Hubschrauberrettung in den Alpen Jede Minute zählt

Millimeterarbeit am Steuerknüppel: Wenn Helikopterretter in den Dolomiten verletzte Bergsteiger aus der Steilwand befreien, entscheidet höchste Präzision über Leben und Tod. Einsätze auf Skipisten sind dagegen fast Routine - doch manchmal kommt jede Hilfe zu spät.
Von Jürgen Löhle
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Retter in Rot: Helikoptereinsatz in den Alpen

Foto: Mateo Taibon / Aiut Alpin Dolomi

"Gefährlich - nun ja." Marco Kostner lächelt und denkt nach. Darüber, so scheint es, machen sich Piloten nicht so gerne Gedanken, besonders nicht, wenn sie wie er Rettungshubschrauber steuern. Und wohl schon gar nicht bei den "Aiut Alpin Dolomites", die rund um den Sellastock in Südtirol in einem Revier durch die Lüfte reiten, das besonders schroff und zerklüftet ist und immer wieder von heftigsten Wetterkapriolen überrascht wird - im Winter wie im Sommer.

"Gefährlich ist das falsche Wort", sagt er schließlich, "wir fliegen mit einem kalkulierten Risiko". Kostner lädt sich ein paar Penne auf die Gabel. Es ist ein normaler Mittag in der Wintersaison, draußen fallen dicken Flocken, und die fünfköpfige Rettungscrew hat sich in der Zentrale in Pontives zum Essen an den Tisch gesetzt. Einen Stock tiefer wartet der feuerrote Rettungsheli wie ein fetter Käfer im Hangar auf den nächsten Einsatz irgendwo zwischen Cortina d'Ampezzo und der Seiser Alm.

Oben verteilt die Ärztin Chiara Marchetti die Gläser, der Windenfahrer Moritz Peristi serviert die Vorspeise, der Bergretter Manuel Mayrl und Hundeführer Max Amrain decken den Tisch. Oft wird der ruhigste Teil des Arbeitstages jäh unterbrochen. Werden die Rettungsflieger angefunkt, sind sie drei Minuten später in der Luft. Spätestens.

Heute wird es ruhig bleiben, es schneit so heftig, dass nicht viel los sein wird auf den Pisten. Pilot Marco Kostner schaut immer mal wieder hinaus. "Grenzwertig" sagt er, "aber so lange es nicht ganz zuzieht und wir ein wenig Sicht haben, ginge es". Dann erzählt er von den Risiken, die es zu kalkulieren gibt in ihrem Job. Natürlich die Sicht, natürlich der Wind, der an den zerklüfteten Dolomiten-Türmen gewaltige Turbulenzen auslösen kann, doch am gefährlichsten sind alte Kabelstrecken von längst stillgelegten Seilbahnen in den Wäldern. "Aber", sagt er, "wenn du genug Erfahrung und Können hast, ist das alles kalkulierbar."

"Diese Bilder nimmst du mit nach Hause"

Seit 1992 ist Kostner dabei, er hat weit über 6000 Flugstunden hinter sich und einiges gesehen in dieser Zeit. Zusammen mit dem Team hat er vielen geholfen, aber auch die Ohnmacht erlebt, wenn trotz aller Eile und Präzision jede Hilfe zu spät kommt. "Wenn dir ein Kind im Hubschrauber stirbt", sagt er, "diese Bilder nimmst du abends mit nach Hause."

Im Winter gelten die Einsätze meist Skifahrern oder Snowboardern, deren Verletzungen zu schwer sind, um sie mit dem Schlitten zu Tal zu bringen, oder die extrem schnell Hilfe brauchen, wie zum Beispiel bei einem Herzinfarkt. Die Ärzte sind in der Regel ausgebildete Intensivmediziner mit Erfahrung in Anästhesie. Natürlich fliegen sie auch, wenn abseits der Pisten jemand in Not geraten ist. Den Gedanken, dass sie für leichtsinnige Touristen ihr Leben riskieren, kenne das Team jedoch nicht.

Dazu bleibt auch keine Zeit, alles muss passen. An Bord sind in der Regel ein Windenführer, der den Bergretter bis zu 90 Meter an einem Stahlseil in die Tiefe ablassen kann, ein Arzt und im Winter ein Hundeführer mit Lawinenhund. Alle an Bord müssen zudem ausgebildete Bergsteiger sein, die sich in jedem Gelände sicher bewegen können. Auszug aus einem Einsatzprotokoll:

  • 9.32 Uhr: Alarm.
  • 9.42: Ankunft am Dantercepies bei Wolkenstein, Bergung eines schwer verletzten Skifahrers, Verdacht auf innere Blutungen.
  • 9.47 Uhr: Abflug nach Bozen.
  • 10.01 Uhr: Übergabe in der Klinik in Bozen.
  • 10.22 Uhr: zurück im Stützpunkt Pontives.

Reine Routine, 50 Minuten nach dem Alarm ist alles vorbei, der Verletzte war in nicht einmal einer halben Stunde in der fast 50 Kilometer entfernten Klinik. Schnelligkeit ist das Ziel, wobei die Pistenrettung noch die einfachste Übung ist. Schwerer ist es, im Sommer verunglückte Bergsteiger aus Steilwänden zu retten. Da muss der Pilot manchmal bis auf wenige Meter mit dem Rotor an den Fels manövrieren. Millimeterarbeit am Steuerknüppel, der immerhin 1630 PS ihres Eurocopter Helis dirigiert.

Kostner erinnert sich an einen Einsatz, als er mit dem Team sechs Bergsteiger am Ortler geborgen hat, bei schlechtem Wetter und bei schlechter Sicht. Irgendwie hat er sie alle mit dem letzten Tageslicht vom Berg geholt. Die Nacht in der Wand hätten sie mit ihrer Ausrüstung kaum überleben können. Ob damals das Risiko kalkulierbar war? Kostner lächelt und sagt nichts.

Kopfüber-Rettung mit Fußseil

Man spürt, dass sie nicht so gerne über die Grenzfälle reden, obwohl es die in jedem Jahr gibt. Und Legenden: Im Sommer 1991 haben sie einen deutschen Touristen aus dem Marmolada-Gletscher geborgen, der in sommerlicher Kleidung und unangeseilt über den Gletscher abstieg und in eine 15 Meter tiefe Spalte rutschte.

Die Bergung war kompliziert, der Mann steckte fest - und es musste schnell gehen wegen der Kälte. Sie wollten ihn an seinem Gürtel aus dem Eis ziehen, aber der riss sofort. Schließlich gelang es den Rettern, den Touristen kopfüber an nur einem Bein angeseilt mit dem Heli aus der Spalte ziehen. Ein paar Minuten später wäre er wohl erfroren.

Aber das sind Geschichten für die Chronik. Die Aiut-Crew berichtet lieber über die nackten Statistiken ihres Alltags. Die Zahlen für diesen Winter gibt es nach Ostern, in der vergangenen Wintersaison stieg der Hubschrauber 319-mal auf, mehr als die Hälfte der Bergungen (181) waren Pistenopfer. Sechsmal mussten sie aber auch abseits ran, und es gab zwei Lawineneinsätze. 312 Menschen wurden zwischen Cortina d'Ampezzo und der Seiser Alm geborgen, nur neun davon konnte nicht mehr geholfen werden. Wie viele von den anderen ohne die Rettungsflieger nicht überlebt hätten - darüber gibt es keine Zahlen.

In der Zentrale freut man sich aber über Dankeskarten, die immer wieder im Briefkasten liegen, und die im Hangar an die Wand gepinnt werden. Wünschen würden sich die Retter, dass sich die Touristen das Risiko des Hochgebirges wenigstens bewusst machen würden. Aber noch gibt es viele, die sich in den Alpen aufführen wie in einem harmlosen Freizeitpark.

Der Präsident starb am Achttausender

Über ihr eigenes Risiko reden sie nicht gerne, aber es ist ihnen bewusst. Bis auf den Piloten sind die meisten der Crew Freiwillige wie Bergretter Mayrl, der Urlaub nimmt, um helfen zu können. Geflogen wird, so lange es hell ist. Im Winter sind die Schichten also überschaubar, im Sommer sehr lang. Aber sie tun es aus Überzeugung und aus Liebe zu ihren Bergen.

Aber manchmal holt auch sie das Schicksal ein. Bis vor zwei Jahren hieß der Präsident der Aiut Alpin Dolomites Karl Unterkircher. Der Extrembergsteiger aus Wolkenstein starb am 15. Juli 2008 in einer Felsspalte am Nanga Parbat. Das Drama um den Südtiroler und seine zwei Begleiter ging um die ganze Welt. Für Unterkircher gab es keine Rettung mit dem Hubschrauber, obwohl es Spezialisten versuchten. Aber in solchen Höhen fliegen normale Helikopter schon lange nicht mehr und auch der Einsatz von Spezialmaschinen ist ab 7000 Meter Höhe reine Lotterie.

Noch ein starker Kaffee, dann räumt die Crew den Tisch wieder ab, es geht auf 14 Uhr zu, es schneit immer heftiger und in drei Stunden wird es dunkel. Heute werden sie nicht mehr fliegen können, aber Marco Kostner kneift immer wieder die Augen zusammen und starrt durch die großen Fenster des Hangars ins Grau. Vielleicht geht es ja doch noch hinauf.

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