Großbritanniens Küsten Höher, schneller, Wasser
Manchmal dreht sich das Riesenrad von Blackpool über tosenden Wellen. Manchmal spielen dort, wo das Meer sich eben noch aufgetürmt hat, Kinder im Schlick.
Manchmal kann man zu Fuß nach St. Michael's Mount gehen. Manchmal muss man die Fähre nehmen, um auf die Insel im Südwesten Englands zu gelangen.
Manchmal traut sich das Wasser des Ärmelkanals bis an die weißen Felsen von Sussex. Manchmal weicht es vor der Küste zurück, als würde es sich vor den Klippen fürchten.
Ebbe und Flut machen die Küstenorte Großbritanniens zu Orten mit zwei Gesichtern. Die Gezeiten sind nicht nur ein spektakuläres Naturereignis, das sich wie auf Knopfdruck alle sechs Stunden wiederholt. Sie machen die Grenze zwischen Land und Meer auch zu einem Gebiet, in dem sich der Mensch der Natur anpassen muss. In dem neuen Bildband "Sea Change. A Tidal Journey Around Britain" (erschienen im Kehrer Verlag) zeigt der britische Fotograf Michael Marten fesselnde Bilder von Großbritanniens Küsten - stets zwei Aufnahmen von demselben Motiv, einmal bei Ebbe, einmal bei Flut.
Die Idee zu dem Projekt kam dem Briten bereits im Jahr 2003. Marten hatte den ganzen Tag lang Szenen in einem kleinen Hafen im Südosten Schottlands fotografiert. Später, beim Betrachten der Aufnahmen, merkte er, dass er zu verschiedenen Tageszeiten fast denselben Bildausschnitt aufgenommen hatte - am Vormittag bei Ebbe, am Nachmittag bei Flut. "Wenn man sich die Gezeiten zunutze macht, wird deutlich, wie natürliche Zyklen die Landschaft verändern", sagt der 65-Jährige. Also startete er sein Fotoprojekt "Sea Change" (englisch für: Schwankung des Meeresspiegels) - ein Projekt, das Landschaft als dynamischen Prozess und nicht als statisches Bild zeigt.
Rhythmus der Erde
Was ihn dabei vor allem interessiert: die Macht der Naturgewalten. "Viele Landschaftsfotografen interessieren sich dafür, wie Menschen den Planeten manipulieren, sie konzentrieren sich auf gebaute Umgebungen, auf Globalisierung, Industrie und Umweltverschmutzung." Marten aber nimmt den eigenen Rhythmus der Erde in den Fokus, zeigt mit seinen Bildern die Überlegenheit der Natur gegenüber dem Menschen. "Der Planet ist stärker. Seine Kräfte - wie das Klima und die Ozeane - liegen außerhalb unserer Kontrolle."
Dessen wurde sich der Fotograf auch bei einem Aufenthalt in Südwales klar. Bei Ebbe war ihm im Küstenort Porthcawl ein gutes Foto gelungen, das eine Mole mit einem weißen Leuchtturm zeigt. Ein Mensch geht im Schlick spazieren, die weißen Wolken scheinen mit dem Meer zu verschwimmen. Ein perfektes Bild. Am zweiten Foto jedoch, das bei Hochwasser entstehen sollte, wäre Marten fast verzweifelt. Enorme Wellen überschwemmten den Punkt, von dem aus die erste Aufnahme entstanden war. Hier musste er nun auch bei Hochwasser hin. Es war gefährlich, aber ohne das Flutfoto wäre die Arbeit vom Morgen vergebens gewesen.
Also wartete Marten einen Moment ab, der ihm weniger riskant erschien. Als die Wellen den Punkt der ersten Aufnahme nicht mehr überragten und der Sturm sich beruhigte, rannte er hinüber, er stellte das Stativ auf und machte das fehlende Foto. "Ein Jahr später riss die Flut genau an dieser Stelle einen Mann von der Mauer", sagt Marten. "Er ertrank."
Das Wasser bis zum Hals
Gefährlich wirkt auch ein Foto, das einen Mann im Meer zeigt, den die Flut bereits umzingelt hat. Es handelt sich allerdings nicht um einen echten Menschen, sondern um eine von hundert gusseisernen Skulpturen, die seit 2006 am Strand von Crosby bei Liverpool stehen. Ein englischer Künstler hatte sie hier aufgestellt, nachdem die Installation erstmals 1997 in Cuxhaven präsentiert worden war. Je weiter die Figuren von der Küste entfernt stehen, desto länger sind sie der Flut und den Muscheln ausgesetzt. Manche verschwinden komplett im Meer, anderen steht das Wasser nur bis zum Hals. "Die Skulpturen ganz weit draußen sind viel stärker verkrustet - es ist, als könne man so die Zeit messen, die sie im Wasser standen."
Nicht in alle seine Bilder interpretiert Marten eine so starke Bedeutung. Manche spiegeln einfach wider, welche wunderbare Natur entdecken kann, wer sich zu den britischen Küsten aufmacht. Weiße Kalkfelsen bei Sussex, eine winzige Kirche auf einer Hallig bei Anglesey in Wales, verlassen wirkende Fischerdörfer in Schottland: "Alle Teile der Küste, sogar die von Industrie geprägten, haben ihre eigene Schönheit", sagt Marten. Es hänge eben von einer besonderen Stimmung ab, einem ungewöhnlichen Licht - oder dem Wetter.
In seinen Fotografien zeigt sich Großbritannien oft klischeehaft wolkenverhangen und grau - für Marten ist das kein Makel: "Ein Kliff, das aus dem Nebel hervorragt und dann darin verschwindet, das weite Wattenmeer im strömenden Regen, die tobende See bei Sturm - das alles überwältigt mich mehr als ein Sandstrand bei blauem Himmel."
