Erkennungszeichen der nationalbewussten Generation. Besuchte etwa Sinn Féins Parteivorsitzender Gerry Adams in Belfast eine Lyriklesung, zeigte er sich im Zopfmuster statt mit Schlips und Jackett.

Blaue Socken, schwere Schuhe

Die Pulloverstrickkunst der Arans ist noch recht jung. Jedenfalls findet sich in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts kein Hinweis auf einen Aran Sweater. Die Kleider der Insulaner bestanden aus grob gewebten Stoffen und waren so ungewöhnlich und auch farbenfroh, dass viele Besucher ins Schwärmen gerieten. Die Männer trugen weite, schwarze Hosen, dunkle Flanellhemden und eine helle, ärmellose Weste. Die Frauen trugen Röcke und einen Schal, der mit Pflanzenfarben meist rot gefärbt war. Gestrickt waren nur die Socken, blau für Männer wie Frauen. An den Füßen trugen beide Geschlechter schwere Schuhe aus ungegerbtem Leder, die pampooties.

Die Kleidervorlieben änderten sich, als um 1900 viktorianische Philanthropen Sozialprogramme ins Leben riefen, um die bittere Not auf den Inseln zu mildern. So entsandten sie in die ärmsten Winkel Irlands Hauswirtschaftslehrer und gründeten Landschulen. Und sie schlugen den Frauen auf den Aran Islands vor, nicht nur Socken, sondern auch Pullover zu stricken, die sie verkaufen konnten. Sie zeigten ihnen Zopfmuster, die auch in England, Schottland und im Donegal verwendet wurden. Die ersten Aran Sweater dürften zwischen 1900 und 1920 entstanden sein, ab den dreißiger Jahren war das Kleidungsstück auch in Filmen zu sehen.

Die Strickerinnen verwendeten eine grob gesponnene Wolle, diese war ölig und nicht gebleicht. Die Pullover waren schwer und rochen ranzig, sie waren aber auch warm und fast wasserdicht – die ideale Arbeitskluft also für die Fischer. Bald war das neue Kleidungsstück nicht mehr von Bord wegzudenken. In allen Familien wurde gestrickt, und die Frauen entwarfen neue und immer raffiniertere Muster für die Männer auf See. ‚

Und es wurde fleißig an Legenden gestrickt. Unter anderem die Sage, jede Familie habe ihre eigenen Muster besessen, und es sei möglich gewesen, den ertrunkenen Fischer an den Zöpfen seines Pullovers zu identifizieren. Sicher ist, dass einzelne Strickerinnen ihre Handschrift erkannten. Auch konnte man das ungefähre Alter des Pullis abschätzen. Mit jeder Wäsche wurde der Aran Sweater weißer und weicher, aber auch weniger wasserabweisend.

Zopfpullover zur Erstkommunion

Seit den dreißiger Jahren fand der Aran Sweater auch seinen Weg ins Kirchenschiff, die Jungen zogen ihn zur Erstkommunion an. Noch manche alte Inselbewohnerin erinnert sich mit Schrecken an die Stunden, die sie strickend verbrachte, bis alle Brüder versorgt waren. "Da habe ich wirklich lange dran gesessen", seufzt Maíre Pháidín, die auf Inis Meáin lebt. Sie streicht sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn. "Wir haben die Wolle gewaschen, um sie schön weiß zu machen, und wir haben sie auch noch gesponnen. Mutter hat mich dann zum Stricken verdonnert."

Die neue Handwerkskunst entwickelte sich rasant weiter, immer versierter und eifriger wurden die Strickerinnen. "Wir saßen in der Kirche, studierten die Zopfmuster der Nachbarin und rannten nach der Messe schnell nach Hause, um sie nachzustricken", erzählt eine der Frauen. Als die Pullover dann zur Handelsware wurden und Läden wie "Standún" füllten, verdienten die Strickerinnen ihr eigenes Geld. "Zwar wurde das meiste in die Familie investiert", erklärt Donal Standún, "trotzdem garantierte es den Frauen ein Stück Unabhängigkeit."

Im Lauf der Zeit wurden die Muster immer verwobener, neue kamen hinzu, alte gingen neue Verbindungen ein. Um einen Aran-Pulli zu stricken, braucht man atemberaubende manuelle und arithmetische Fähigkeiten. Rund 100.000 Maschen zählt ein Pullover für einen Erwachsenen. Jede Masche muss sitzen, sonst setzt sich sich der Fehler fort. Für manche Muster braucht die Strickende eine dritte oder vierte Nadel, die sie alternierend einsetzt. Anfangs wurden die Muster mündlich weitergegeben, später dann, mit der massenweisen Fertigung, auch aufgeschrieben. Sheila Hollingworth verzeichnet in ihrem 1982 erschienenen Buch "The Complete Book of Traditional Aran Knitting" nicht weniger als 71 Muster.

"Die Muster kommen zu mir"

Mary O’Flaherty strickt in der vierten Generation auf Inis Mor. Ihr Haus sitzt auf dem Rand eines Kliffs, aus dem Wohnzimmerfenster sieht man das Meer und einen Leuchtturm. Dort hat ihr Mann Seamus bis vor Kurzem noch das Licht an- und ausgemacht. Mary O’Flaherty könnte hinausblicken, während sie strickt, sie muss schon lange nicht mehr mit den Augen ihren Händen folgen; früher konnte sie beim Stricken sogar lesen, so leicht geht ihr alles von der Hand. Sie lässt sich von der Intuition leiten. "Wenn ich einen neuen Pullover anfange, dann weiß ich auch nicht, wie er werden wird. Die Muster kommen zu mir." Mary O’Flaherty schüttelt den Kopf. Nein, sie hat noch nie ein Muster aufgeschrieben, noch nie nach einer Anleitung gestrickt.

Die bekanntesten und beliebtesten Muster der Aran-Pullis gehen auf alte keltische Ornamente zurück. Sie heißen Blueberry Stitch, Basket Stitch, Honeycomb, Cable, Ladder, Tree of Life, Diamond. Mary O’Flahertys Diamanten sind erhaben. Sie streicht über einen Pulli. "Ich stricke eine Umrandung, das macht sonst keine." Sucht Mary O’Flaherty eine Inspiration, dann geht sie spazieren. Die Muster der Pullover sind auch dem Land abgeguckt, man erkennt in ihnen die Bienenwaben, die Trauben der Brombeeren, die Taue der Fischerboote.

Der Lebensbaum, tree of life, symbolisiert Leben und Tod. Der Tod war allgegenwärtig auf den Inseln. Die Fischer konnten meist nicht schwimmen, ihre kleinen Boote, die Curraghs, waren dem Atlantik ausgeliefert. Vor allem im Winter, wenn es stürmte, durfte kein Fischer darauf wetten, abends wieder an Land zu gehen. Was zur Frage führt, ob denn nun tatsächlich jede Familie ihre eigenen Strickmuster hatte und die Leichen ihrer ertrunkenen Söhne mittels der Pullover zu identifizieren waren. Mary O’Flaherty zwinkert komplizenhaft. "Alle Muster gehören allen", erklärt sie. "Wir haben auch voneinander abgeguckt."

Ein Aran-Pullover muss von den Aran-Inseln kommen

Zehn Stunden am Tag strickt Mary O’Flaherty, drei Tage braucht sie für einen Pullover. Sie verkauft die Stücke in ihrem Geschäft, von 100 Euro an aufwärts. Sie macht keine Werbung, Mundpropaganda und Laufkundschaft genügen ihr. Die Frage, was den Aran Sweater zum Aran Sweater macht, beantwortet sie abschließend und sehr energisch: "Ein Aran-Pullover ist ein Pullover, der auf den Aran-Inseln handgestrickt wurde."

Das allerdings ist Ansichtssache. Und eine Frage der Verkaufsstrategie. Denn um die große Nachfrage decken zu können, werden die Aran Sweater seit Mitte der sechziger Jahren auch maschinell hergestellt, spätestens seit den Achtzigern sogar in Fernost. Das stellt die Verkäufer, die mit dem Ursprünglichen werben, vor neue Herausforderungen.

Donal Standún, dessen Internetversand nach Tokio liefert und auch nach New York, beruft sich auf das Primat des Designs. "Ein Aran Sweater ist ein Pullover mit den traditionellen Mustern, ganz egal, wie und wo auf der Welt er gemacht wird." Für Tarlach de Blacam, ein eloquenter und erfolgreicher Mittfünfziger, sind Muster und Machart die Variablen. Ausschlaggebend ist die Konstante des Produktionsorts. "Der Aran-Pullover muss von den Aran-Inseln kommen."

An die internationale Spitze der Modewelt

Auch Tarlach de Blacams Name ist eng mit der Erfolgsgeschichte des Pullovers verknüpft. In den frühen siebziger Jahren zog es den Dubliner nach Inis Meáin, er heiratete eine Einheimische. De Blacam fand eine Insel vor, die von der Außenwelt fast abgeschnitten war. Es gab keinen Strom und kein fließendes Wasser, die meisten Waren mussten mit Segel- und Ruderbooten herangeschafft werden.

Mit seiner Frau Aine gründete de Blacam eine Genossenschaft, die die Insel mit dem Nötigsten versorgen sollte. Dazu gehörte auch eine Strickfabrik. Anfangs bestand sie aus sechs alten Maschinen in einem Schuppen. Später kaufte de Blacam dieses Unternehmen, um es nach seinen Vorstellungen zu führen. "Ich wollte mit dem Aran Sweater an die internationale Spitze der Modewelt vordringen."

De Blacams Philosophie ist die einer "lebendigen Tradition". Er variiert Farben, Muster und Materialien. Er zitiert die traditionelle Linie und bricht sie auch, ohne sie aber ganz zu verlassen. Seine Pullover sind durch naturnahe Töne und die typisch vertikale Gliederung als Aran Sweater zu erkennen. Neben Schafwolle verwendet er Leinen, Alpaka und Seide. Zwei Kollektionen mit einem Dutzend Modellen lässt de Blacam pro Jahr entwerfen. Dafür beschäftigt er Topdesigner, die sonst für Donna Karan oder Hermès arbeiten.

Zeug zum Lieblingspulli

Er besucht Modemessen und verkauft seine Pullover, das Stück selten unter 250 Euro, nach London, New York, Tokio und Paris. Sein Logo taucht ebenso im edlen Versandhandel auf wie in den Boutiquen an der Düsseldorfer Kö. Drei Männer sind darauf zu sehen, die einen Curragh über ihren Köpfen tragen. Das Label ließ er patentieren, als eine andere Firma es kopieren wollte.

Zwischen Mythos und Zweckgegenstand, zwischen Fischerpulli und Modeartikel hat der Aran Sweater einen weiten Weg zurückgelegt. Dort, wo er herkommt, ist er nicht mehr wegzudenken. Die Fischer von Aran werden ihn auch künftig überziehen, denn nichts ist so warm, schön und nützlich. Für alle anderen gilt: Ist ein Aran Sweater erst mal eingetragen, legt man ihn so schnell nicht mehr ab. Das Zeug zum Lieblingspullover hat er immer, egal ob er aus Singapur kommt oder von Inis Mor.

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