
Nyksund auf den Vesterålen Das Gegenteil von Düsseldorf
Jetzt also ist auch Atle wieder da. Steht hinter seiner Ladentheke in Strickpulli und Filzpantoffeln, als wäre nichts gewesen. "Drei Jahrzehnte", sagt er, "für ein Leben ist das doch keine Zeit." Drei Jahrzehnte, das ist die Zeit, in der er nicht in Nyksund war. Und einer, der sein Leben zwischen museumsreifem Krimskrams aller Art zubringt, weiß natürlich, was für ein Klacks das ist. "Die Glasballons da hinten, für die Fischernetze, haben mehr auf dem Buckel."
Alles in seiner kleinen Stube ist schwer in die Jahre gekommen: Schusterwerkzeug, Teeservice und Seemannskarten, Leinen für den Seelachs und Haken für den Skrei. "Kannst du alles kaufen", sagt Atle Vallan, "mein Haus ist kein Museum." Kein Museum: Das ist ihnen wichtig hier. Nyksund, das ist ein Ort, in dem tatsächlich Leute leben. Wieder.
24 zählen sie an diesem Tag. Atle und seine Frau, Kyrre, der mit der Bootsafari, Ssemjon vom Holmvik Brygge, Monja und Ringo, die zugereisten Sachsen, zwei Angestellte der Touristeninformation, die Mannschaft vom Café Ekspedisjonen und ein paar Wochenendhausbesitzer, die neuerdings auch werktags bleiben. "Vor allem aber: nicht ein Fischer", sagt Atle und streicht über einen seiner Glasballons. "Ist wohl besser so." Die Fischer und die See waren immer Nyksunds Fluch und Segen.
Das Dorf ist Wendepunkt der schmalen Küstenstraße von Langøya, dort wo die Vesterålen, Norwegen und die Welt zu Ende sind. Dahinter liegt nichts als der schaumgekrönte Nordatlantik. Was tun hier, außer fischen? Hering gibt es reichlich, vor allem aber Skrei, den jungen Kabeljau, der im Frühjahr südwärts zieht. "Sieh dir die Häuser an", sagt Atle, "keine Fischerkaten, sondern Prachtvillen, in denen Kabeljaubarone residierten."
"Das Gegenteil von Düsseldorf"
Fünf mächtige Familien prägten einst das Dorf und fünf mächtige Häuser die viereckige Mole, zwei im Osten, zwei im Westen, eins im Süden. Und im Norden: Meer. Wer hier in See sticht, trifft nach 1500 Kilometern Grönlands Küste, wer sich links hält, landet in Kanada. Amerika, das scheint hier nah - auch optisch.
Die Häuser sind aus Zementgussstein und Bretterwänden im Saloonstil. "Wie im Wilden Westen", sagt Ssemjon Gerlitz, "der pure Protz." Die Wand seines Hauses ragt senfgelb in den Himmel, den Schriftzug Holmvik Brygge hat er aus Bauschutt geschustert. Als er nach Nyksund kam, um das Gästehaus aufzubauen, fand er den Ort menschenleer. "Das einzige Licht, das abends brannte, war das in meiner Küche."
"Das Gegenteil von Düsseldorf", seiner alten Heimat, hatte er gesucht. Irgendwann auf seinen Wanderjahren durch Europa hörte er von dem Ort auf den Vesterålen. Ein Geisterdorf, hieß es, doch für ihn klang es nach Verheißung. "Wo sonst", sagt Ssemjon, "kann man noch Pionier sein?"
Heute ist sein Haus das Erste am Platz, acht hübsche Zimmer und ein kleines Restaurant, in dem seine Freundin Apfelkuchen auftischt und Seesaibling aus dem nahen Sigerfjord. Meistens ist er ausgebucht. "Nyksund", sagt er, "ist ein Kommen und Gehen. Im Moment kommen sie wieder."
Anziehungspunkt für Kiffer und Künstler
Ende der Sechzigerjahre war das erste große Gehen, als es sich nicht mehr lohnte mit dem Fisch. Vor der Küste kreuzten plötzlich große Trawler mit Schleppnetzen, Radar und Echolot, für Nyksunds Fischer blieb kaum ein Hering mehr. Die meisten suchten sich einen Job in Myre, 20 Kilometer weiter, in der großen Fischfabrik. Und Norwegens Regierung zeigte wenig Neigung, die kränkelnden Küstendörfer vom Sterben abzuhalten. Die geplante Teerstraße wurde nicht gebaut, der Polizeiposten abgezogen, die Arztpraxis geschlossen. 1971 fuhr das letzte Mal der Schulbus. 1975 war Nyksund leer.
Ein paar Jahre später dann kamen die Kinder aus der fernen Stadt. Berliner Sozialarbeiter hatten das Dorf entdeckt, auf der Suche nach einer vergessenen Ecke, um straffällig gewordene Jugendliche wieder gesellschaftsfähig zu machen. Und so kam, wer mit dem Betondschungel im Wedding nicht zurechtkam, zu den Trottellummen auf die Vesterålen.
Es folgten Aussteiger aller Art: Pappmaché-Künstler, Cannabis-Experten und andere, die die verfallenen Häuser wieder halbwegs bewohnbar machten. Nyksund hatte einen Hindu-Tempel damals und war berühmt für seine Ska-Konzerte. Doch die Karawane zog schnell weiter. "Die langen Winter", sagt Ssemjon, "keine Sonne und kein Kino. Und das Bier: nicht zu bezahlen."
Wandern, Nordlicht, Ende der Welt
Als er kam, 1997, war Nyksund wieder eine Brache. In der Mole trieben ein paar Schiffsgerippe, durch Ateliers pfiff der Wind. Der Düsseldorfer blieb nicht lang allein. "Nach ein paar Monaten", sagt Ssemjon, "kam die Tochter des alten Schmieds zurück." Es folgten ein paar Fischerkinder, längst keine Fischer mehr und reich genug für einen Zweitwohnsitz in ihrer alten Heimat.
Und dann kam Kyrre Brun. Auch er war ein Kind, als die Boote noch ausliefen. "Man konnte es riechen, wenn der Skrei vorbeizog." Wenn er heute seinen Außenborder anwirft, hat er statt Fischerzeug Ssemjons Gäste mit an Bord. Meist bleibt sein Schlauchboot in Küstennähe, nah dran an den schönsten Fotomotiven: Raubmöwen, die hysterisch über den Gelegen kreisen, Robben, träge in der Gischt, Alkenvögel, Adler und eine Kolonie clownfarbener Papageientaucher. "Dass das einer sehen will", sagt Kyrre, "wer hätte es gedacht."
Über Nyksunds zweite Auferstehung staunen sie hier immer noch, und über alles, was man tun kann außer fischen. Wer nicht mit Kyrre unterwegs ist, wandert nach Stø - hin über die Berge, durch Blaubeeren und durch Birkenwälder, zurück über den Sand in felsgerahmten Buchten. Im Winter kommen Gäste, um sich am Nordlicht zu berauschen. Im Sommer schauen sie von der Mole aufs weite Meer, im Bauch ein Gefühl von Finis terrae, in der Nase den Geruch von Salz.
Neben dem Holmvik Brygge gibt es inzwischen ein weiteres Gästehaus, neulich war die Königin hier. "Der Ritterschlag", sagt Atle Vallan, "jetzt wissen es alle: Nyksund ist wieder da." In den Winternächten brennt in den meisten Fenstern Licht. An der Mole liegen wieder Boote. Die Küstenstraße: längst geteert. "Und warte mal", sagt Atle und streift den Staub von einem glasgrünen Schwimmer, "bald fährt der Schulbus wieder her."