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Flaschenpost aus der Ostsee: Im Meer gepostet

Foto: Oliver Lück

Flaschenpost aus der Ostsee Zeitlos, grenzenlos

In Zeiten von SMS und Twitter wirkt eine Flaschenpost absurd: Sie ist langsam, nicht zielgerichtet, und Glück und Zufall bestimmen, wer sie bekommt. Oliver Lück hat bewegenden Briefen aus dem Meer nachgespürt.
Zur Person
Foto: Oliver Lück

Oliver Lück, 42, ist seit 20 Jahren immer wieder mit seinem VW-Bus in Europa unterwegs. In rund 30 Ländern ist der Journalist und Fotograf aus Henstedt-Ulzburg gewesen. Vor acht Jahren begann seine Leidenschaft für die Flaschenpost.Lück und Locke 

SPIEGEL ONLINE: Herr Lück, was interessiert Sie an Flaschenpost? Ist das in Zeiten von SMS und Twitter nicht total antiquiert?

Lück: Nein, gar nicht. Ein Flaschenpost ist zeitlos. Und grenzenlos. Sie ist wie ein Schatz. Ich konnte in den Jahren meiner Buchrecherche über 300 Flaschenpost-Briefe aufspüren. Davon sind die meisten ganz aktuell, die Hälfte stammt von Erwachsenen.

SPIEGEL ONLINE: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch über Flaschenpost in der Ostsee zu schreiben?

Lück: 2008 war ich mit meinem alten VW-Bus unterwegs, ohne Ziel und mit viel Zeit. Als ich von Litauen nach Lettland über die Grenze fuhr und einen Schlafplatz suchte, sah ich einen Garten, der phantasievoll mit Strandgut geschmückt war. Ich hielt an, klopfte. Eine alte Dame öffnete, und ich konnte vier Tage bleiben. Biruta Kerva zeigte mir am nächsten Morgen fast 40 Flaschenpostbriefe, die sie direkt vor ihrer Haustür am Strand gefunden hatte.

SPIEGEL ONLINE: Hat sie die Nachrichten beantwortet?

Lück: Nein, das habe ich dann gemacht. 20 Absender konnte ich noch erreichen - und damit fing alles an. Gleich der Erste, den ich anschrieb, war Thomas, der auf Rügen lebt. Jedes Wochenende wirft er ein bis fünf Flaschenpostbriefe in die Ostsee. Immer wenn der Wind günstig steht, am besten aus Westen und am besten bei Sturm. Dann wartet er auf Antwort, oft viele Jahre. 30 Antworten hat er bisher bekommen - aus Polen, Russland, Schweden, Dänemark. Und so hatte ich wieder 30 Leute, die ich anschreiben konnte.

SPIEGEL ONLINE: Was sind das für Leute, die sich auf eine Flaschenpost melden?

Lück: Unter denen, die auf Thomas' Briefe geantwortet hatten, war auch ein Strandvogt auf Bornholm mit einer Sammlung von über 200 Briefen, die er seit 1971 gefunden hat. Viele aus DDR-Zeiten. Und dann gab es noch einen schwedischen Fischer auf einer einsamen Insel, der schon um die hundert Flaschen gesammelt hat.

SPIEGEL ONLINE: Bei Flaschenpost geht es um Zufall und um das Glück, überhaupt eine zu finden. Wo sind die Chancen am größten?

Lück: An der Ostsee ist die Chance größer als am Atlantik. Die Ostsee ist ja ein geschlossenes Randmeer: Alles, was man reinwirft und was schwimmt, wird auch irgendwann wieder an Land kommen. Und weil der Wind meist von Westen kommt, treibt im Baltikum - also in Lettland, Litauen und Estland - unglaublich viel Müll an, aber auch sehr viel Flaschenpost. In Travemünde oder am Timmendorfer Strand ist es dagegen relativ unwahrscheinlich, dass man eine findet. Dort sind einfach zu viele Menschen, vor allem im Sommer.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben einen Flaschenpostautomaten erfunden. Wozu?

Lück: Flaschenpost schreibt man, wenn man Zeit hat, meist im Urlaub, am Strand. Und meist fehlt dann die Flasche, der Korken, das Papier oder ein Stift. Also habe ich einen alten Getränkeautomaten umgebaut und in Ostseeorten aufgestellt. Für zweimal einen Euro konnte man die Utensilien ziehen.

SPIEGEL ONLINE: Was ist passiert?

Lück: Manche waren fassungslos und fragten, ob der Automat echt ist. Einer trat in alter Tradition aus Wut dagegen, als etwas nicht schnell genug ging. Viele schrieben die erste Flaschenpost ihres Lebens. Und ein Mann hat sofort eine Flasche gezogen und einen Brief an seine Schwester, eine Fotografin, verfasst, die ein Jahr zuvor gestorben war. Sie hätte so einen Automaten weltklasse gefunden, sagte er. Dann zog er Schwimmflossen an, klemmte sich die Flasche in die Badehose und wollte sie weit hinter die Brandung bringen.

SPIEGEL ONLINE: Bedeutet das nicht noch mehr Müll in der Ostsee?

Lück: Ja, das haben manche beklagt, so à la "Jetzt schmeißen wir schon selber Müll ins Wasser". Ich kann das verstehen, nach so einem Strandtag an der Ostsee bleibt unglaublich viel Abfall liegen. Und was alles in Lettland anlandet - so viel Fantasie kann man gar nicht haben: Fernseher, Kühlschränke und vor allem Plastik. Dagegen sind die 0,0001 Prozent an Flaschenpost gar nichts.

SPIEGEL ONLINE: Das haben Sie den Leuten dann gesagt?

Lück: Ja. Und dass eine Flaschenpost ja so etwas wie "Sonder"-Müll ist. Sie hat einen ideellen Wert, man möchte ja jemandem eine Freude damit machen.

SPIEGEL ONLINE: Was schreiben die Briefeschreiber in ihre Meerespost?

Lück: Viele haben so wie Thomas auf Rügen einen eher abenteuerlich-kindlichen Ansatz: Datum, Zeit und "Bitte schreibe zurück, wo du sie gefunden hast". Manche schildern ihre Sorgen und Probleme, und schicken sie symbolisch auf die Reise, lassen sie los. Briefe aus DDR-Zeiten waren oft Hilferufe, so etwas wie: Wir würden auch gerne wie diese Flasche auf die Reise gehen.

SPIEGEL ONLINE: Ihnen hat die Ostsee die Geschichten Ihres Buches vor die Füße gespült. Bei welcher hat der Zufall eine besonders große Rolle gespielt?

Lück: Ein Schwede schrieb 1999 mit Anfang 20 eine Post mit seinem größten Wunsch: Er wollte Schriftsteller werden. Die Flasche wurde schnell von dem Bornholmer Strandvogt gefunden und beantwortet. Ich aber habe sie erst 16 Jahre später gesehen. Den Namen konnte ich schnell googeln - denn sein Wunsch war in Erfüllung gegangen: Kristofer Flensmarck ist heute ein bekannter schwedischer Schriftsteller. Ich habe ihn in Malmö besucht. Erstmals blickte er da auf die letzten 16 Jahre seines Lebens zurück. Und der Auslöser dafür war seine alte Flaschenpost.

Driftroute einer Flaschenpost

Driftroute einer Flaschenpost

Foto: Oliver Lück

SPIEGEL ONLINE: Lässt sich vorhersagen, wo eine Flaschenpost in der Ostsee landet?

Lück: Das hat mich auch interessiert! Ich bin daher zum Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg gegangen. Mit Hilfe von Computermodellen aus Wind-, Strömungs- und Wetterdaten werden dort auch über Bord gegangene Container ausfindig gemacht. Ich habe dem Wissenschaftler nur Fundorte und -tage angegeben, und er konnte tatsächlich die Absendeorte, die ich ja kannte, zu 95 Prozent genau berechnen. So konnten wir zu jeder Flaschenpostgeschichte in meinem Buch auch Driftkarten zeichnen und die Reiseroute jedes Briefes auf den Tag genau zeigen.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie auch schon Flaschenpost gefunden?

Lück: Ich bin fünf Tage in Lettland gewesen und dort täglich 20 Kilometer den Strand abgelaufen. In dieser Zeit habe ich zwischen Hunderten angetriebener Flaschen eine Flaschenpost gefunden - beziehungsweise meine Hündin Locke. Die kam von drei kleinen Kindern, die auf Rügen Urlaub machten und sie nur zehn Tage zuvor ins Wasser geworfen hatten.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie die Kinder ausfindig machen können?

Lück: Nein, bisher nicht. Sie kommen aus München und heißen Emma, Johann und Maike, das weiß ich. Meldet euch doch bitte!

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Oliver Lück:
Flaschenpostgeschichten

Von Menschen, ihren Briefen und der Ostsee.

Rowohlt Verlag; 240 Seiten; 9,99 Euro.

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