
Insel Kihnu: Die Entdeckung der Langsamkeit
Kihnu in Estland Die Insel der Stille
Maria Michelson ist keine Zurückgekommene. Keine von denen, die gleich nach der Schulzeit nach Pärnu oder nach Tallinn flohen. Weil es auf der estnischen Insel Kihnu keine Arbeit gibt. Weil es einsam ist und die Winter lang sind, dort, auf diesen 16 Quadratkilometern Land inmitten des Rigaischen Meerbusens.
Gut sieben Kilometer lang, gut zwei Kilometer breit. Nicht einmal 500 Bewohner. Vier Dörfer. Wacholderwiesen, Kiefernwälder, immer wieder das leise Plätschern eines sanften Meeres. Wolken, die wie mit Wehmut zum Horizont ziehen.
Maria Michelson, 33 Jahre, ist eine Zugezogene, die kam, aber nie bleiben wollte. Sie wurde in der Hauptstadt Tallinn als Tochter einer Mutter geboren, die von Kihnu kommt.
Auf Kihnu, so sagt man, haben die Frauen das Zepter in der Hand, weil die Männer seit Jahrhunderten Fischer sind, Seefahrer, weil sie das Meer eroberten, aber die Frauen stets das Land bestellten.
Da bot es sich an, dass Michelson als Studentin der Anthropologie eine Forschungsarbeit über die Frauen von Kihnu schreibt, über dieses letzte rudimentäre Matriarchat in Europa.
In einer anderen Welt
"Elf Jahre", sagt sie und lacht ein wenig ungläubig. Solange ist es her, dass sie die Fähre bestieg im Hafen von Munalaid auf dem Festland. Eine Stunde Fahrt über dieses stille Meer. Drei Monate Aufenthalt waren geplant. Um zu forschen und zu schreiben.
Maria zog zu ihrer verwitweten Großmutter Elvi Vesik, die eine Bauernstelle in Röötsiküla betreibt, nicht weit vom Leuchtturm, nicht weit vom Meer. Nach drei Monaten verlängerte sie ihren Forschungsaufenthalt, dann lernte sie einen Musiker kennen. Einen, der nicht viel verdient, aber die Liebe wurde. Da hatte sie die Insel schon im Blut, die Verlockung eines semiautarken Lebens mit wenig Geld, mitten in der Natur. Da konnte sie sich schon nicht mehr vorstellen, allein in einer Wohnung zu wohnen, ohne die Großmutter, ohne die Wälder, das Meer. Also blieb sie. Der Musiker zog mit ins Haus, Sohn Kusti wurde geboren. Ein Kihnu-Kind.
Für Maria Michelson war Kihnu die Entdeckung der Langsamkeit. Dass man für alles, was in der Stadt schnell zu erledigen ist, viel Zeit braucht, daran musste sie sich gewöhnen. Und daran, dass es keine Straßenbeleuchtung gibt und die ganze Insel im Winter stockdunkel ist. Oder daran, aufs Festland zu fahren, wenn man ein Holzbrett, einige Nägel oder Kleidung braucht. "Und wehe, man vergisst beim Einkauf was." Denn in den zwei Inselläden kann man nur bescheidene Ware erstehen. Soljanka im Glas. Linsen in der Dose.
Immerhin gibt es seit 2011 auf der Insel einen medizinischen Dienst. Zahnarzt, Gynäkologe, Friseur und Pastor kommen einmal im Monat vom Festland. Auf Kihnu patroulliert keine Polizei, tagt keine Gerichtsbarkeit. Bei Streitfällen müssen Richter und Staatsanwalt anreisen. Kriminalität gibt es nicht. Wie denn auch, wenn man nicht wegkommt?
Die Großmutter ist der Boss
Wenn man Maria Michelson fragt, warum sich eine junge Frau aus der Großstadt entschließt, auf einer Insel zu wohnen, auf der man nach einigen Wochen jedes Gesicht kennt, sagt sie, es sei wohl das Maß an Autarkie gewesen, das sie in den Bann der Insel schlug. Selbst herstellen, was man trägt. Selbst anbauen, was man isst. Rote Beete, Kartoffeln, Zwiebeln, Kürbis und Rucola. Bis heute pflanzt die Großmutter Elvi Vesik dieses Gemüse auf ihr Feld. Bis heute beackert sie den Boden mit der Hand.
Michelson und ihre Großmutter trennen 48 Jahre. Beide profitieren von ihrem Zusammenleben. Elvi Vesik von der Hilfe bei der Farmarbeit und der Gesellschaft der jungen Familie. Ihre Enkelin von der Unterstützung der Großmutter bei der Kinderbetreuung und davon, im Bauernhaus zu wohnen, mietfrei.
Dennoch ist das Zusammenleben nicht problemlos. "Meine Großmutter ist der Boss im Haus, sie trifft alle Entscheidungen." Maria würde aus dem Resthof gerne wieder einen Vollhof machen, Tiere anschaffen, doch ihre Großmutter will das nicht.
Wenn man Kihnu googelt, liest man Berichte, die klingen, als sei die Zeit auf der Insel stehen geblieben. Liest über die matriarchalischen Strukturen und wie die Frauen lernten, für sich und die Kinder zu sorgen, wie sie ackerten und pflügten mit Ochs und Pferd. 2003 wurde die Insel auf die Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes gesetzt. Wegen ihrer Traditionen und der tapferen Frauen.
Weltkulturerbe verpflichtet, die Traditionen zu erhalten, bis sie erstarren. Zwar tragen die Frauen noch immer selbst gewebte Röcke aus schwerem Wollstoff, darüber eine Schürze, darunter selbst gestrickte Wollstrümpfe und ein rotes Kopftuch. Und noch immer ist es Teil von Kihnus Sozialwesen, viel zu singen, zu tanzen. Und gemeinsam zu handarbeiten. Doch vieles ist Show für die Touristen geworden.
Eine verfremdete Wirklichkeit sei das, hatte Maria Michelson damals in ihrer Forschungsarbeit geschrieben. "Die Frauen hier präsentieren ihre Traditionen und es sieht aus wie Folklore. Dabei ist es doch eigentlich Teil des Alltags. Man handarbeitet, weil die Winter lang sind, man ackert, weil man leben muss."

Insel Kihnu: Die Entdeckung der Langsamkeit
Virve Elfriede Köster, geboren 1928, zog es nie weg von Kihnu. Die Verlockungen der Stadt? Die 90-Jährige winkt ab. "Wozu? Hier hab' ich alles." Köster ist die Nachtigall von Kihnu, die berühmteste Tochter der Insel. Mehr als 250 volkstümliche Lieder hat sie geschrieben. Lieder, die so klingen wie sich Kihnu anfühlt. Vertraut und melancholisch, wehmütig und geborgen.
Köster hat diese Lieder auf Konzerten gesungen und auf dem alle fünf Jahre stattfindenden Sängerfestival in Estland. Nach ihr haben sie die Fähre benannt, die Munalaid mit Kihnu verbindet. Im Innenraum des Oberdecks hängt ein Bild von ihr: Virve mit Blumen am Hafen.
"Ich war immer froh, wenn ich wieder Inselboden unter den Füßen hatte." Wie ein Vögelchen sitzt die alte Frau in einem Sessel im Hause ihres Sohnes, bei dem sie wohnt. Von Köster möchte man wissen, wie das Leben auf Kihnu vor 50 Jahren war. "Da setz dich man bequem", sagt die alte Frau, ihr Deutsch ein bisschen eingerostet, das R rollt sie.
Und dann legt sie los. Von dem Meer, in dem es noch genug Fische gab, dass jeder ein Auskommen hatte. Von den Kartoffeln, die sie als Kind geerntet hat, von Hochzeiten, die drei Tage dauerten, und dass immer irgendwo gesungen und Musik gemacht wurde. Es sind Geschichten, die an einem anderen Ort wie Erzählungen einer längst vergangenen Zeit klängen, doch auf Kihnu wie aus einem gerade vergangenen Gestern.