

50 Jahre Interrail Alles Geld gestohlen – und das Abenteuer beginnt
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Am 1. März 1972 machten sich die ersten »Interrailer« auf die Schienen. Junge Menschen bis 21 Jahre konnten per Bahn für 235 Mark vier Wochen lang durch 21 europäische Länder reisen. Ein Ticket in die Freiheit, für viele die erste Reise ohne nervigen Familienanhang. Und eine Urlaubsform, die von Billigfliegern und Busreisen abgelöst wurde und jetzt, im Zuge der Klimadebatte, wieder beliebter wird.
In den 50 Jahren seit Einführung hat sich das Ticket ständig verändert. Die Altersbeschränkung wurde nach und nach an-, dann aufgehoben. Aus 21 Ländern wurden 33. Inzwischen gibt es nicht mehr nur ein Pauschalticket, sondern eine Vielzahl: für ein Land, für verschiedene Zeiträume, für mehr oder weniger Fahrten. Und so manches ist komplizierter geworden – zum Beispiel durch Reservierungspflichten.
Doch das Gefühl, mit Muße im Zug durch Europa zu fahren, Menschen und Städte kennenzulernen und Erlebnisse mit nach Hause zu nehmen, bleibt wohl gleich. Auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des SPIEGEL sind mit dem Interrail-Ticket in der Tasche unterwegs gewesen, sie erzählen von bekifften Mitreisenden, von geklauten Kameras, Schmugglern, von ersten und enttäuschten Lieben.

Auf ins Bahnabenteuer (Symbolfoto): Von Ljubljana bis Lissabon, vom Nordpol bis Naxos
Foto: Kateryna Soroka / DEEPOL / plainpictureIn 24 Stunden vom Fremden zum Familienmitglied
Wie der Deutsche, der mich am Bahnhof in Algeciras ansprach, mir mein Geld abnahm, wird nicht erzählt – zu peinlich. Dafür aber, wie meine Interrail-Reise im Frühjahr 1988 durch Spanien und Frankreich weiterging. Als mir dämmerte, dass der Typ mit meinem Geld nicht zurückkommen würde, stieg ich in den nächsten Zug. Ohne Sitzplatzreservierung musste ich stehen, wurde aber umgehend von einer Gruppe Marokkaner in ihr Abteil eingeladen. Sie quetschten mich zwischen sich, fragten mich aus und versorgten mich die nächsten 24 Stunden mit Verpflegung. Als sie in Nordspanien ausstiegen, fühlte ich mich als Familienmitglied.
In Toulouse stotterte ich am nächsten Morgen meine missliche Lage über den Tresen einer Bäckerei – und bekam eine Tüte Croissants und Pains au chocolat gereicht. Mittags diskutierten ein paar Studenten über den Zettel, den ich in der Fußgängerzone vor mich gelegt hatte. Da gebe es aber Sprüche, die zum Betteln besser geeignet wären als »Tout l’argent volé« – »Alles Geld gestohlen«. Aber ich solle doch erst mal zum Mittagessen mitkommen. So aufregend die Reise davor gewesen war – ohne Geld hatte das wahre Abenteuer begonnen, und auf der Fahrt schlossen sich weitere Begegnungen an. Menschlich gestärkt, begann ich im Monat darauf mein Studium.
Stefan Moos, Schlussredakteur
Breit in Bari
Es war 1998, als ich den roten Rucksack mit dem Notwendigsten vollstopfte. Mit vielen Batterien Größe D zum Beispiel, für den Gettoblaster. Mit dem Song »Telefunken« der Hamburger House-Band Egoexpress belästigten wir dann die Mitreisenden in den schäbigen Abteilen italienischer Züge und freuten uns, wenn sich jemand aufregte. Bis heute fühle ich mich frei, wenn ich »Telefunken« höre.
Das Reiseziel von meinem Freund und mir war die griechische Insel Naxos. Unterwegs waren wir mit einer Clique von Jungs, die eher ein anderes Ziel verfolgte: sich abzudichten. Wassermelonen wurden grundsätzlich mit Wodka befüllt. Auf einem Campingplatz in Bari gruben sie Erdlöcher, um darin Haschisch zu rauchen. Das klappte nicht gut, deshalb bauten sie aus zwei abgeschnittenen Plastikflaschen eine Art Wasserpfeife. Von Bari haben diese Interrailer nicht viel gesehen.
Sie hatten einfach zu viel zu tun. Ihre Rauchwaren mussten aufgebraucht werden, bevor es nach Griechenland ging. Die Jungs erzählten, dass am Hafen Drogenspürhunde zum Einsatz kämen. Deshalb verpackten sie ihre streng riechenden Psilocybin-Pilze in Tütchen und versenkten sie in Shampooflaschen.
Irgendwie verloren wir die dauerbekiffte Clique dann aus den Augen, weil wir auf verschiedenen Fähren eincheckten. Einige Tage später sahen wir sie wieder, kreischend und kichernd, am Strand von Naxos. Der Trick mit der Shampooflasche schien funktioniert zu haben.
Carola Padtberg, Kulturredakteurin
Der Heidelberger und ich

Jens Radü (2001): Mit Stil und Muskelkater
Foto: privatEs ist heiß in Paris an diesem Tag, sehr heiß, und ich verfluche das Wetter, die vielen Stufen im Viertel Montmartre – vor allem aber mich selbst: Warum bitte musste ich unbedingt den alten Heidelberger-Lederkoffer meines Vaters auf diesen Interrail-Trip mitnehmen? Klar, schönes Leder, Patina, Humphrey-Bogart-Sexiness – aber keine Rollen! Und so schleppe ich an diesem 27. Juli 2001 die vollen 25 Kilo Gepäck (ich habe viele Bücher dabei) durch die französische Hauptstadt, in der anderen Hand noch den Trolley meiner damaligen Freundin, Gentleman-Attitüde.
Der Muskelkater im Tragearm wird mich die vollen vier Interrail-Wochen – Route: Dortmund-Paris-Wien-Berlin-Hamburg – begleiten. Das Fotoalbum von damals zeigt Idyllen aus Eiffelturm, Eclairs, Rotwein, Schönbrunn, Prater, Riesenschnitzel, Tiergarten, Brandenburger Tor, Reeperbahn und Hafen. Das Bild aber, das ich heute noch am meisten fühle, ist das mit dem alten Heidelberger. Wahrscheinlich gibt es ihn noch, irgendwo auf dem Dachboden im Haus meiner Mutter. Vielleicht steckt noch ein Ticket drin, von jener Reise. Es war jedenfalls seine letzte, damals, im Juli 2001. Ob es für ihn ähnlich schwer war wie für mich?
Jens Radü, Chef vom Dienst
Rein oder raus?
Der Typ im Bus schien sich nicht so recht entscheiden zu können: Erst wollte er sich vorbeidrängeln, dann machte er kehrt und sprang durch die sich schließende Tür nach draußen. Der Bus fuhr los, und meine Geldbörse? War geklaut. Willkommen in Lissabon!
Wir – meine Freunde Katrin, Martin, Tilman und ich – waren auf unserer Interrail-Tour ab Saarbrücken über Frankreich nach Spanien und Portugal gerade erst in der Stadt am Tejo angekommen, als mir der Taschendieb meine Reisekasse und den Personalausweis stahl. Der Mann war vom Fach. Ich dagegen bot nach der Klapperfahrt mit dem Nachtzug aus dem spanischen Irun ein dankbares Ziel. Völlig übermüdet und mit Gepäck überfrachtet (Anfängerfehler!), hätte ich ihn sowieso nicht einholen können.

Angekommen am portugiesischen Strand: Adeus, Personalausweis!
Foto: privatSo wurde das Polizeirevier für uns zum ersten Besuchspunkt. Ich weiß noch, dass auf dem Fernseher im Wartebereich ausgerechnet »Alarm für Cobra 11« lief – auf Portugiesisch. Während sich Kriminalhauptkommissar Semir Gerkhan auf der deutschen Autobahn den Weg freischoss, hielt sich der Ermittlungseifer seiner Lissabonner Kollegen in Grenzen. »Que remédio« – nichts zu machen!
Während der restlichen Reise mussten meine Freunde mir die Ausgaben vorstrecken, an mein Lissabon-Trauma erinnern sie mich heute noch. Und nicht nur sie: Als ich vor einigen Jahren am Flughafen kontrolliert wurde, beäugte mich der Bundespolizist vorwurfsvoll – die Sache mit dem Ausweis stand noch im System. »Was ist denn da passiert?«, wollte er wissen. Und ich begann zu erzählen: »Der Typ im Bus schien sich nicht so recht entscheiden zu können…«
Michael Brächer, Redakteur im Ressort Wirtschaft
Jeans für die sozialistischen Brüder und Schwestern
Sommer 1987. Die Kykladen waren unser Traumziel, drei Wochen von Insel zu Insel, dann zurück mit der Fähre nach Piräus und von Athen aus im Zug heim nach München. Der Klassiker. Direktverbindung, 40 Stunden. Oder nur 39? Mein Freund und ich, beide im besten Interrail-Alter (gerade volljährig, aber noch Teenager), freuten uns, dass wir eins dieser Abteile erobert hatten, in denen man die Sitze so ausziehen konnte, dass das ganze Abteil zu einer Liegefläche wurde. Wir richteten uns ein: Proviant, Wasser, Lektüre, das noch zu vollendende Reisetagebuch, das Indientuch, das man ins Fenster klemmte, gegen die Sonne.
Nach wenigen Stunden Fahrt, kurz vor der griechisch-jugoslawischen Grenze, kamen zwei Männer zu uns ins Abteil, schlossen die Vorhänge zum Gang, nickten uns kurz zu, stiegen wortlos auf die Sitze – und begannen, die gewölbte Deckenverkleidung aus Resopal abzuschrauben. Dann stopften sie mehrere prall gefüllte Plastiktüten in die Hohlräume, als wollten sie die Decke isolieren.
Wir begriffen nichts, bis wir sahen, was in den Tüten war: Jeans, jede Menge Jeans. Wir schauten weiter staunend zu, völlig überfordert von der Situation. Die Männer taten, als seien wir gar nicht da. Nach wenigen Minuten waren sie fertig, schraubten die Deckenverschalung wieder an und schmierten über die verkratzten Schrauben einen Tupfer Zahnpasta. Sie taten das nicht zum ersten Mal, soviel war klar. Dann gingen sie, so plötzlich, wie sie gekommen waren.
An der Grenze wurden unsere Pässe kontrolliert. Wir blieben stumm. Was hätten wir sagen sollen? »Herr Zöllner, da schmuggelt jemand Westware ins sozialistische Ausland, wir wissen nicht, wo die Männer sind, wir haben nichts damit zu tun?« Die Jeansdealer wussten offenbar, dass auf die Sprachlosigkeit der Interrailer Verlass war. Kurz nach der Grenze holten sie sich ihre Pakete ab, mit derselben freundlichen Routine, mit der sie sie deponiert hatten. Und machten vermutlich in Skopje oder Belgrad ein paar Menschen unseres Alters ein bisschen ärmer, aber glücklicher.
Anke Dürr, Ressortleiterin Leben
Ich spürte ... nichts
Man hatte mich gewarnt, und ich war vorbereitet. Einen flachen Lederbeutel nähte ich mit dickem Zwirn an einen dieser typischen Stoffgürtel der Achtzigerjahre, beides in Rot, die Konstruktion trug ich gut spürbar auf der Haut, darin die Reisekasse, braune Scheine der Mittelmeerländer. Gewarnt, denn der Nachtzug Nizza–Rom galt als Transitstrecke der Diebe, Halunken und Ehrenmänner.
Für diesen Abschnitt leistete ich mir den größten Luxus eines Bahnreisenden: den Schlafwagen, wahrscheinlich für einen horrenden Zuschlag. Und damit die Romantik eines durch die Nacht ruckelnden, damals noch mit Holz ausgekleideten Abteils, während man vom frisch bezogenen Bett aus die Lichter der Städte und vorbeifahrenden Züge beobachtet – das höchste Gefühl des Reisens.
So lag ich und spürte – keinen Geldgürtel. Schreck. Das Bett durchwühlt, das Abteil. Ich war doch im Waschraum. Auch dieser leer. Aber ich hatte den Gürtel dort abgenommen, nun war ich mir sicher. In Sekunden standen geldloser Abbruch, Heimreise, Spott vor mir. Der Schaffner saß in seinem Abteil. Eine Börse, ein Portemonnaie, als Gürtel? Welche Farbe? Rot? Na, hier! Ja, jemand hatte ihn gefunden und abgegeben, mit Inhalt. Große Erleichterung, große Dankbarkeit. Obwohl der edle Finder für immer anonym blieb. Mille grazie! Merci, merci!
Matthias Reisner, Korrektorat
Die erste Liebe und die große Freiheit

Blick aus dem Zugfenster (Symbolfoto): »Wir schauten aufs Meer und fühlten uns sehr frei«
Foto: Forster-Martin / plainpictureFünf Freundinnen, 17 Jahre alt, und 1997 das erste Mal Interrail durch Westeuropa: Berlin – Frankreich – Spanien – Portugal – Frankreich – Amsterdam – Berlin. Wichtige Lektion gleich am Anfang: immer die Vorhänge schließen im Sechserabteil, dann hat man gute Chancen, das Abteil für sich zu behalten (das gilt ab jetzt für alle Züge außer für die deutschen, da klappt es nicht). Nächste Lehre für die kommenden drei Wochen: Toiletten in der südeuropäischen Variante gibt es nur noch als Stehklosett. Aber auch daran gewöhnten wir uns. Wir besuchten Dalís Geburtshaus, lernten viele Menschen kennen. Ich traf auch eine erste Liebe. Wir haben noch heute, 25 Jahre später, Kontakt.
Der schönste Moment: an der Algarve auf der Strecke von der spanischen Grenze bis nach Tavira in der Regionalbahn. Die Türen ließen sich damals noch öffnen, und bei überschaubarer Geschwindigkeit wehte ein angenehmer Luftzug durch die Waggons. Wir schauten aufs Meer und fühlten uns sehr frei.
Inka Recke, Bildredakteurin
Sehnsucht nach Dosenfraß
Im Sommer 1991 war ich mit meiner heute noch besten Freundin zum ersten Mal auf Interrail-Tour. Meinen 18. Geburtstag unterwegs werde ich nicht vergessen. Wir hielten in Paris, ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Griechenland. Mittlerweile waren wir absolut abgebrannt, ohne Cash und wirklich hungrig.
Zu uns ins Abteil stieg ein junger deutscher Interrailer, der sein Profi-Camping-Equipment auspackte und sich auf seinem Kocher im Abteil eine große Dose Ravioli warm machte. Er bot uns nichts an. Ich erinnere mich noch heute daran, wie sehnsuchtsvoll wir auf sein Essen starrten, wie köstlich dieser Dosenfraß roch. Gemeinster Futterneid an meinem 18. Geburtstag.
Als wir am folgenden Tag endlich in Athen ankamen, konnten wir wieder Reiseschecks einlösen, und alles wurde gut. Die Kykladeninsel Naxos war unser nächstes Ziel, und hier blieben wir dann auch für den Rest der Reise. Ein Glücksort für uns, alles dort war fantastisch, auch mit so gut wie gar keinem Geld. Wir reisten noch oft dorthin.
Suze Barrett, Grafikerin im Titelbild-Ressort
»...Kuss auf den Dekubitus«
Die Erinnerungen sind etwas verschwommen. Doch über die peinlichsten Momente unserer Interrail-Tour gen Spanien und Portugal können wir drei Freundinnen auch nach 33 Jahren noch lachen (während der Rest des Freundeskreises mit den Augen rollt) – auch wenn jede inzwischen eine etwas andere Version erzählt: Wie mir auf dem spanischen Bahnhof Figueres, gleich hinter der französischen Grenze, mein kleiner Rucksack mit Interrail-Pass und Kamera geklaut wurde und wir den Rest der Reise mithilfe einer Ritsch-Ratsch-Klick-Kamera mit Filmkassette dokumentieren mussten (inzwischen sind die Farben der Fotos fast verblichen).
Wie eine bekiffte Gruppe deutscher Zivis, die zu Hause in einem Altenheim arbeiteten, am Lagerfeuer ihre Hymne anstimmten – Refrain: »Dann gab ich ihr einen Kuss auf den Dekubitus« und »Sie hatte ... tam-tam ... offene Beine«. Wie wir hinter einem Bahnhof schlafen mussten und uns Katzenflöhe einfingen, die Akne-ähnliche Spuren am ganzen Körper hinterließen, und die Apothekerin einen entsetzten Sprung zurück machte, als wir Hilfe suchten. Antiflohspray »por te«? Ja, für mich, nicht für ein Tier. Und wie meine Freundinnen das mitgeführte Pfefferspray »mal testen wollten«, es auf einem Campingplatz auf den Boden sprühten und ich im Zelt fürchtete, aufgrund plötzlicher Atemnot einen Herzinfarkt zu erleiden. Und wie... Es gab so viel.
Was von der Reise blieb? Ein paar Impressionen etwa von einer unglaublich schönen Alhambra in Grenada, von Sevillas Alcázar-Palast, vom Nationalpark Doñana, von felsigen Stränden. Immer noch tiefe Freundschaften. Und die Erkenntnis, dass nicht die Sehenswürdigkeiten im Gedächtnis bleiben, sondern Erlebnisse, Begegnungen – und Pech und Pannen.
Antje Blinda, Teamleiterin Reise im Ressort Leben
Interrail ohne Interrail

Grenze zwischen Kroatien und Serbien: Einmal aussteigen und wieder einsteigen
Foto: privatAlles spricht dafür, die Eisenbahn zu nehmen und mit dem Rucksack den Balkan zu entdecken. Auch wir wollten das, am liebsten per Interrail. Doch von Deutschland bis Montenegro sind es, je nach Strecke, fast immer fünf bis sechs Länder und ähnlich viele Eisenbahngesellschaften. Auf dieser Route, so lernten wir in Reiseblogs, lohnt es sich, alles selbst zu organisieren und einzelne Tickets zu kaufen. Interrail ohne Interrail.
Unsere Reise im September 2019 führte uns im Nachtzug von München nach Zagreb. Nach einem Tag Pause mit Übernachtung tagsüber weiter nach Belgrad. Bis heute trennen die einst verfeindeten Länder Kroatien und Serbien ihren Fuhrpark säuberlich. Für uns hieß das, an der Grenze auszusteigen, um zuzusehen, wie unsere Lok mit einigen Waggons davonfuhr. Auf dem nächsten Teil der Strecke zog eine neue Zugmaschine nur noch einen einzigen Waggon, was irgendwie ausreichte.
In Belgrad nahmen wir den Zug nach Bar, ein rollendes Museum. Erst rattert er hoch ins Gebirge, dann hinunter bis fast zum Adriastrand unter Palmen. Eine Woche entdeckten wir Montenegro wandernd und mit dem Mietwagen, bevor es über Nacht wieder zurückging, diesmal mit Stopps in Ljubljana und Wien. Dafür nutzten wir Verbindungen mit umklappbaren Sitzen im Abteil. Was so lange Spaß machte, bis wir neben slowenischen Punkern einschliefen und ohne Tablet wieder aufwachten.
Finanziell war unser selbst organisiertes Interrail nicht nur günstiger als das Original, sondern auch flexibler. Dort, wo es keine Tickets online zu kaufen gibt, bestehen schließlich auch wenig Möglichkeiten, dass etwas schon Wochen im Voraus ausgebucht ist.
Jan Petter, Redakteur im Ressort Ausland
Freier leben, freier lieben

Sommer in Florenz 1979: »Praktisch jede Art von Besitzanspruch in Liebesfragen galt uns als falsch und rückständig«
Foto: privatMeine Interrail-Jahre sind erfüllt vom beißenden, süßen Schmerz der Eifersucht. Es ist Sommer 1979, mitten in der Nacht auf einem Bahnhof kurz hinter dem Brenner, der Nachtzug von München nach Bologna ist ruckelnd zum Stehen gekommen. Es stinkt nach Zigaretten und warmem Bier im Abteil, als ich mit schmerzendem Genick aufwache. Eine ältere Frau und drei Männer in mittleren Jahren sitzen mit mir im Abteil. Doch der Platz zu meiner Linken, auf dem vor einer halben Stunde noch meine Freundin saß, ist leer.
Noch wacklig vom Schlaf stehe ich auf, öffne die Abteiltür und steige über auf dem Boden kauernde Menschen. Die meisten sind junge Soldaten in Uniform. Als ich am Ende des Wagens ankomme, versperrt ein verliebtes Paar den Durchgang. Auf dem Boden vor der Toilette sitzen sich die beiden gegenüber, mit lustig ineinander verschränkten Beinen. Sie küssen sich begeistert. Der Mann ist ein italienischer Soldat. Die Frau, die er küsst, ist meine Freundin. Ich spreche meine Freundin an. Sie steht auf. Ihr Gesicht ist rot. Sie lacht. Dann spaziert sie, ohne den Soldaten und mich noch mal anzusehen, sehr lässig zurück in unser Abteil.
Wir sind auf dieser Interrail-Reise damals drei Wochen lang weiter gemeinsam unterwegs gewesen. Wir mochten uns. Über das, was in der Nacht im Zug passiert war, haben wir wenig gesprochen. Wir beide waren 17 Jahre alt und fanden, dass es nichts zu besprechen gab. Die Idee des freien Umherreisens in weiten Teilen Europas kam in einer Zeit zustande, in der jüngere Menschen sich auch in Liebesdingen eine Menge auf ihr ständiges Unterwegssein einbildeten. Zumindest taten wir es.
Damals, in den Siebzigerjahren, lasen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in der süddeutschen Kleinstadtwelt, in der ich aufwuchs, Bücher wie Erich Fromms »Haben oder Sein«. Sie hörten Songs wie »Love The One You're With«. Und fanden es spießig und uncool, sich für mehr als den Augenblick ihre Zuneigung zu gestehen. Praktisch jede Art von Besitzanspruch in Liebesfragen galt uns als falsch und rückständig. Theoretisch leuchtete mir das wirklich ein. In der Praxis spürte ich Spießerschmerzen.
Wolfgang Höbel, Kulturredakteur