

Sommer während Corona Ganz Paris ist eine Terrasse
Überall stehen Tische und Stühle, eng aneinandergereiht, der Kellner kommt kaum damit nach, für alle Gäste Getränke herbeizuschaffen. Kein Wunder, dass er hier in der Bar Aux Folies in der Rue de Belleville den Überblick verliert: Wenn man den Barmann, Tarik Kaouri, 23, fragt, wie viele Tische er mehr als sonst rausgestellt hat, grinst er nur verlegen. Die Terrasse reicht jetzt teils bis auf die Straße, dort, wo sonst Autos parken. Selbst die kleine Passage um die Ecke dient als willkommene Erweiterung.
Es ist ein typisches Bild für Paris in diesem Sommer, seit den Lockerungen der Corona-Auflagen. Ein Hauch von mediterranem Flair hat die Stadt erfasst, seit Restaurants und Bars unter bestimmten Auflagen bis Ende September ihre Terrassen erweitern dürfen. Das soll ihnen helfen, die Einnahmeverluste der vergangenen Monate etwas auszugleichen. Gleichzeitig können sie mehr Abstand zwischen den Tischen halten, zumindest theoretisch. Denn von Abstandregeln merkt man indes eher wenig.
Nur Anrainer und Autofahrer sind unzufrieden. Aber die Beschwerden gehen in der allgemeinen Partystimmung unter. Das Beisammensein in Bars gehört nun einmal zur Lebenskultur, niemand möchte das missen.
Anne Defourny, 49
Es ist Donnerstagabend, 21 Uhr. Anne Defourny, 49, hat eben noch einen freien Tisch ergattert. Sie kommt regelmäßig in die Bar Aux Folies, jetzt genießt sie ihr Viertel ganz besonders. Während der Ausgangsbeschränkungen hatte sie vor allem von einem geträumt, sagt sie sofort: von ihrer Lieblingsbar La Cagnotte, nahe der Metrostation Jourdain. Sie habe ständig daran gedacht, endlich wieder einen Kaffee dort trinken zu können. Das hatte sie dann bei der ersten Gelegenheit gemacht. "Und sie war noch schöner als vorher."

Anne Defourny in ihrem Lieblingscafé: Sie geht jetzt wieder öfter aus
Foto: Petra Truckendanner/ DER SPIEGELDie Betreiber hatten sie während der langen Schließung renoviert. Anne Defourny ist Eventmanagerin und müsste jetzt normalerweise eine Jobmesse für Studierende vorbereiten. Daraus ist wegen der Coronakrise nichts geworden. Sie will sich diesen Sommer aber nicht mit existenziellen Fragen herumschlagen, dafür geht sie umso öfter aus. Vorher sei sie übrigens als Frau nicht so gern allein in Bars gegangen, sie sei schon häufiger von komischen Typen angesprochen worden. Jetzt denke sie sich nicht mehr so viel dabei, das habe sich für sie persönlich geändert. "Die Stimmung ist so positiv."
Eduardo Scarabel, 31
Der Pariser Tourismusverband rechnet damit, dass diesen Sommer bis zu 70 Prozent weniger Gäste aus dem Ausland kommen. Die Bar Aux Folies kann immerhin auf Stammkunden aus dem Viertel wie Anne Defourny zählen. Die Restaurants im Stadtzentrum hingegen leiden stärker unter dem Ausbleiben der Touristen.
So wie Eduardo Scarabel, 31. Er ist Direktor des schicken Café Charlot in der Rue de Bretagne im Marais. Auch er hat zusätzliche Tische auf den Parkstreifen aufstellen lassen. Mittags ist es schwer, einen Platz zu ergattern: "Der Eindruck täuscht", meint er trocken. "Wir haben viel weniger Gäste als sonst."
Er wird seine Kellner bald in den Urlaub schicken und hofft, dass die Touristen ab September wiederkommen. Wenn keine zweite Corona-Welle kommt - ansonsten werden wohl viele kleinere Bistros im Viertel schließen müssen. Schon jetzt sind die Verluste für Restaurants und Bistros kolossal. Laut "Le Parisien" verzeichnen manche Betriebe trotz Hilfsmaßnahmen bis zu 50 Prozent weniger Umsatz. Im August wird die Situation für viele noch schlimmer. Denn dann leert sich die Stadt wie jedes Jahr ferienbedingt.

Eduardo Scarabel, Direktor des Café Charlot: Er wird seine Kellner bald in den Urlaub schicken
Foto: Petra Truckendanner/ DER SPIEGELDa Touristen aus dem Ausland wegbleiben, umwerben Tourismusverbände, Museen und Monumente die eigenen Landsleute: Am Eiffelturm legt jetzt jeden Donnerstag- und Freitagabend ein DJ in der ersten Etage Musik auf. "Normalerweise kommen 80 Prozent unserer Besucher aus dem Ausland", sagt die Pressereferentin des Monuments Victoria Klahr. "Jetzt hat sich die Situation umgekehrt." Ein Frankfurter Ehepaar mit zwei Kindern steht auf dem Vorplatz des Eiffelturms, beim Ausgang. Sie finden Paris eigentlich "wie immer". Nur im Hotel waren sie die einzigen Touristen. Die übrigen Gäste waren Geschäftsleute.
Athina Nalbant, 50
Das Sommerfest entlang des Seineufers, "Paris Plage", wird dieses Jahr ab 18. Juli wieder stattfinden - das Motto: "Un été particulier" ("Ein besonderer Sommer"). Das Programm richtet sich vor allem an Familien, mit Sportveranstaltungen, Freiluftkino oder Literaturlesungen.

Die 23-jährige Marta Grau aus Barcelona: "Dort war kein Mensch"
Foto: Petra Truckendanner/ DER SPIEGELDer Louvre hat seit 6. Juli wieder geöffnet. Der Platz vor der Pyramide wirkt noch riesiger als sonst. Es bilden sich keine Warteschlangen mehr vor dem Eingang des meistbesuchten Museums der Welt, im vergangenen Jahr kamen noch rund zehn Millionen Menschen. Die Spanierin Marta Grau, 23, aus Barcelona fotografiert eine Freundin vor der schönen Kulisse. Gestern waren die beiden im Invalidendom. "Dort war kein Mensch." Eine einzelne Touristengruppe eilt vorbei.
Reiseleiterin Athina Nalbant, 50, wedelt mit den Armen. Sie müsse sich jetzt erst um ihre Touristengruppe kümmern, ruft sie und zückt dabei ihre Visitenkarte. Sie will gern später reden: "Wissen Sie, ich habe mich so sehr über diese Gruppe aus England gefreut. Der Auftrag kam unverhofft", sagt sie später am Telefon. Normalerweise kümmere sie sich im Sommer ständig um solche Gruppen. Jetzt bekomme sie 10 Prozent der sonst üblichen Aufträge, schätzt sie. Immerhin gibt es Hilfen für ihre Berufsgruppe.
Das Pariser Tourismusbüro organisiert ab 11. Juli Gratisführungen und übernimmt die Bezahlung der Reiseführer. Jeder kann daran teilnehmen, der sich einschreibt. Auch Nalbant hofft jetzt wenigstens auf Gäste aus Frankreich wie aus dem übrigen Europa und versucht, im eigenen Sinne zu werben. "Wenn ihr einmal Aug in Aug der Mona Lisa gegenüberstehen wollt, dann ist jetzt der richtige Moment."

Reiseleiterin Athina Nalbant: "Wissen Sie, ich habe mich so sehr über diese Gruppe aus England gefreut"
Foto: Petra Truckendanner/ DER SPIEGELOffen bleibt, ob die unbeschwerte Stimmung in Paris auch nach der Sommerpause bestehen bleibt, wenn viele Angestellte nicht mehr im Homeoffice arbeiten können und in ihre Büros zurückkehren, wenn der Autoverkehr wieder zunimmt. Anne Defourny hofft, dass La Cagnotte überleben wird und Paris nicht wieder genauso wie vorher. Athania Nalbant ist überzeugt, dass die Touristen wiederkommen. "Das ist nur eine Frage der Zeit."
Der Schriftsteller Michel Houellebecq, der mit seinen Prophezeiungen schon öfter richtig lag, hat verkündet, dass die Welt wie vorher wird - nur noch ein wenig schlimmer.