Insel Gozo Die Grotte der Kalypso
In 30 Minuten schwebt der Hubschrauber von Malta hinüber nach Gozo. Durch die großen Fenster der Maschine präsentiert die Insel der Kalypso ihre Kontraste als perfektes Panorama: Steile Klippen und Fjorde prägen die Küste im Westen und Süden, weite goldene Sandstrände säumen die Buchten im Osten und Norden. Auf den Terrassenfeldern im Landesinnern gedeihen Tomaten, die vergessen lassen, was in deutschen Supermärkten unter gleichem Namen angeboten wird. Feigenbäume und Granatäpfel säumen sandige Landwege. Hier und da knarren Wasserräder. Um kein fruchtbares Land zu vergeuden, wurden die Dörfer auf karstigen Höhenzügen angelegt, die sich wie Tafelberge aus der Ebene erheben.
Auf dem höchsten Hügel leuchtet Victoria im letzten Abendlicht. Die Hauptstadt Gozos erhielt erst 1897 anlässlich des 50-jährigen Thonjubiläums der britischen Königin Victoria ihren heutigen Namen, doch das Volk blieb dem alten arabischen Namen treu: Rabat. Die 6000-Einwohner-Stadt ist der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt der winzigen Insel, die nur 14,5 Kilometer lang und maximal 7,2 Kilometer breit ist. Hier laufen sämtliche Buslinien zusammen, gehen die Insulaner zum Arzt oder Amt und treffen sich auf dem Stadtplatz It-Tokk zum Plausch.
Unter den schattigen Bäumen haben Souvenirhändler die Marktstände nahezu vertrieben. In den Straßencafés sitzen die Männer beim Bier, in den Hauseingängen hocken die Frauen und klöppeln - Spitzen für Kopfkissen, Bettbezüge, Blusen, Hemden, Decken. Die schönsten Arbeiten zeigt das Crafts Centre in der Zitadelle mit seiner Dauerausstellung zum gozitanischen Handwerk: Silber, Strick, Keramik, Glas.
Siesta. Die Stadt ruht
Die engen, hohen Gassen der Oberstadt sind angenehm kühl. Zielstrebig schreitet Ruben Vella Bray seinen Gästen voran. Sein Ziel: das Lokal "Ta' Ricardu" in der Judengasse. Urlauber und Einheimische sitzen an rustikalen Holztischen zusammen und stärken sich mit einer zünftigen gozitanischen Brotzeit: deftiges Bauernbrot, eingelegte Tomaten, würzige Oliven, frische Kapern und "Gbejna moxxi", ein kräftiger Weißkäse aus Ziegen- und Schafsmilch, der in schwarzem Pfeffer gewendet wurde. In dunklen Tonkrügen wird Wein serviert. "Auch aus Gozo", wirft Ruben, Chef des Fremdenverkehrsamts von Malta, stolz ein, "hiesige Merlot-Trauben, hier gekeltert, hier genossen..."
Um 14 Uhr werden die Gäste höflich zum Gehen aufgefordert, die Stühle hochgestellt und die Holzläden vor die Fenster geklappt. Siesta. Die Stadt ruht; Ruben strotzt vor Unternehmungsgeist. Erst hinauf zur Zitadelle, dann ans Meer. Das Innere des Festungsringes liegt als Trümmerfeld brach. Hinauf zu den Bastionen führen Steintreppen, die eher Klettersteige als Stufen sind. Die Sonne sticht vom Himmel, die Steine glühen vor Hitze.
Doch die Aussicht beim Rundgang auf der Wehrmauer entschädigt für die Mühen: Im Norden thronen die hellen Häuser von Zebbug und Xaghra (gesprochen: Schaura) auf den Hügeln, gen Süden dominiert die gewaltige Rundkirche von Xewkija, die die örtliche Gemeinde 1951 bis 1971 zumeist in Eigenarbeit aus Spenden errichtete. Das Engagement der Gläubigen kannte keine Grenzen - mit 75 Meter Höhe besitzt das gozitanische Dorf Europas drittgrößtes Gotteshaus.
Für eine Hand voll Cents ruckelt ein uralter, quietschgelber, lautstarker und knochenhart gefederter britischer Bedford-Bus nach Xlendi. Die offene Tür bringt Fahrtwind zu den Passagieren, beschwingt fährt der Busfahrer zum Takt der Beats aus dem Transistorradio. Am Rückspiegel baumelt ein Kreuz mit einem kleinen Heiligenbild.
Halsbrecherisch geht es um die Kurven. Dann öffnet sich der Blick auf den Fischerort, der sich in einer langen, engen Fjordbucht drängt. Am Südufer sonnen sich Badegäste auf Betonplattformen, die in die steilen Klippen gegossen wurden. Am Nordrand erkunden Schnorchler die Unterwasserwelt im azurfarbenen Badewasser. Mit ihren Höhlen, Grotten, Steilhängen und Riffen gehören die Gewässer rund um Gozo zu den besten Tauchplätzen des Mittelmeeres. Knurrhähne, Seebarben, Tintenfische, Meeraale und der seltene Meeresbarsch, der sonst im Mittelmeer verschwunden ist, leben in den bis zu 23 Grad Celsius warmen Fluten.
So wenig kommerzialisiert wie zur Antike
Manoel packt seine Angelrute ein und macht seinen Motorsegler "Barbarossa" startklar zum Sunset Cruise. Seit mehr als 20 Jahren schippert er bei ruhiger See im Sommer mit einem Dutzend Gäste in zwei Stunden einmal rund um Gozo: spektakuläre Küste zu Käse, Wein und Obst an Deck. Erstes Ziel sind die Wahrzeichen der Westküste: der pilzförmige Felsen Fungus Rock und das Azure Window, ein imposanter Kalksteinbogen. Im Licht der Sonne leuchten die Steilklippen von Ocker bis Rot.
An der Nordküste glitzern Salzpfannen in den goldenen Felsen des Riffs. In der Ferne gleitet der Marsalforn vorbei, der größte Ferienort auf Gozo. Dann kommt sie in den Blick: Ramla Bay. Gozos berühmteste Bucht ist bis heute so wenig kommerzialisiert wie zur Antike: ein goldgelber Bogen, eingerahmt von Felsen und ein paar Bambushütten, die Eis und andere Snacks verkaufen. Ein verwittertes Holzschild weist den Weg zu einem mystischen Ort, der den Strand zur Legende machte: der Höhle der Kalypso. Die schöne Tochter des Titanen Atlas hatte hier Odysseus, als Schiffbrüchiger an den Strand geschwemmt, gesund gepflegt - und sich in ihn verliebt. Odysseus jedoch sehnte sich nach seiner Gattin Penelope. Sieben Jahre lang dauerte die ungleiche Romanze, erst dann hatte Zeus ein Nachsehen und ließ Odysseus nach Ithaka heimkehren.
Heute verengen gestürzte Felsbrocken den Eingang zur Grotte oberhalb der Bucht, in die kein Tageslicht fällt. Ein findiger Bauer hat aus der Not der Besucher ein Geschäft gemacht: Neben allerlei Obst und Gemüse verkauft der alte Mann auch Kerzen - schon Willy Brandt habe sich bei ihm eingedeckt, erzählt er stolz.