Italien Vollgas ins Land der Sehnsucht
Wir waren unschuldig. Wie Amöben dem Lauf des Baches folgen und Gänseblümchen dem der Sonne, folgten wir dem Ruf nach Süden. Wir wussten nicht genau, was uns erwartet, nur dass es schön sein sollte, dass die schlechten Jahre vorbei waren und jetzt etwas Besseres kommt.
Wir folgten dem Ruf von Caterina Valente: "Komm ein bisschen mit nach Italien, Komm ein bisschen mit ans blaue Meer. Und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär."
Wir hatten im Kino gesehen, wie lustig es am Lago Maggiore zugehen kann, wenn Conny Froboess und Peter Kraus für Stimmung sorgen, und wie glücklich die Sache ausgeht, wenn Paul Hubschmid und Romy Schneider sich auf Ischia verlieben. Und ein bisschen Dolce Vita hatten wir uns nun wirklich verdient nach Krieg und Wiederaufbau. Blind vom Staub der Trümmer hatten wir alles vergessen.
Wir hatten vergessen, dass wir auf den Spuren jener Goten kamen, die den letzten römischen Kaiser abgesetzt hatten, auf den Spuren der mittelalterlichen Pilgerfahrer, die um des Ablasses Willen die sieben Kirchen Roms aufsuchen mussten, auf den Spuren der Romantiker, deren Blau nördlich der Alpen als Blume, südlich als Grotte erschien. Und auf der blutigen Spur jener deutschen Truppen, die den italienischen Faschisten ein paar Jahre zuvor gezeigt hatten, wie man mit unbotmäßiger Bevölkerung umgeht.
So kamen wir über die Alpen, erschöpft wie von einer langen Infektion und mit einer tiefen Sehnsucht nach einem unbelasteten Leben. Einige von uns nahmen den Zug, aber das war ein Fahrzeug für Pilger, von denen es auch nicht wenige gab. Die meisten kamen mit dem Käfer, dessen Luftkühlung nicht überkochen konnte. Wie geschaffen, die Alpen zu überqueren.
Zelten im Tomatenfeld
Schließlich konnten wir wieder Gas geben. 1957 verreisten schon 9,5 Millionen Deutsche in den Ferien, 1962 waren es 14 Millionen und fast sechs davon fuhren ins Ausland. Wir waren das reiselustigste Volk der Welt.
1957 war jeder vierte Tourist in Italien ein Deutscher. 3,5 Millionen von ihnen belebten italienische Camping- und Badeorte. Und das bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit in der Industrie von 48 Stunden. Da musste der Urlaub schon was bieten, schließlich hatten wir im Schnitt nur 16 Tage im Jahr, gesetzlichen Urlaub gab es erst ab 1963.
Wir kamen nicht mit leeren Händen ins Land unserer Sehnsucht: Wir brachten Zelte und Wohnwagen mit, zogen unsere Dirndl an, lehrten italienische Kellner, wie man ein Pils zapft und gaben Nachhilfe in der Straßenverkehrsordnung. Wir zelteten im Tomatenfeld, probierten in der Kirche Santa Maria della Consolazione unser neues Blitzlicht aus und gingen im Badeanzug einkaufen. Wir waren ganz wir selbst.
Die Zeitschrift Constanze riet 1960: "Sprechen Sie nicht über Politik Shorts und Bikinis, bayerische Trachtenjacken, schwäbische Dirndlkleider sind ungeeignet als Tageskleidung. Befehlen Sie nie!" Anlass für diesen Rat war unsere Gewohnheit, in Badebekleidung die politische Linie zu befehlen. Dass wir dabei nicht immer den richtigen Ton trafen, war uns nicht klar, denn schließlich mussten die Italiener doch merken, dass wir sie lieben.
Zwar wird immer wieder der Gastwirt vom Comer See zitiert, der sagte: "Ihr Deutschen liebt uns, aber ihr respektiert uns nicht. Wir lieben euch nicht, aber wir respektieren euch."
Aber das stimmt nicht. Selbstverständlich liebten uns die Italiener, mit der hilfsbereiten Liebe, die man hilflosen Kindern entgegenbringt: Sie gaben uns Löffel, damit wir darin die Nudeln aufrollten, ohne uns und die Einrichtung zu beschädigen. Und wir verstanden die mitleidige Tat nicht, wir bemerkten nicht, dass kein Italiener einen Löffel zum Spaghettiessen benutzt, nein, zurück in Wanne-Eickel beschwerten wir uns sogar bei "Da Antonio", wenn wir das Besteck nicht erhielten, er kenne wohl die italienischen Tischsitten nicht.
Dabei sagt doch der Baedeker von 1955 zum Thema Spaghetti: "Bitte, legen Sie das Messer weg! Wir wollen nicht auffallen."
Schlager über eine unerreichbare Welt
Aber wer konnte sich schon einen Baedeker leisten, wenn der VW zehn Liter Benzin verbrauchte? Wir mussten auf den Pfennig achten, den wir für venezianische Plastikgondeln, bunt bemalte Eselskarren und mit Bast umwickelte Chiantiflaschen ausgaben, die wir daheim als Kerzenständer nutzten, wenn wir im Partykeller Vico Torriani auflegten.
Schlager griffen am genauesten auf, was uns trieb. Die Caprifischer, die Gerhard Winkler 1943 komponiert hatte, waren von den Nazis verboten worden, als Italien mit den Alliierten Frieden schloss. 1946 legte sie Rudi Schuricke neu auf und schon war vergessen, dass wir eben noch Waffenbrüder waren. Schlager und Kinofilme erzählen uns von einer Welt, die, unerreichbar zwar, aber doch sicher irgendwo im Süden wartete. Nicht nur die von Sonne, Strand und Vino, sondern auch die von Gina Lollobrigida und Vittorio de Sica.
Wir wollten auch zu diesen Menschen, die wir immer so optimistisch sahen; sie erschienen uns schöner und begehrenswerter als alles, was wir zu Hause hatten, nur im Grunde begegneten sie uns nie. Wir suchten die Plätze und Cafés auf, die Strände und Uferpromenaden, aber die meisten von uns guckten immer nur von Ferne auf ein Panorama schöner Menschen. Wenn wir zurückfuhren, hatten wir selten Freunde gefunden, und wenn, dann waren sie auch aus Deutschland.
Dabei hätten wir gar nicht wegfahren müssen, um sie zu treffen. In den Jahren, in denen wir Brenner und St. Gotthard stürmten, kamen sie zu uns. Dass die von uns umschwärmten Italiener zu Millionen nach Deutschland zogen, um Arbeit zu finden, hat wieder einmal ein Schlager thematisiert. Conny Froboess sang: "Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein. Doch zwei kleine Italiener möchten gern zu Hause sein."
Der ewige Ruf nach Süden
Wir aber wollten das Anderswo. Wir kamen als Pioniere und standen doch in einer langen Reihe. Aber was vor uns war, hatten wir vergessen, und was nach uns kommen sollte, konnten wir nicht ahnen: die Rucksacktouristen der Siebziger; in den Achtzigern die schwäbischen Ökobauern und westfälischen Parteifunktionäre; in den Neunzigern Münchner Börsenspekulanten und Berliner Dotcom-Unternehmer, die ihr Geld in Weingütern anlegten. Und die einzigen, die es immer gab und geben wird: die Pilger.
Uns aber gibt es kaum noch. Wir fahren nicht mehr Auto, sondern fliegen; wir zelten nicht, wir nehmen Ferienwohnungen. Wir haben ein bisschen Italienisch gelernt und gehen im Anzug in die Kirche. Aber noch immer folgen wir dem Ruf nach Süden, noch immer wissen wir nicht genau, was uns erwartet. Nur dass es schön sein soll.